DDR von A-Z, Band 1960

Antisemitismus (1960)

 

 

Siehe auch die Jahre 1962 1963 1965 1966 1969 1975 1979 1985


 

Hinter der Behauptung, die Bundesrepublik lasse den A. nicht nur zu, sondern suche ihn wieder ins Leben zu rufen, will die SED über ihren eigenen A. hinwegtäuschen. Sie hat es bis heute schweigend hingenommen, daß der Stalinismus in der SU 1934–1938 und 1948–1953 viele Zehntausende von Juden als angebliche Kosmopoliten und zionistische Staatsfeinde hinrichtete und einkerkerte und ihnen Bildungs- und Kultureinrichtungen nahm. Auch die „Zionisten“-Prozesse der Satelliten, die 1949 bis 1952 einige Todesopfer und manche Zuchthausurteile forderten, hat die SED bis heute noch in keiner Weise verurteilt.

 

Das ZK der SED nahm die Todes- und Kerkerurteile gegen die „zionistische“ Slanskygruppe zum Anlaß, gegen jüdische Spitzenfunktionäre scharf vorzugehen, da sie angeblich Agenten des Zionismus und damit des amerikanischen Monopolkapitalismus seien: So mußten Paul ➝Merker und Erich Jungmann auf Jahre in Haft. Am 20. 12. 1952 warf das ZK Merker vor, daß er „als Garantie gegen die Assimilation der Juden die national-kulturelle Autonomie forderte“. Jungmann, so rügte das ZK, habe „gefordert, daß alle den deutschen Juden zugefügten Schäden vom deutschen Volk und bevorzugt vor allen anderen Schäden wiedergutgemacht werden“. Merker wurde angegriffen, weil er auch jene Juden entschädigt sehen wollte, „die im Ausland bleiben wollen“.

 

Bis heute weigert sich das Regime der SBZ, die besonders schweren Blut- und Besitzopfer, die der Hitlerismus den Juden auferlegt hat, annähernd zu erstatten (Wiedergutmachung). Das Regime zahlt nur die sehr mäßige allgemeine Unterhaltsrente, die alle Hitleropfer beziehen. Diese Verweigerung eines Schadensausgleiches, eine schwerwiegende Form des A., wird schroff aufrechterhalten: So erklärte der im Staatssekretärsrang stehende Albert ➝Norden am 2. 2. 1960 (laut dpa) in einer Pressekonferenz, die „DDR sei nicht bereit, „eine Wiedergutmachung an Israel zu zahlen“. Vielmehr habe sie „eine tatsächliche Wiedergutmachung“ an Juden in der Form vollzogen, daß die jüdischen Mitbürger ruhig leben können wie alle anderen auch“.

 

Weit bedrohlicher als diese finanzpolitische Form des A. war und ist die Gefahr, daß Juden in der SBZ bezichtigt werden, dem vermeintlich staatsfeindlichen Zionismus anzuhängen oder ihn zu fördern. Die Sorge, derart verdächtigt zu werden, nötigte allein Anfang 1953 635 Juden zur Flucht, u. a. den Präsidenten des Verbandes der Jüdischen Gemeinden, Julius Meyer, und die Vorsitzenden der Jüdischen Gemeinden in Erfurt, Leipzig und Dresden. Prof. Dr. Leo Zuckermann, Staatssekretär in der Kanzlei des Präsidenten Pieck, war schon vorher geflüchtet. Aus dem gleichen Grunde sind auch seither weitere Juden geflohen.

 

Schon diese Form des A. widerspricht dem einschlägigen Teil des Art. 6 der Verfassung („Bekundung von Glaubens-, Rassen-, Völkerhaß … und alle sonstigen Handlungen, die sich gegen die [S. 22]Gleichberechtigung richten, sind Verbrechen im Sinne des Strafgesetzbuches“). Noch verwerflicher und ebenso verfassungswidrig sind:

 

1. die Nichtzulassung jüdischer Schulen, Bildungseinrichtungen und Kultur-Organisationen; 2. die Einstellung der bis 1952 gezahlten Zuschüsse an die Synagogengemeinden. Ferner trifft die atheistische Linie des gesamten Unterrichtswesens auch die jüdische Konfession.

 

Dieser A. des Regimes wiegt wohl schwerer als gewisse Schmierereien. „Neues Deutschland“ muß z. B. am 7. 1. 1959 berichten, daß in der SBZ „jüdische Bürger … Schreiben mit antisemitischen Sudeleien“ erhielten; fadenscheinig klingt die Behauptung, sie seien „durch Beauftragte von Westberliner Agentenzentralen aufgegeben worden“.


 

Fundstelle: SBZ von A bis Z. Sechste, überarbeitete und erweiterte Auflage, Bonn 1960: S. 21–22


 

Information

Dieser Lexikoneintrag stammt aus einer Serie von Handbüchern, die zwischen 1953 und 1985 in Westdeutschland vom Bundesministerium für gesamtdeutsche Fragen (ab 1969 Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen) herausgegeben worden sind.

Der Lexikoneintrag spiegelt den westdeutschen Forschungsstand zum Thema sowie die offiziöse bundesdeutsche Sicht auf das Thema im Erscheinungszeitraum wider.

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