DDR von A-Z, Band 1960

Erziehungswesen (1960)

 

 

Siehe auch:

 

[S. 109]Die marxistisch-leninistische Pädagogik unterscheidet drei Institutionen der „Erziehung“ der heranwachsenden Jugend: Familie, Schule und Jugendorganisation. Die Schule — insbesondere die „allgemeinbildende“ im Unterschied zur „berufsbildenden“ — gilt jedoch als die „Hauptkraft“ der Erziehung. Die FDJ, die Jungen Pioniere und die Familie sind verpflichtet, ihr „Hilfe“ zu leisten. Der Einfluß der Familie ist — soweit er sich nicht gleichschalten ließ — trotz gegenteiliger Beteuerungen ständig zurückgedrängt worden.

 

Die wesentlichsten Merkmale des Schulwesens sollen nach der offiziellen Doktrin in dem Klassencharakter der Schule und in ihrer Unterstellung unter die staatliche Leitung gegeben sein. Geleitet und verwaltet vom Staat, dient die sowjetzonale Schule — so heißt es — den Interessen der Arbeiterklasse, die im Bündnis mit der werktätigen Bauernschaft und der Intelligenz die Herrschaft ausübt und seit 1952 den „Sozialismus aufbaut“. Zielsetzung, organisatorischer Aufbau und pädagogischer Inhalt des Erziehungswesens sind seit 1945 den politischen und gesellschaftlichen Veränderungen angepaßt worden. Die kommun. Führung operierte 1945 mit der Parole „der allseitigen Demokratisierung des gesamten Schulwesens“. Sie gab vor, eine „demokratische Schulreform“ durchführen zu wollen, die die schulpolitischen Kampfziele der deutschen Arbeiterbewegung und der „fortschrittlichsten Pädagogen des Bürgertums“ verwirkliche. Mit dieser Begründung wurde die relative Autonomie des E. radikal beseitigt und das Schulwesen in ein Instrument der kommun. Führung verwandelt, das sie bewußt als Mittel der „revolutionären Umgestaltung“ der Gesellschaft handhabte und handhabt. Sie orientiert sich dabei am sowjetischen Schulwesen und an der Sowjetpädagogik.

 

Im Zusammenhang mit dem projektierten „Aufbau des Sozialismus“ ist in den letzten Jahren, vor allem auf dem V. Parteitag der SED, der „Beginn einer neuen Etappe“ proklamiert und konstatiert worden: der Übergang von der „antifaschistisch-demokratischen“ zur „sozialistischen Schule“. Sie hat die Aufgabe erhalten, das Schulwesen und damit auch das E. so auszubauen, daß es „den vielfältigen Anforderungen in der sozialistischen Gesellschaft“ gerecht wird.

 

Die „demokratische Schulreform“ begann mit der Zerschlagung der überlieferten Schulorganisation und mit deren Neugestaltung durch das „Gesetz zur Demokratisierung der deutschen Schule“ (Sommer 1946). Es schuf die Einheitsschule. Sie beseitigte den Parallelismus von Volksschule und höherer Schule und führte die radikale Trennung von Kirche und Schule durch, die später auch in der Verfassung der „DDR“ verankert wurde. Die Schaffung der einheitlichen „deutschen demokratischen Schule“ wird heute noch als Liquidierung des Bildungsprivilegs der alten besitzenden Klassen gefeiert.

 

Mit der traditionellen Schule wurden auch die Bedingungen der funktionalen Erziehung im Rahmen einer pluralistischen Gesellschaft zerstört.

 

Der 1946 geschaffene Schulaufbau ist in der „neuen Etappe“ durch das „Gesetz über die sozialistische Entwicklung des Schulwesens in der DDR“ (Dezember 1959) verändert worden. An die Stelle der achtstufigen Grundschule tritt bis zum Jahre 1964 die „zehnklassige allgemeinbildende Schule“ als Pflichtschule (Hochschule). Sie erhält zusammen mit den sonstigen Formen des Schulwesens, der erweiterten Oberschule, den Berufs- und Fachschulen, den Hoch[S. 110]schulen, aber auch mit den Sonderschulen die Aufgabe, die Schule aufs engste mit dem gesellschaftlichen Leben, vor allem mit der „gesellschaftlichen“ Produktion zu verbinden und damit die immer noch bestehende Kluft zwischen der „geistigen und körperlichen Arbeit“ und zwischen der Theorie und Praxis zu uberwinden. Wenn auch die Erreichung einer hohen Arbeitsproduktivität als eines der Motive der Reform erscheint, operiert die SED-Führung gleichzeitig auch mit weniger pragmatischen Begründungen. Sie beruft sich auf den „humanistischen Grundsatz“ des Rechts auf eine höhere Bildung für alle und setzt das Ziel, dem einzelnen durch ein höheres Bildungsniveau die bessere Teilnahme an der Gestaltung des gesellschaftlichen Lebens zu ermöglichen. Diese Erziehung zu einer manipulierten Identifizierung mit der bestehenden Machtordnung und zur Verinnerlichung der geforderten Arbeitstugenden durchdringt die gesamte pädagogische Ziellehre: die allgemeine Zielsetzung, die Ziele für die einzelnen Arten der Erziehung und Bildung, also für die intellektuelle, polytechnische, sittliche, ästhetische und körperliche Erziehung und Bildung. Insgesamt soll die Schule „Persönlichkeiten“ heranbilden, die befähigt sind, auf „sozialistische Art“ zu arbeiten, zu lernen und zu leben, und somit auch bereit sind, ihre individuellen Interessen den ausschließlich von der politischen Führung kontrollierten gesellschaftlichen Interessen — in bewußter Orientierung am Marxismus-Leninismus — zu unterwerfen. Oder: die Schule hat im Rahmen der anderen Institutionen des E. die Aufgabe, „Kinder und Jugendliche auf das Leben in der sozialistischen Gesellschaft“ „vorzubereiten“.

 

Der Realisierung der politischen und pädagogischen Zielsetzung dient ein E., das dem Modell der kommun. Ordnung angepaßt ist. 1. Das E. ist total politisiert. Das Prinzip der Einheit von Erziehung und Politik zwingt alle Institutionen und Pädagogen zu strenger „Parteilichkeit“. 2. Die Arbeit der Schulen und Jugendverbände wird durch ein System von Plänen dirigiert und damit dem planrationellen Charakter der kommun. Ordnung angepaßt. Lernen ist Training in der Sollerfüllung. 3. Erziehung und Unterricht zielen auf die Erzeugung von Handlungsbereitschaften, die den Anforderungen einer industriellen Gesellschaft und der kommun. Herrschaftsordnung entsprechen. 4. Der Lehrstoff der Schulen und Hochschulen entspricht der marxistisch-leninistischen Einheitswissenschaft. 5. Das E. richtet sich nicht auf den Einzelnen als Einzelnen, sondern als Mitglied einer Gruppe. 6. Das kommun. E. arbeitet trotzdem mit der Methode des Wettbewerbs. Gute Leistungen werden mit erhöhtem Prestige (z. B. Diplome, Medaillen) und materiellen Vorteilen (Stipendien, Karriere) belohnt. 7. Die Erfüllung der behördlichen Anordnungen wird durch ein doppeltes Kontrollsystem gesichert. Neben staatlichen Kontrollinstanzen stehen SED-Organisationen in Schulen, Hochschulen, Instituten und Behörden. Sie werden auf dem Sektor des Erziehungswesens von der Lehrergewerkschaft und der FDJ unterstützt. 8. Das E. ist, kontrolliert von der SED, die zentrale Dirigierungsstelle, die zunehmend über die spätere Position und damit über den zukünftigen Rang und die Möglichkeiten der Teilnahme am Konsum entscheidet.

 

Der Unterschied zwischen der „sozialistischen“ Schule und der Schule der Stalinära besteht nicht nur in der Einführung der polytechnischen Erziehung und Bildung und der Verbindung der Schule mit industriellen und landwirtschaftlichen Betrieben, sondern auch in der Distan[S. 111]zierung von der alten Lernschule. Die sowjetzonale Pädagogik ist heute im Einklang mit der sowjetischen bemüht, effektivere — „aktive“ — Methoden der Mobilisierung der Schüler im Rahmen ihrer strengen Bindung einzuführen. Das neue Schulgesetz verpflichtet die Lehrer auf die Berücksichtigung der „Aktivität und Selbständigkeit“ der Schüler. Der Intensivierung der Erziehung dient auch die vorangetriebene Entwicklung von Ganztagsschulen durch Ausbau der Schulhorte.

 

Die Schule ist nur das Zentrum eines Systems paralleler pädagogischer Einwirkungen auf Kinder und Jugendliche. Zu ihm gehören neben den Jugendorganisationen der außerschulische Unterricht, die Verbindung von Schule und Betrieb, die Ferienlager und -aktionen und die staatlich dirigierte Jugendliteratur. Auch die Gesellschaft für ➝Sport und Technik gehört teilweise in diesen Zusammenhang.

 

Die behördlich gelenkten außerschulischen Arbeitsgemeinschaften haben die Aufgabe, Fähigkeiten, Talente und Interessen, die für die „sozialistische Gesellschaft“ wichtig sind, zu fördern. Zur Unterstützung dieser Arbeitsgemeinschaften sind Stationen für junge Techniker, Naturforscher und Touristen geschaffen worden. Im Zuge der Polytechnisierung wird eine Beschäftigung der Arbeitsgemeinschaften mit Maschinenbau, Landmaschinen-, Kraftfahrzeug-, Elektro-, Radio- und Fernmeldetechnik, Flugzeug- und Schiffsmodellbau, Tierhaltung und dergleichen angestrebt. Den Pioniergruppen sollen dagegen Basteln, Fotografieren, Touristik und Heimatkunde vorbehalten bleiben.

 

Die neuen Anforderungen, die die beruflichen Rollen, aber auch die politischen in einem komm. totalitären Staat stellen, haben die SBZ zur Entwicklung einer besonders strukturierten Erwachsenenbildung genötigt.

 

Es ist nicht zu bestreiten, daß die SBZ relativ hohe Mittel für die öffentliche Erziehung aufwendet. Das ist die Konsequenz der „gesellschaftlichen Umwälzung“; sie nötigt die komm. Führung, die Erziehung als ein Mittel zur Erhaltung und Befestigung der totalitären Machtordnung und der Entwicklung der planrationalen Wirtschaft und Gesellschaft einzusetzen und die Traditionen des E. zu liquidieren bzw. zu manipulieren. (Berufsschulen, Fachschulen, Erziehungswissenschaft)

 

Literaturangaben

  • Froese, Leonhard: Die ideengeschichtlichen Triebkräfte in der russischen und sowjetischen Pädagogik. Heidelberg 1956, Quelle und Meyer. 198 S.
  • Baumgart, Fritz: Das Hochschulsystem der sowjetischen Besatzungszone. (BMG) 1953. 31 S.
  • Lange, Max Gustav: Wissenschaft im totalitären Staat. Die Wissenschaft der sowjetischen Besatzungszone auf dem Weg zum „Stalinismus“, m. Vorw. v. Otto Stammer (Schr. d. Inst. f. pol. Wissenschaft, Berlin, Bd. 5). Stuttgart 1955, Ring-Verlag. 295 S.
  • Dübel, Siegfried: Die Situation der Jugend im kommunistischen Herrschaftssystem der sowjetischen Besatzungszone Deutschlands. 2., erw. Aufl. (BB) 1960. 115 S.
  • Jeremias, U.: Die Jugendweihe in der Sowjetzone. 2., erg. Aufl. (BMG) 1958. 120 S.
  • Lange, Max Gustav: Totalitäre Erziehung — Das Erziehungssystem der Sowjetzone Deutschlands. Mit einer Einl. v. A. R. L. Gurland (Schr. d. Inst. f. pol. Wissenschaft, Berlin, Bd. 3). Frankfurt a. M. 1954, Verlag Frankfurter Hefte. 432 S.
  • Mieskes, Hans: Pädagogik des Fortschritts? — Das System der sowjetzonalen Pädagogik. München 1960, Juventa-Verlag. 312 S.
  • Möbus, Gerhard: Klassenkampf im Kindergarten — Das Kindesalter in der Sicht der kommunistischen Pädagogik. Berlin 1956, Morus-Verlag. 110 S.
  • Möbus, Gerhard: Erziehung zum Haß — Schule und Unterricht im sowjetisch besetzten Deutschland. Berlin 1956, Morus-Verlag. 111 S.
  • Möbus, Gerhard: Kommunistische Jugendarbeit — zur Psychologie und Pädagogik der kommunistischen Erziehung im sowjetisch besetzten Deutschland. Berlin 1957, Morus-Verlag. 124 S.
  • Möbus, Gerhard: Psychagogie und Pädagogik des Kommunismus. Köln 1959, Westdeutscher Verlag. 184 S.
  • Säuberlich, Erwin: Vom Humanismus zum demokratischen Patriotismus. — Schule und Jugenderziehung in der sowjetischen Besatzungszone (Rote Weißbücher 13). Köln 1954, Kiepenheuer und Witsch. 170 S.

 

Fundstelle: SBZ von A bis Z. Sechste, überarbeitete und erweiterte Auflage, Bonn 1960: S. 109–111


 

Information

Dieser Lexikoneintrag stammt aus einer Serie von Handbüchern, die zwischen 1953 und 1985 in Westdeutschland vom Bundesministerium für gesamtdeutsche Fragen (ab 1969 Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen) herausgegeben worden sind.

Der Lexikoneintrag spiegelt den westdeutschen Forschungsstand zum Thema sowie die offiziöse bundesdeutsche Sicht auf das Thema im Erscheinungszeitraum wider.

Ausführliche Informationen zu den Handbüchern finden Sie hier.