Kriminalität (1962)
Siehe auch die Jahre 1959 1960 1963 1965 1966 1969 1975 1979 1985
Bis 1955 wurden Zahlen über die K. in der SBZ nicht veröffentlicht. Seit 1956 sucht die SED mit Hilfe der K.-Statistik zu beweisen, daß die K. in der sozialistischen Gesellschaft ständig abnimmt. Gegenüber 1946 soll die K. bis 1960 auf 27,7 v. H. zurückgegangen sein und um mehr als 50 v. H. geringer sein als jemals in Deutschland seit 1882. Demgegenüber steige die K. in der Bundesrepublik immer mehr an. 803 Straftaten pro 100.000 strafmündiger Personen werden 3.660 Straftaten in der Bundesrepublik gegenübergestellt. Dieses Verhältnis ändert sich allerdings schon sehr wesentlich, wenn man die Verkehrsdelikte ausklammert, die in der Bundesrepublik 1958 etwa 35 v. H., in der SBZ dagegen infolge des wesentlich geringeren Verkehrs nur etwa 6 v. H. aller Straftaten ausgemacht haben.
Die K.-Statistik muß mit allen Vorbehalten betrachtet werden, die grundsätzlich gegenüber Ergebnissen sowjetzonaler Statistiken angebracht sind. Die Zahlen sollen nicht objektiv informieren, sondern die These der SED beweisen, daß die sozialistische Gesellschaftsordnung dem kapitalistischen Staatswesen überlegen ist. Während die K. im Kapitalismus eine unvermeidliche Erscheinung sei, die man nicht hinweg denken könne, werde die K. mit der Vollendung des sozialistischen Aufbaus völlig überwunden, weil es „in der DDR keine unaufhebbaren Ursachen für das Verbrechen“ gebe (Neue Justiz 1960, S. 614). Nach den Propagandabehauptungen der SED hat sich „die sozialistische Gesellschaftsordnung in der DDR ständig gefestigt“ und in steigendem Maße „die Reste des egoistischen menschenfeindlichen Denkens und Handelns aus der kapitalistischen Zeit überwunden und neue sozialistische Beziehungen der Menschen untereinander entwickelt“. Dadurch werde „der Begehung von Verbrechen und Vergehen immer mehr der Boden entzogen und die bewußte Einhaltung der sozialistischen Gesetzlichkeit gewährleistet“ (Beschluß des Staatsrates der DDR über die Gewährung von Straferlaß durch Gnadenerweis vom 1. 10. 1960 — GBl. I, S. 533; Amnestie).
Die Entwicklung der K. wird also als Gradmesser des Standes der sozialistischen Umwälzung betrachtet.
Vorsorglich wird jedoch erklärt, daß das Tempo der Verdrängung der K. nicht nur von der inneren Entwicklung in der SBZ abhängig sei. Im Gegensatz zu anderen sozialistischen Ländern, vor allem der SU, sei die SBZ besonders stark den Einwirkungen des „Klassenfeindes“ und der „imperialistischen Propaganda“ ausgesetzt. Diese „unmittelbaren, ungelenkten und spontanen Einflüsse des Kapitalismus von außen (Angriffe und Bestrebungen konterrevolutionären Charakters!“ und die „in Wort, Schrift und Bild (Fernsehen) von Westdeutschland und West-Berlin ausgehende Atmosphäre, die die Keime des Verbrechens ausspeit“ (Neue Justiz 1958, S. 402) werden als eine der Hauptursachen der noch vorhandenen K. bezeichnet. Die zahlreichen Besucher, Umsiedler und Rückkehrer aus Westdeutschland brachten „individualistische und egoistische Auffassungen“ mit, „die erst durch die Erziehung im Kollektiv unseres zum Sozialismus schreitenden Volkes überwunden werden können“ (Neue Justiz 1960, S. 614). Diese Argumente werden schon dadurch entwertet, daß die SU, die doch diesen Einflüssen des „Klassenfeindes“ nicht ausgesetzt ist, noch heute vor denselben Schwierigkeiten bei der Bekämpfung der K. steht wie die SBZ, was sich aus Ausführungen des Justizministers der RSFSR ergibt (Neue Justiz 1959, S. 297). per Kampf gegen die K. ist somit in der SBZ vor allem eine politische Aufgabe. Äußerlich eindrucksvolle Erfolge täuscht die SED nicht nur durch die K.-Statistik vor, sondern auch durch Maßnahmen der Strafpolitik. Durch die Übergabe zahlreicher Strafsachen von geringerer Bedeutung an die Konfliktkommission (Gesellschaftliche Gerichte) war Anfang 1961 vorübergehend bei den Kreisgerichten ein Rückgang der Strafverfahren bis zu 50 v. H. zu verzeichnen. Diese sog. kleine K. erscheint nicht mehr in der K.-Statistik. Ohne daß die K. wesentlich zurückging, ist auf diese Weise schon 1960 der Eindruck einer weiteren Abnahme der K. um 12 v. H. gegenüber 1959 erweckt worden.
Erhebliche Sorgen bereitet der SED die Jugend-K., über die keine Zahlen veröffentlicht werden. Sie ist im Verhältnis zur allgemeinen K. wesentlich höher als in der Bundesrepublik. Die negative Beeinflussung aus West-Berlin und Westdeutschland wurde besonders für die hohe Jugend-K. verantwortlich gemacht. So sollen 80 bis 85 v. H. der gestrauchelten Jugendlichen westliche Literatur (Schund- und Schmutzliteratur) gelesen und 90 v. H. West-Berliner Kinoveran[S. 238]staltungen besucht haben. Diese schädlichen Einflüsse hätten besonders das Rowdytum zur Folge.
Fundstelle: SBZ von A bis Z. Siebente, überarbeitete und erweiterte Auflage, Bonn 1962: S. 237–238
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