Ideologie (1962)
Siehe auch die Jahre 1958 1959 1960 1963 1965 1966 1969 1975 1979
Wörtlich Ideenlehre; im weiteren Sinne ein mit idealen Gehalten ausgestattetes geistiges System, dessen Voraussetzungen und Konsequenzen ohne Diskussion und Zweifel angenommen, „geglaubt“ werden müssen. Geistesgeschichtlich ist das Entstehen von f. auf das Zerbrechen eines allen Menschen gemeinsamen Welt-, Geschichts- und Menschenbildes zurückzuführen. Das Bemühen um neue Erkenntnis und neues Weltverständnis führte zu verschiedenen politischen und sozialen Theorien. Versuche, solche politischen Ideen für die Praxis zu verwerten, entkleideten sie zwangsläufig ihres hypothetischen Charakters, engten sie auf ihre „brauchbaren“ Teile ein und verfälschten den ursprünglichen Zusammenhang. Im Verhältnis zu ihren geistigen Wurzeln sind die I. nur Surrogate der politischen Ideen.
In der modernen politischen Praxis dient die I. der geistig-weltanschaulichen Verklärung und Rechtfertigung machtpolitischer Handlungen, vornehmlich in totalitären Staaten. Indem jeglicher Zweifel an ihrem Wahrheitsgehalt als sündhaftes Verbrechen erklärt und geahndet wird, erhält sie scheinreligiösen Charakter. Die Auslegung der „wahren Lehre“ behalten sich die Machthaber jeweils im Sinne ihrer eigenen Interessen vor. Der tatsächliche Einfluß einer I. auf die Handlungen ihrer „Vollstrecker“ ist schwer abzuschätzen. Auf jeden Fall ist er weitaus geringer als vorgegeben und auch als vielfältig angenommen wird. Wenngleich die bolschewistischen Machthaber bedenkenlos und zynisch immer wieder gegen die Grundsätze ihrer I. verstoßen, so sind ideologische Richtungskämpfe mindestens als der Ausdruck von Machtkämpfen von großer Bedeutung. — In letzter Konsequenz ist die I. ein geistiges Instrument zur Ausübung der Macht. (Marxismus-Leninismus, Bewußtseinsbildung)
Fundstelle: SBZ von A bis Z. Siebente, überarbeitete und erweiterte Auflage, Bonn 1962: S. 186