Arbeitspolitik (1960)
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[S. 31]Die A. geht von der Vorstellung aus, daß durch die Überführung der Produktionsmittel in Volkseigentum die natürlichen Gegensätze zwischen Kapital und Arbeit aufgehoben seien und die Interessen des Staates, der als Eigentümer der Produktionsmittel gleichzeitig Arbeitgeber ist, mit denen der Arbeitnehmer identisch seien. In Wahrheit werden die Interessen der Arbeitnehmer bedingungslos den Interessen des staatlichen Arbeitgebers untergeordnet. Die A. ist zur Funktion der Wirtschaftspolitik geworden. (Wirtschaftssystem) Ihr Hauptziel ist wirtschaftlicher Natur. Die Produktion soll mit allen Mitteln erhöht werden. Der Fürsorgegedanke, im Pj. „die Sorge um den Menschen“, ist zwar nicht ganz ausgeschaltet, und je nach der politischen Situation und vor allem je nach der Stimmung der Arbeiterschaft wird er mehr oder weniger betont, aber die Fürsorge wird nicht wegen des Eigenwertes des Menschen betrieben, sondern nur wegen seines Wertes als Produktionsfaktor. So wird der arbeitende Mensch auch dort, wo ihm Fürsorge zuteil wird, stets nur als Objekt der A. behandelt.
Um dieses Ziel zu erreichen, sind die arbeitenden Menschen ihrer Interessenvertretung beraubt worden. Die Betriebsräte wurden im Jahre 1946 abgeschafft und an ihre Stelle die Betriebsgewerkschaftsleitungen (BGL), also die unteren Organe des FDGB, gesetzt. Da die BGL an die Weisungen der oberen Organe des FDGB gebunden sind und diese sich satzungsgemäß und wegen ihrer personellen Zusammensetzung in völliger Abhängigkeit zur SED befinden, sind sie keine Interessenvertretung, sondern dienen der Transmission des Willens der Staatspartei auf die arbeitenden Menschen. Damit hat der staatliche Arbeitgeber nicht nur freie Hand bei der Verfolgung seiner A., sondern findet sogar noch Unterstützung bei der angeblichen Interessenvertretung. Das Streikrecht wird verweigert. (Streik)
Dementsprechend besteht ein Mitbestimmungsrecht der Arbeitnehmer bei der Führung der Wirtschaft nicht. Nach § 4 des Gesetzes der ➝Arbeit soll sie durch die „demokratischen staatlichen Organe“ verwirklicht werden, also praktisch durch den Arbeitgeber selbst. In einem System ohne echte Interessenvertretung der Arbeitnehmer hat ein autonomes kollektives Arbeitsrecht keinen Platz. Das nach 1945 auch in der SBZ aufgebaute Tarifvertragssystem hat für den Bereich der volkseigenen Wirtschaft nahezu aufgehört zu bestehen. An seine Stelle sind Gesetze und Verordnungen getreten. Gesetzlich geregelt sind: das Urlaubsrecht (Urlaub), das Kündigungsrecht, also nicht nur der Kündigungsschutz, die arbeitsrechtlichen Mantelbestimmungen, für die volkseigene Industrie ferner die Lohnsätze sowie die Bestimmungen zur Festsetzung der technisch begründeten Arbeitsnormen (TAN). In manchen Zweigen der volkseigenen Wirtschaft (z. B. im Handel) sowie in der Verwaltung bestehen Tarifabkommen, die zwischen dem FDGB und den staatlichen Verwaltungen abgeschlossen sind. In den volkseigenen Betrieben werden alljährlich Betriebskollektivverträge (BKV) abgeschlossen. Sie haben keine arbeitsrechtliche Bedeutung, sondern enthalten vor allem Verpflichtungen von Werkleitung und BGL zur Erhöhung der Produktion. Sie werden für ein wichtiges Mittel der A. gehalten. Indessen haben sie wegen der Interesselosigkeit der Arbeiter nicht den von den Funktionären gewünschten Erfolg.
Der Erhöhung der Produktion dienen: a) die Vermehrung der Zahl der Arbeitskräfte, b) ihr zweckmäßiger Einsatz und c) vor allem die Erhöhung der Arbeitsproduktivität.
[S. 32]a) Zur Vermehrung der Arbeitskräfte sollen alle Arbeitskraftreserven erschlossen werden. Zu ihnen zählen vor allem die Frauen, weshalb die Zahl der arbeitenden Frauen ungewöhnlich hoch ist (Frauenarbeit). Die Leistungen aus der Sozialversicherung (Sozialversicherungs- und Versorgungswesen, Renten) und die Sozialfürsorge sind so geregelt, daß nur erwerbsunfähige Witwen und Invaliden Renten erhalten, damit alle anderen gezwungen sind, Arbeit aufzunehmen. Arbeitslose erhalten entweder gar keine oder nur sehr ungenügende Unterstützung (Arbeitslosenversicherung). Indessen sind die Reserven an Arbeitskräften jetzt wegen des Heranwachsens der geburtenschwachen Jahrgänge und der Überalterung der Bevölkerung sowie der andauernden Fluchtbewegung in die Bundesrepublik erschöpft, so daß mit einer Vermehrung nicht mehr zu rechnen ist.
b) Um so größere Bedeutung bekommt die planmäßige Lenkung der Arbeitskräfte (Arbeitskräftelenkung). Vor allem der Lenkung des Berufsnachwuchses wird große Bedeutung zugemessen (Berufslenkung). Die kurzen Kündigungsfristen (nur 14 Tage) dienen dem Ziele, kurzfristig Entlassene an andere Arbeitsplätze vermitteln zu können. Indessen fehlt für eine wirklich straffe Arbeitskräftelenkung zur Zeit die gesetzliche Grundlage, die zu schaffen deswegen erwogen wird. (Arbeitskräfteproblem)
c) Die Erhöhung der Arbeitsproduktivität wird als das beste Mittel zur Erhöhung der Produktion angesehen, weil sie diese ohne Vermehrung der Arbeitskräfte ermöglicht und gleichzeitig die Gestehungskosten sich nicht erhöhen, sondern sogar vermindert werden. Der Erhöhung der Arbeitsproduktivität gelten daher alle Anstrengungen der A. Ihr hat vor allem das Lohnsystem zu dienen. Unter Ausnutzung des Strebens von Menschen, möglichst viel zu verdienen (materielle Interessiertheit), wird der Lohn von der Leistung abhängig gemacht (Leistungslohn, Stücklohn, Prämienzeitlohn, Prämienstücklohn, Objektlohn). Die Löhne werden ergänzt durch Prämien für die Erfüllung und Übererfüllung der Pläne und besondere Leistungen (Prämienwesen). Bei Bezahlung im Stücklohn soll die Erhöhung der Arbeitsnormen zu größeren Leistungen zwingen, da nach Erhöhung der Arbeitsnormen nur die Wahl zwischen geringerem Lohn oder Mehrleistung bleibt. Aufgabe von Aktivisten und Neuerern ist es, die Normen in die Höhe zu treiben. Ihre Leistungen werden für die anderen Arbeitnehmer als vorbildlich hingestellt. Eine große, erst in den letzten Jahren etwas verkleinerte Differenzierung der Löhne, sowohl zwischen den einzelnen Wirtschaftszweigen als auch innerhalb der Wirtschaftszweige zwischen den einzelnen Lohngruppen (Wirtschaftszweiglohngruppenkatalog, Lohngruppe), soll ebenfalls einen Anreiz zu höheren und besseren Leistungen geben. Sie führt zur Favorisierung einzelner Gruppen. Bessere und höhere Leistungen sollen auch durch die Qualifizierung der Arbeitskräfte erreicht werden. Auch die menschliche Eitelkeit wird in den Dienst der A. gestellt. Durch Auszeichnungen werden diejenigen belohnt, die sich durch besondere Leistungen hervorgetan haben. Mit dem sozialistischen ➝Wettbewerb wird die Neigung von Menschen, ihre Kräfte und ihr Können zu messen, in den Dienst der A. gestellt. Eine scharfe Arbeitsdisziplin soll dafür sorgen, daß die Ziele der A. erreicht werden. Die wichtigste Aufgabe von Meistern und Brigadieren ist, ihre Kollegen zu hohen Leistungen anzutreiben. Durch die Produktionspropaganda sollen die Arbeiter beeinflußt werden, ihre Arbeitskraft restlos in den Dienst des Regimes zu stellen. Die Erhöhung der Arbeitsproduktivität bedeutet in der Regel eine Erhöhung der Arbeits[S. 33]intensität, besonders, weil die Möglichkeiten, moderne Ausrüstungen und eine bessere Betriebsorganisation zu schaffen, im allgemeinen nur gering sind und im Kampfe gegen Stillstands- und Wartezeiten (Seifert-Methode) stets die Gefahr besteht, daß auch arbeitsphysiologisch notwendige Ruhepausen beseitigt werden. Die A. geht darauf aus, die körperlichen und geistigen Kräfte der schaffenden Menschen immer mehr zu beanspruchen. Die Arbeitszeitverkürzung um 3 Stunden in der Woche (Arbeitszeit) ist nur eine ungenügende Kompensation.
Die Löhne zeigen im Durchschnitt einen Trend nach oben. Das Verhältnis zwischen dem Ansteigen der Arbeitsproduktivität und dem Anwachsen der Löhne ist nach offiziellen sowjetzonalen Angaben seit 1953 insofern ungünstig geworden, als die Löhne oft schneller anwachsen als die Arbeitsproduktivität. Wiederholte Versuche, das Verhältnis umzukehren, waren nur wenig erfolgreich, weil die Arbeiter der Erhöhung der Arbeitsnormen erheblichen Widerstand entgegensetzten und die Fuktionäre dem desto mehr Rechnung trugen, je näher sie dem Betrieb standen. Anwachsen der Arbeitsproduktivität und Steigen der Durchschnittslöhne halten sich zur Zeit etwa die Waage. So verlangt die A. erhebliche Opfer von den Arbeitern, ohne daß dadurch die permanenten Schwierigkeiten der sowjetzonalen Wirtschaft behoben werden können.
Literaturangaben
- Haas, Gerhard: Der FDGB 1954. (BMG) 1954. 48 S. m. 1 Plan.
- Haas, Gerhard, und Alfred Leutwein: Die rechtliche und soziale Lage der Arbeitnehmer in der sowjetischen Besatzungszone. 5., erw. Aufl. (BB) 1959. Teil I (Text) 264 S., Teil II (Anlagen) 162 S.
- Leutwein, Alfred: Der Betriebskollektivvertrag in der sowjetischen Besatzungszone. 3., erw. Aufl. (BB) 1957. 112 S. m. 4 Anl.
- Leutwein, Alfred: Die sozialen Leistungen in der sowjetischen Besatzungszone und in Ost-Berlin. 5., erw. Aufl. (BB) 1959, Teil I (Text) 171 S., Teil II (Anlagen) 191 S.
- Schwartz, Salomon M.: Arbeiterklasse und Arbeitspolitik in der Sowjetunion. Hamburg 1953, Verlag für Wirtschaft und Sozialpolitik. 367 S.
- Leutwein, Alfred: Die technische Intelligenz in der sowjetischen Besatzungszone. (BB) 1953. 56 S. m. 6 Anlagen.
- *: Die Ausbeutung der menschlichen Arbeitskraft in der Sowjetzone. Materielle, ideologische und disziplinarische Mittel zur Steigerung der Arbeitsproduktivität und ihre sowjetischen Vorbilder. 2., überarb. Aufl. (BB) 1953. 106 S. mit 6 Anlagen.
Fundstelle: SBZ von A bis Z. Sechste, überarbeitete und erweiterte Auflage, Bonn 1960: S. 31–33
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