Wirtschaftswissenschaft (1960)
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[S. 456]In der SBZ hat die W. die Aufgabe, die Politik der Ulbricht-Gruppe in der SED „wissenschaftlich“ abzustützen. Erkenntnisse und Vorschläge von Wirtschaftswissenschaftlern — auch wenn sie SED-Genossen sind und im Grundsatz die marxistische Lehre von der Politischen Ökonomie (Politökonomie) anerkennen — die nicht mit der von Ulbricht und seinen Anhängern vertretenen Politik übereinstimmen, werden als „unwissenschaftlich“ und „klassenfeindlich“ unterdrückt. Methoden und Inhalt der sowjetzonalen W. sind in keiner Weise mit denen in der Bundesrepublik vergleichbar. Die von westlichen Gepflogenheiten völlig abweichenden Begriffsbildungen erschweren sogar die bloße Gegenüberstellung wirtschaftswissenschaftlicher Kategorien in Ost und West. — Ideologisch weisunggebend ist das Gesellschaftswissenschaftliche Institut beim ZK der SED, Lehrstuhl für Politökonomie; Schwerpunkt der wirtschaftswissenschaftlichen Tätigkeit ist das Institut für W. bei der Deutschen Akademie der Wissenschaften in Ost-Berlin. Auch an Universitäten, Hochschulen und Akademien gibt es Lehrstühle für W. bzw. Politökonomie.
In der Bundesrepublik und im gesamten Ausland finden seit 1957/58 Auseinandersetzungen zwischen den bedeutendsten Mitgliedern des Instituts für W. der Akademie der Wissenschaften einerseits und den Anhängern des Ulbricht-Kurses in der SED besondere Aufmerksamkeit. Auf der 30. Tagung des ZK der SED (Jan. 1957) mußten die Wirtschaftswissenschaftler Prof. Fritz ➝Behrens, damals Leiter der Staatl. Zentralverwaltung für Statistik, Abteilungsleiter im Institut für W. und Inhaber des Lehrstuhls für Politische Ökonomie an der Universität Leipzig, und sein Mitarbeiter Dr. Arne ➝Benary heftige Kritik hinnehmen. Ein von Prof. Behrens veröffentlichter Artikel mit einem Vergleich des Reallohns in der Bundesrepublik und der SBZ — bei dem die Bundesrepublik günstig abschnitt —, ferner andere Äußerungen von Prof. Behrens, in denen er die Meinung vertrat, daß in der SBZ nunmehr die Zeit vorüber sein müsse, in der die Wirtschaft unmittelbar durch den Staatsapparat angeleitet wird, zogen ihm den Zorn der SED-Führung zu.
In ähnlicher Richtung lagen Äußerungen von Prof. Kohlmey, damals Direktor des Instituts für W. der Akademie und Professor mit Lehrauftrag an der Ost-Berliner Universität, der das System der Planwirtschaft kritisiert hatte, und sogar der damals führende Prof. Fred ➝Oelßner, Inhaber des Lehrstuhls für Politische Ökonomie am Institut für Gesellschaftswissenschaften beim ZK der SED, hatte sich wiederholt kritisch zum System der sowjetzonalen Wirtschaftsplanung geäußert, indem er offen die Meinung vertrat, daß ökonomische Fragen ökonomisch, nicht ideologisch gelöst werden müßten.
Die genannten Wirtschaftswissenschaftler wurden 1958 gemaßregelt [S. 461]und aus allen Funktionen entfernt, von denen aus sie in die Öffentlichkeit wirken konnten; sie wurden als „Revisionisten“ bezeichnet, deren Anschauungen „der kapitalistischen Ideologie weit die Tore öffnet“ (Revisionismus). Nur in der Sektion W. der Akademie durften sie unter Kontrolle der SED-Führung verbleiben. Außer einigen, von ihnen offensichtlich unter Druck seitens der SED verfaßten „selbstkritischen“ Äußerungen hörte die Öffentlichkeit zwei Jahre lang kaum etwas von ihnen.
Es war daher eine Überraschung, als im Frühjahr 1960 die Namen der Gemaßregelten wieder öffentlich genannt wurden. Offenbar kann die SED-Führung nicht auf die Mitarbeit dieser Wirtschaftswissenschaftler bei der dringend notwendigen Reorganisation der Wirtschaftsplanung (Planung) verzichten. Im Febr. 1960 wurden ihnen und anderen Mitgliedern der Sektion W. der Akademie, bzw. von ihnen gebildeten „Forschungsgemeinschaften“, mehr als 30 wirtschaftswissenschaftliche „Vertragsforschungsaufträge“ übergeben mit der Aufgabenstellung, dadurch „das sozialistische Planungssystem als Ganzes weiterzuentwickeln und zu vervollkommnen“. Einzelthemen solcher Forschungsaufträge sind u. a.: „Erarbeitung von Methoden und Kennziffern für die Messung der Arbeitsproduktivität“ (Produktivität); „Untersuchung der Ursachen für die Entstehung von Überplanbeständen“; „Formen und Methoden der Planung und Leitung der Produktion und Versorgung der Bevölkerung mit Konsumgütern und Dienstleistungen“; „Ausarbeitung von Vorschlägen zur Verbesserung der Funktion und Wirkungsweise der Preise“ usw.
Aus der Art dieser Forschungsaufträge ist ersichtlich, daß die Planwirtschaft der SBZ bisher keine wissenschaftliche Fundierung hatte, vielmehr — wie an zahlreichen Beispielen nachweisbar ist — ausschließlich entsprechend den politischen Zweckmäßigkeitserwägungen der SED-Führung praktiziert wurde. Man darf vermuten, daß die Beauftragung der früher gemaßregelten Wirtschaftswissenschaftler, die im Grunde ihre „ökonomische Einstellung“ nicht geändert haben — damit im Zusammenhang steht, daß die SED-Führung im Hinblick auf die hoch angesetzten Ziele des Siebenjahrplans künftig möglicherweise eher als früher bereit ist, in der Wirtschaft „ökonomische Prinzipien“ zur Geltung kommen zu lassen.
Die Aufsicht über die neue wirtschaftswissenschaftliche Forschungstätigkeit übt das Mitte 1960 für diesen Zweck neu errichtete „Ökonomische Forschungsinstitut bei der Staatlichen ➝Plankommission“ aus.
Fundstelle: SBZ von A bis Z. Sechste, überarbeitete und erweiterte Auflage, Bonn 1960: S. 456–461
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