DDR von A-Z, Band 1960

Marxismus-Leninismus (1960)

 

 

Siehe auch:

 

[S. 254]

 

1. Theorie und Praxis. Parteimäßigkeit der Theorie

 

 

Die europäischen Philosophen suchen seit den Griechen die Wahrheit zu erkennen. Dagegen sagt Marx: „Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert; es kommt aber darauf an, sie zu verändern.“ Marx und Engels haben ihre Analyse des Kapitalismus zugleich mit der Zielsetzung unternommen, die Aufstellung sozialer Gesetzmäßigkeiten dem revolutionären Handeln dienstbar zu machen. Auf dieser Linie hat sich der Marxismus zum Leninismus und Stalinismus weiterentwickelt. Alle theoretischen Streitigkeiten der Bolschewisten werden stets in dem Sinne entschieden, daß die Theorie mit der jeweils gebotenen revolutionären Praxis in Übereinstimmung sein muß. Ebenso gilt aber auch das Gegenteil: Weil die Theorie revolutionär ist, kann die revolutionäre Praxis auf die Theorie begründet werden. „Ohne revolutionäre Theorie kann es keine revolutionäre Bewegung geben“ (Lenin). Die Theorie des Marxismus stützt sich auf die Hegelsche Dialektik. Hegel erklärte das Weltgeschehen als eine Entwicklung, die durch Widersprüche in den Dingen selbst vorwärtsgetrieben wird; der Gegensatz, das plötzliche Umschlagen, der „Sprung“ sei die Form der Weltentwicklung. In dieser Entwicklung und durch diese gelange der Geist zum Bewußtsein seiner selbst. Marx übernimmt von Hegel die dialektische Methode der Widersprüche und des revolutionären Sprunges, setzt aber an die Stelle des Geistes die Materie. Er erklärt die Bewegung der Dinge nicht „von oben“, vom Bewußtsein, sondern „von unten“, vom Materiellen her. Seine Theorie ist also zugleich dialektisch und materialistisch. Die „Erklärung von oben“, die rein geistige, an „objektiven“ Werten und Wahrheiten orientierte, auf Erkenntnis abgestellte traditionelle Philosophie und Wissenschaft wird dabei als den „parteilichen“ Standpunkt der Bourgeoisie vertretende und angeblich rechtfertigen wollende Pseudo- Wissenschaft (Objektivismus) abgelehnt. Nur die Marxisten hätten in ihrer Theorie die wahre „höchste“ Wissenschaft, zu der alle frühere Wissenschaft bestenfalls — nunmehr überholte — Vorstufe sei.

 

Zugrunde liegt dabei die These, daß die materialistische Lehre zugleich die den Interessen des Proletariats korrespondierende Philosophie sei, da diesem auf Grund der Gesetze der materiellen Entwicklung die Zukunft gehören müsse. So soll es sich aus den Interessen des Proletariats zwangsläufig ergeben, daß es, um möglichst schnell und effektiv an die Macht zu kommen, ausführlich den Materialismus studieren und sich nach den von ihm gewiesenen Regeln verhalten müsse. Daß sie sich nach diesen Lehren richtet, gibt der für ihre Auslegung allein zuständigen bolschewistischen Partei ihre in Anspruch genommene rationale Würde. Sie bestimmt mittels der Theorie die Linie und damit die Richtschnur für parteiliches Verhalten, womit zugleich alle abweichenden Meinungen (Abweichungen) politisch wie wissenschaftlich gebrandmarkt sind.

 

2. Bourgeoisie und Proletariat. Klassenkampf

 

 

Unter dem Kapitalismus versteht Marx die auf dem Privateigentum an Produktionsmitteln beruhende Wirtschaftsweise. Erst im Zeitalter der „großen Industrie“ (d. h. der Maschinenindustrie) habe der Kapitalismus seine moderne Form erreicht. Diese höchste Erscheinungsform des Kapitalismus sei zugleich seine letzte. Denn der Zustand der Gesellschaft sei unter dem Kapitalismus derartig unversöhnlich gegensätzlich (antagonistisch), daß er sich notwendig auflösen und in einen anderen Zustand übergehen müsse. Die Klasse derer, die keinen Anteil an den Produktionsmitteln besitzen und nur ihre Arbeitskraft zu Markte tragen, [S. 255]und die Klasse derer, die über alle Produktionsmittel einschließlich dieser Arbeitskraft verfügen, also einerseits Proletariat und andererseits Bourgeoisie, stehen sich, sagte Marx, in unversöhnlichem Kampf gegenüber. In der industriellen Gesellschaft gelange dieser Klassenkampf (Historischer Materialismus) auf seinen Höhepunkt.

 

An sich sei die Bourgeoisie positiv und notwendig, denn sie sei fortschrittlich (progressiv), ja revolutionär in der Geschichte der Menschheit gewesen: „Die Bourgeoisie hat in ihrer kaum hundertjährigen Klassenherrschaft massenhaftere und kolossalere Produktionskräfte geschaffen als alle vergangenen Generationen zusammen. Unterjochung der Naturkräfte, Maschinerie, Anwendung der Chemie auf Industrie und Ackerbau, Dampfschiffahrt, Eisenbahnen, elektrische Telegraphen, Urbarmachung ganzer Weltteile, Schiffbarmachung der Flüsse, ganze aus dem Boden hervorgestampfte Bevölkerungen — welches frühere Jahrhundert ahnte, daß solche Produktionskräfte im Schoße der gesellschaftlichen Arbeit schlummerten?“ (Kommunistisches Manifest).

 

Der Kapitalismus sei ein durchdachtes System der Ausbeutung des Menschen durch den Menschen. Indem sich aber der Kapitalismus entwickele, bringe er nicht nur Maschinen und Waren in immer größeren Mengen hervor, sondern er erzeuge auch das Heer der Proletarier, die er um ihren Lohn betrüge, indem er ihnen zugleich die letzte Reserve an Arbeitskraft auspresse. „Mit der Entwicklung der großen Industrie wird also unter den Füßen der Bourgeoisie die Grundlage selbst hinweggezogen, worauf sie produziert und die Produkte sich aneignet. Sie produziert vor allem ihren eigenen Totengräber. Ihr Untergang und der Sieg des Proletariats sind gleich unvermeidlich“ (Kommunistisches Manifest).

 

Zunächst sahen Marx und Engels nur den von Krisen geschüttelten Konkurrenz-Kapitalismus des 19. Jahrhunderts vor sich und warteten von Jahr zu Jahr auf die endgültige letzte „Handelskrise“, die das Proletariat in den Besitz der Produktionsmittel bringen sollte. Aus dem Schicksal der Kommune von Paris (d. h. der Herrschaft des sozialistischen Gemeinderats in Paris von März bis Mai 1871) und deren blutigem Ende zogen sie die Lehre, daß die Bourgeoisie nur durch Gewalt enteignet werden könne. „Die Arbeiterklasse kann nicht die fertige Staatsmaschinerie einfach in Besitz nehmen und diese für ihre eigenen Zwecke in Bewegung setzen“ (Adresse des Generalrats). Da der Staat nur eine Maschine zur Unterdrückung einer Klasse durch die andere sei, müsse zuvor die alte Staatsmaschine zerschlagen werden, wenn eine neue Gesellschaft entstehen soll. Im „Kapital“ hatte Marx geschrieben: „Die Gewalt ist der Geburtshelfer jeder alten Gesellschaft, die mit einer neuen schwanger geht. Sie selbst ist eine ökonomische Potenz“ (I. Bd., Volksausg., S. 680).

 

3. Materialistische Geschichtsauffassung

 

 

Die auf den Begriffen Kapitalismus, Bourgeoisie, Proletariat und Klassenkampf aufgebaute Theorie wurde von Marx und Engels den vorhandenen sozialistischen Theorien als „kommunistisch“ (Bolschewismus) entgegengesetzt. Sie nannten die älteren, aus einer unklaren Sehnsucht nach einer allgemeinen Umgestaltung der Gesellschaft hervorgegangenen Theorien, die nur unzulängliche ökonomische Vorschläge und moralische Forderungen brachten, utopistisch (Utopie). Die eigene Theorie dagegen, die auf eine ökonomische Analyse der kapitalistischen Gesellschaft gegründet war, nannten sie wissenschaftlich. Die Formel für ihre [S. 256]Zielsetzung haben Marx und Engels jedoch dem älteren Sozialismus entnommen: Jeder solle nach seinen Fähigkeiten produzieren und nach seinen Bedürfnissen genießen.

 

Die Wirkung der marxistischen Theorie beruht darauf, daß sie aus einer einheitlichen „materialistischen“ Geschichtsauffassung hervorgeht, die den Anschein erweckt, daß jedem politischen und geistigen Ereignis sein Platz in einem allumfassenden notwendigen Geschehen angewiesen werden könne. Rechtsverhältnisse und Staatsformen, Wissenschaft, Philosophie und Kunst, so wird von Marx gelehrt, seien nicht aus der „sogenannten allgemeinen Entwicklung des menschlichen Geistes“ zu begreifen, sondern wurzelten in den „materiellen Lebensverhältnissen“. Der Mensch müsse wohnen, sich ernähren und kleiden, bevor er denken könne. Die tägliche Produktion und Reproduktion seines materiellen Daseins, seiner Basis sei nicht ein nebensächliches Geschäft, sondern in der Tat die Grundlage seiner ganzen Existenz. Um diese Existenz materiell produzieren zu können, müsse sich aber der Mensch in Verhältnisse der Abhängigkeit begeben. „Die Gesamtheit dieser Produktionsverhältnisse bildet die ökonomische Struktur der Gesellschaft, die reale Basis, worauf sich ein juristischer und politischer Überbau erhebt und welcher bestimmte gesellschaftliche Bewußtseinsformen entsprechen. Die Produktionsweise des materiellen Lebens bedingt den sozialen, politischen und geistigen Lebensprozeß überhaupt. Es ist nicht das Bewußtsein der Menschen, das ihr Sein, sondern umgekehrt ihr gesellschaftliches Sein, das ihr Bewußtsein bestimmt“ (Einl. z. Kritik d. pol. Ökonomie).

 

Die Revolution, die zur klassenlosen Gesellschaft führen soll, könne weder durch den bloßen guten Willen der Proletarier herbeigeführt noch durch den bösen Willen der Bourgeoisie verhindert werden. In den Verhältnissen selber stecke die Dialektik, die den Untergang der alten Klasse und den Aufstieg des Proletariats herbeiführe. Nicht um die Verwirklichung von „Idealen“ oder von wirtschaftlichen „Programmen“ handele es sich, sondern um die Vollstreckung dessen, was in der antagonistischen Struktur der kapitalistischen Gesellschaft angelegt sei.

 

4. Staat und Revolution

 

 

Im Jahre 1864 haben Marx und Engels in London die „Internationale Arbeiterassoziation“ gegründet, die später den Namen der I. internationale erhielt. Die nach deren Auflösung gegründete II. Internationale suchte das revolutionäre Element aus dem Marxismus zu entfernen und aus der Lehre von Marx und Engels ein evolutionäres, rein „ökonomisches“ System zu machen. Ihre Politik bestand darin, die Lage der Arbeiter zu verbessern und sich für demokratische Regierungsformen einzusetzen. Die Formel für diesen Revisionismus (Abweichungen) gab der deutsche Sozialdemokrat Eduard Bernstein mit den Worten: „Der Weg ist alles, das Ziel ist nichts.“ In die Theorie strömten idealistische, vor allem Kantische, Elemente ein. Man zog es mehr und mehr vor, nicht mehr von der materialistischen, sondern von der ökonomischen Geschichtsauffassung zu reden.

 

Gegen diese staatspolitisch verantwortungsbewußten Bemühungen der II. Internationale kämpfte mit Erfolg Lenin, der spätere Begründer der III. Internationale (Kommunistische Internationale = Komintern). Seine für die Entwicklung des Marxismus entscheidende Abrechnung mit dem Revisionismus gab Lenin in seiner Abhandlung „Staat und Revolution“, die er unmittelbar vor der Oktoberrevolution im Jahre 1917 verfaßte. Darin wird unter einseitiger Auslegung von Marx und Engels gezeigt, daß der Prozeß, der zur klassenlosen Gesellschaft (Histo[S. 257]rischer Materialismus) führt, den revolutionären Terror als notwendiges Moment in sich einschließt. Die Lehre von der Dialektik, von dem in „Sprüngen“ sich vorwärts bewegenden geschichtlichen Prozeß, wird von Lenin wieder in den Mittelpunkt der revolutionären Theorie gerückt, nachdem sie vom Revisionismus als eine hegelianisierende Schwäche Marx' abgetan worden war. Alle opportunistischen oder demokratischen Auffassungen wurden von Lenin rücksichtslos ausgemerzt. Die Philosophie fand dabei besondere Berücksichtigung. Im Jahre 1908 befaßte sich Lenin in seinem Buch „Materialismus und Empiriokritizismus“ in aggressiver Weise mit den philosophischen Theorien russischer Marxisten, die sich dem westlichen Positivismus zuneigten. Nach Lenins Tode wurden Auszüge und Randglossen zu Hegels „Logik“ aus seinem Nachlaß veröffentlicht (Lenin, „Aus dem philosophischen Nachlaß“, 2. Aufl. Berlin 1949). In der materialistisch aufgefaßten Dialektik Hegels sah Lenin den Schlüssel zur Lösung aller wissenschaftlichen Probleme.

 

Die marxistische Lehre vom Staat, so behauptet Lenin, sei durch den Revisionismus entstellt worden. Erst nach der sozialistischen Revolution „stirbt der Staat ab“. Der bürgerliche Staat schläft nicht von selber ein, wie der Opportunismus der Sozialdemokraten gelehrt habe, er müsse von den Proletariern beseitigt werden. „Die Ablösung des bürgerlichen Staates durch den proletarischen ist ohne gewaltsame Revolution unmöglich“ (Lenin, Ausg. Werke, Moskau 1947, Bd. II, S. 173). Da jeder Staat nach der sozialistischen Auffassung, die von Marx und Engels geteilt wird, eine Diktatur ist, so bedeutet Diktatur des Proletariats nichts anderes als den Staat des Proletariats, der dazu bestimmt ist, den Staat der Bourgeoisie abzulösen. Der Ausdruck „Diktatur des Proletariats“ ist zuerst von Marx in seiner „Kritik des Gothaer Programms“ (1875) gebraucht worden. Aber schon im „18. Brumaire“ hat Marx den Gedanken von der notwendigen Zerstörung der alten Staatsmaschinerie angedeutet, was von Lenin als ein gewaltiger Schritt über das Kommunistische Manifest hinaus ausgelegt wird („Staat und Revolution“, Ausg. W. II, S. 177).

 

Der entscheidende Motor der revolutionären Umgestaltung ist für Lenin die straff organisierte, aus einer aktiven Minderheit (zunächst den sog. „Berufsrevolutionären“) bestehende proletarische Partei, die als „Avantgarde der Arbeiterklasse“ in diese erst das revolutionäre Bewußtsein hineinträgt, sie organisiert und über sie hinaus (Bündnispolitik) eine Fülle weiterer Gruppen dem revolutionären Anliegen dienstbar macht. Die Diktatur des Proletariats wird von Lenin lediglich als erste Phase der kommunistischen Gesellschaft aufgefaßt. In dieser Phase, „die gewöhnlich Sozialismus genannt wird“, bestehe zwar schon das Gemeineigentum in bezug auf die Produktionsmittel, das bürgerliche Recht sei aber noch nicht ganz abgeschafft. Kommunismus sei das nicht. „Solange es einen Staat gibt, gibt es keine Freiheit. Wenn es Freiheit geben wird, wird es keinen Staat geben“ („Staat und Revolution“, Ausg. W. II, S. 230 u. 231). Die klassenlose Gesellschaft ist die Gesellschaft der Freiheit. Wenn die Arbeiter selber die Großproduktion organisieren, dann entsteht — mit dem Absterben jedes Vorgesetztenwesens und Beamtentums — eine neue Ordnung, eine „Ordnung ohne Gänsefüßchen“, als deren Vorbild von Lenin nach dem Vorgang eines deutschen Sozialdemokraten die Postverwaltung angeführt wird („Staat u. Revolution“, Ausg. W. II, S. 195). Die Funktionen der Aufsichts- und Rechenschaftsablegung, meint Lenin, würden mit der Zeit von selbst fortfallen. „In unserem Streben zum Sozialismus sind wir überzeugt, daß er in den Kommunismus hinüberwachsen wird, und im Zusammenhang damit jede Notwendigkeit der [S. 258]Gewaltanwendung gegen Menschen überhaupt … verschwinden wird, denn die Menschen werden sich gewöhnen, die elementaren Regeln des gesellschaftlichen Zusammenlebens ohne Gewalt und ohne Unterordnung einzuhalten“ („Staat und Revolution“, Ausg. W. II, S. 220). Ist die erste Phase vorüber, dann soll die sozialistische Gesellschaft klassenlos und damit staatenlos werden. Es wird hier deutlich, daß die Utopie von einer staatsfreien Gesellschaft von Lenin ebenso festgehalten wird wie von Marx und Engels. Auch nach der Oktoberrevolution hat sich bei Lenin in dieser Hinsicht nichts geändert. Auch nachdem zwei Jahre des Aufbaus „auf sozialistischer Grundlage“ vorüber waren, sprach Lenin immer noch von der neuen Ordnung, in der alles auf Freiwilligkeit aufgebaut sein würde. Kommunistische Arbeit wurde von ihm als freiwillige Arbeit ohne Norm und ohne Entlohnung bezeichnet, als Arbeit, die aus Gewohnheit und aus der zur Gewohnheit gewordenen Erkenntnis ihrer Notwendigkeit für das Gesamtwohl geleistet würde (Ausg. W. II, S. 667). Zu gleicher Zeit begründete Lenin aber in seiner Schrift über den Linksradikalismus die Notwendigkeit einer „eisernen und kampfgestählten Partei“, weil er voraussah, daß die Klassen noch „jahrelang“ bestehenbleiben würden (Ausg. W. II, S. 691).

 

Als Stalin die Herrschaft antrat, war das Problem, das Lenin ungelöst liegenlassen mußte, in der Praxis dasselbe wie in der Theorie. Es war das Problem des Staates. Ein anderer Gedankengang konnte durch Stalin unverändert von Lenin übernommen werden. Marx und Engels hatten der unter ihren Augen sich vollziehenden Umbildung des Kapitalismus aus dem Konkurrenz-Kapitalismus in den Monopol-Kapitalismus (Imperialismus) nicht genügend Beachtung geschenkt. Lenin nahm die durch Kartelle, Syndikate und Trusts geschaffene neue Gestalt des Kapitalismus in die Theorie auf und bestimmte sie als „höchste Form des Kapitalismus“. „Der Imperialismus ist das monopolistische Stadium des Kapitalismus“ (Ausg. W. II, S. 839).

 

5. Die Umgestaltung der Theorie seit Lenins Tod

 

 

a) Die Ära Stalin

 

 

Die Probleme, denen Stalin sich gegenübersah, ergaben sich aus der Situation: Sozialismus in einem Lande, und zwar in einem überwiegenden Agrarlande, dessen erste Anfänge einer Industrieproduktion über das Stadium des Frühkapitalismus kaum hinausgewachsen waren. In diesem Lande fehlten also die wichtigsten, von Marx und Engels geforderten Voraussetzungen für die Einführung des Sozialismus: der Hochstand der Industrialisierung und die Masse des Proletariats. Praxis und Theorie mußten daher einer neuen Lage angepaßt werden. Die marxistisch-leninistische Theorie bedurfte also einer radikalen Umgestaltung, wenn sie einigermaßen mit der von Stalin befolgten Machtpolitik, einer in kürzester Zeit mit Gewalt und Terror zu erzwingenden Umgestaltung der Wirtschaft, Gesellschaft und der Einzelmenschen, übereinstimmen sollte. Diese Umgestaltung der Theorie wurde auf Stalins Geheiß in zwei Schüben durchgeführt — 1934 und 1947–1950, wobei, entsprechend der damaligen Lage der UdSSR, 1934 das Prinzip des proletarischen ➝Internationalismus der revolutionären Bewegung (Komintern) den nationalen und patriotischen Belangen der Sowjetunion und der KPdSU nachgeordnet wurde. Nach der Errichtung der bolschewistischen Herrschaft in den osteuropäischen Volksdemokratien wurde sodann nach dem 2. Weltkrieg das parteiliche Lehrgebäude durch die Lehre Stalins von der „kalten Revolution von oben“ ergänzt. (Stalinismus, Linguistikbriefe)

 

[S. 259]

 

b) Umbau der Theorie nach Stalins Tod

 

 

Nach Stalins Tod, vor allem seit dem XX. Parteitag der KPdSU (Anfang 1956), ist nach parteioffizieller Version eine Rückkehr zur „reinen Lehre Lenins“ erfolgt. Indes sei der M.-L. „schöpferisch weiterzuentwickeln“. Doch kann von einem wirklichen Bruch mit der Ideologie der Ära Stalin nicht die Rede sein. Die Betonung der Rolle der Staatsmacht ist für die Jahrzehnte der Vollendung des Sozialismus (in den Satellitenstaaten) bzw. des „Aufbaus des Kommunismus“ (in der UdSSR) erhalten geblieben. Doch sollen daneben die Gewerkschaftsorgane als partei-kontrollierte Instrumente der „Selbsttätigkeit“ der Massen aufgewertet werden. Die Repressionsgewalt wurde lediglich dadurch abgeschwächt, daß — unter Verdammung der These Stalins von der fortschreitenden Verschärfung des Klassenkampfes auch innerhalb der sozialistischen Weltzone — für die bolschewistischen Länder ein Abbau des innerstaatlichen Terrors (Wiederherstellung der „demokratischen Gesetzlichkeit“) postuliert wurde. Offenbar geht die Tendenz — in Fortsetzung des im Frühjahr 1953 von Malenkow proklamierten „Neuen Kurses“ — dahin, die Volksmassen bei unverminderter Aufrechterhaltung von Partei-, Staats- und Militärgewalt stärker für das Regime zu aktivieren. Die Umakzentuierung betrifft dementsprechend in erster Linie die Außenpolitik (Koexistenz) und das innere Gefüge der politischen Willensbildung (Kollektive Führung, Personenkult), die gemäß den von Lenin gegebenen Normen des Parteilebens durchgeführt werden soll. Dabei bleibt das Prinzip des Demokratischen Zentralismus als Norm der Willensbildung ebenso erhalten wie die weltrevolutionäre Zielsetzung. Lediglich mit veränderter Einschätzung der Weltlage hat sich die Taktik gewandelt. Doch gibt es Hinweise auf eine Abkehr vom großrussischen Imperialismus Stalins, auf positivistischere Tendenzen in der Wissenschaft, die sich z. T. von den Spekulationen des Dialektischen Materialismus weg und stärker technologischen und wirtschaftsorganisatorischen Fragen zugewendet hat. und oft auf einen Stil größerer Toleranz und verstärkter Sozialstaatlichkeit in der UdSSR selbst und einigen Satelliten, ohne daß indes das Gefüge des Ostblocks gelockert worden wäre.

 

Literaturangaben

  • Bochenski, Joseph M.: Der sowjetrussische dialektische Materialismus (Diamat). Bern 1950, Francke. 213 S.
  • Buchholz, Arnold: Ideologie und Forschung in der sowjetischen Naturwissenschaft (Schriftenreihe Osteuropa Nr. 1). Stuttgart 1953, Deutsche Verlagsanstalt.
  • Fetscher, Iring: Von Marx zur Sowjetideologie. 3., erw. Aufl., Frankfurt a. M. 1959, Moritz Diesterweg. 202 S.
  • Karisch, Rudolf: Christ und Diamat — Der Christ und der Dialektische Materialismus. 3., erw. Aufl., Berlin 1958, Morus-Verlag. 206 S.
  • Lange, Max Gustav: Marxismus — Leninismus — Stalinismus. Stuttgart 1955, Ernst Klett. 210 S.
  • Lehmbruch, Gerhard: Kleiner Wegweiser zum Studium der Sowjetideologie. (BMG) 1959. 90 S.
  • Lieber, Hans-Joachim: Die Philosophie des Bolschewismus in den Grundzügen ihrer Entwicklung (Staat u. Gesellschaft, Bd. 3) Frankfurt a. M. 1957, Moritz Diesterweg. 107 S.
  • Löwenthal, Fritz: Das kommunistische Experiment — Theorie und Praxis des Marxismus-Leninismus. Köln 1957, Markus-Verlag. 280 S.
  • Marxismusstudien, Sammelband, hrsg. v. E. Metzke (Schr. d. ev. Studiengemeinsch. Nr. 3). Tübingen 1954, Mohr. 243 S.
  • Marxismusstudien, 2. F., Sammelband, hrsg. von I. Fetscher (Schr. d. ev. Studiengemeinsch. Nr. 5). Tübingen 1957, Mohr. 265 S.
  • Marxismusstudien, Sammelband, hrsg. v. I. Fetscher (Schr. d. ev. Studiengemeinschaft Nr. 6). Tübingen 1960, Mohr. 221 S.
  • Milosz, Czeslaw: Verführtes Denken (mit Vorw. von Karl Jaspers). Köln 1955, Kiepenheuer und Witsch. 239 S.
  • Stalin: Über dialektischen und historischen Materialismus (vollst. Text, m. krit. Kommentar von Iring Fetscher). Frankfurt a. M. 1956, Moritz Diesterweg. 126 S.
  • Wetter, Gustav A.: Der dialektische Materialismus. Seine Geschichte und sein System in der Sowjetunion. 2. Aufl., Freiburg 1953, Herder. 659 S.
  • Bochenski, Joseph M., und Gerhart Niemeyer: Handbuch des Weltkommunismus. Freiburg i. Br. 1957, Karl Alber. 754 S.
  • Djilas, Milovan: Die neue Klasse — eine Analyse des kommunistischen Systems. München 1958, Kindler. 284 S.
  • Stern, Carola: Porträt einer bolschewistischen Partei — Entwicklung, Funktion und Situation der SED. Köln 1957, Verlag für Politik und Wirtschaft. 372 S.
  • Stolz, Otto: Sozialistische Errungenschaften für den Arbeiter? 4., erw. Aufl. (BMG) 1960. 79 S.
  • Unrecht als System — Dokumente über planmäßige Rechtsverletzungen im sowjetischen Besatzungsgebiet. (BMG) 1952. 239 S.
  • Unrecht als System, Bd. II — Dokumente über planmäßige Rechtsverletzungen im sowjetischen Besatzungsgebiet 1952 bis 1954. (BMG) 1955. 293 S. Eine englische, eine französische und eine spanische Ausgabe bringen die in Bd. I zusammengestellten Dokumente.
  • Unrecht als System, Bd. III — Dokumente über planmäßige Rechtsverletzungen im sowjetischen Besatzungsgebiet 1954 bis 1958. (BMG) 1958. 284 S.

 

Fundstelle: SBZ von A bis Z. Sechste, überarbeitete und erweiterte Auflage, Bonn 1960: S. 254–259


 

Information

Dieser Lexikoneintrag stammt aus einer Serie von Handbüchern, die zwischen 1953 und 1985 in Westdeutschland vom Bundesministerium für gesamtdeutsche Fragen (ab 1969 Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen) herausgegeben worden sind.

Der Lexikoneintrag spiegelt den westdeutschen Forschungsstand zum Thema sowie die offiziöse bundesdeutsche Sicht auf das Thema im Erscheinungszeitraum wider.

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