DDR von A-Z, Band 1962

Literatur (1962)

 

 

Siehe auch die Jahre 1958 1959 1960 1963 1965 1966 1969

 

[S. 263]Als wichtiges Instrument der Bewußtseinsbildung, der Agitation und Propaganda ist die gesamte L. der SBZ den Direktiven, Apparaturen und Mechanismen der Kulturpolitik unterworfen. Nach kommun. Auffassung sollen die Schriftsteller „Rädchen und Schräubchen im Mechanismus der Parteiarbeit“ (Lenin 1905), „Ingenieure der menschlichen Seele“ (Stalin 1932), „aktive Kämpfer für den Kommunismus“ (Chruschtschow 1957) sein; „Literatur und bildende Künste sind der Politik untergeordnet …, die Idee der Kunst muß der Marschrichtung des politischen Kampfes folgen“ (Grotewohl 1951). Zur Lenkung und Kontrolle der L. bedient sich die SED mannigfacher Methoden, die Autor, Verlag, Manuskript, Verbreitung und Publikum betreffen. Die Schriftsteller sind im Deutschen ➝Schriftstellerverband organisiert. Die Mitgliedschaft ist kein Zwang, aber praktisch unumgänglich zur Wahrnehmung der beruflichen Möglichkeiten und sozialen Rechte. Das Verlagswesen wird politisch, wirtschaftlich und personell von Staat und Partei kontrolliert. Die Abt. Literatur und Buchwesen des Ministeriums für Kultur beaufsichtigt die Verlagsplanungen und erteilt die Druckgenehmigungen. Die Staatliche ➝Plankommission teilt das Papier zu. Ein großer Teil des Buchhandels, insbesondere seine organisatorischen und publizistischen Einrichtungen, der Großbuchhandel, der Deutsche ➝Buch-Export und -Import und das Antiquariatswesen, sind in der Hand des Regimes. Alle öffentlichen Bibliotheken sind dem Ministerium für Kultur unterstellt, die wissenschaftlichen dem Staatssekretariat für das Hoch- und Fachschulwesen; der FDGB kontrolliert die Werksbibliotheken, die FDJ die Jugendbüchereien. In den privaten Leihbüchereien veranstaltet die Deutsche ➝Volkspolizei in unregelmäßigen Abständen Razzien. Die Rezensionen und die L.-Propaganda der Presse unterliegen den Prinzipien, die für die Presselenkung im allgemeinen gelten. Schließlich werden die gesamte L. und der mit ihr verbundene Apparat von den Parteiorganen kontrolliert, d. h. in diesem Falle von der Kulturkommission beim Politbüro und der Abt. Kunst, Literatur und Kulturelle Massenarbeit des ZK der SED. Die wichtigsten SED-Funktionäre, die sich mit Fragen der Literatur befassen, sind Alexander ➝Abusch, Alfred ➝Kurella und Wilhelm ➝Girnus. Dieses komplizierte und vielschichtige System der Zensur funktioniert so gut, daß nur in Ausnahmefällen bereits publizierte Bücher eingestampft zu werden brauchen.

 

Die Verwandlung der L. in ein Instrument der Staats- und Parteipolitik hat eine wichtige, propagandistisch gern hervorgekehrte Sonnenseite, die großzügige Förderung genehmer Bücher und willfähriger Autoren. Die Bücher in der SBZ sind in der Regel erheblich billiger als in der Bundesrepublik. Das wird vor allem durch den institutionell gesicherten Absatz (Volks- und Werksbibliotheken, Buchprämien für Aktivisten) und durch staatliche Subventionen für propagandistisch oder wissenschaftlich nützliche Werke bewirkt. Die Verlage, deren Zahl viel geringer ist als in der Bundesrepublik, sind wirtschaftlich gut fundiert. Die bevorzugten Autoren beziehen aus hohen Auflagen beträchtliche Einnahmen, dazu kommen Lizenzgebühren aus Übersetzungen in die Sprachen des Ostblocks, u. U. auch Einkünfte aus der Zugehörigkeit zu den kulturellen Gremien und Institutionen, aus der Mitwirkung an der Kulturellen Massenarbeit und aus der Arbeit für Presse, Rundfunk, Fernsehen und Filmwesen, denen Förderung und Propagierung der regimetreuen L. auferlegt sind. Für politisch wichtige Unternehmungen, z. B. Studien in Volkseigenen Betrieben und Landwirtschaftlichen ➝Produktions[S. 264]genossenschaften, stellen Verlage, Organisationen und Institutionen Vorschüsse und Stipendien zur Verfügung. Die Schriftsteller genießen alle Privilegien der sog. fortschrittlichen Intelligenz. Das gesellschaftliche Ansehen arrivierter Schriftsteller geht weit über das im Westen übliche hinaus; die obersten Staats- und Parteifunktionäre würdigen sie ihrer Aufmerksamkeit und freundschaftlichen Umgangs. Für literarische Leistungen sind zahlreiche Auszeichnungen und Preise ausgesetzt, als höchster der Nationalpreis. Besondere Förderung erfährt die L. der Wenden (Cisinski-Preis). Gremien, in die sowjetzonale Schriftsteller berufen werden können, sind die Deutsche ➝Akademie der Künste in Ost-Berlin und das PEN-Zentrum Ost und West. Nachwuchsschriftsteller werden im Institut für Literatur in Leipzig geschult.

 

Das literarische Schaffen in der SBZ wird nach der Doktrin des Sozialistischen Realismus ausgerichtet, der im Statut des sowjet. Schriftstellerverbandes definiert wird als „historisch konkrete Darstellung der Wirklichkeit in ihrer revolutionären Entwicklung“. Obwohl in der Regel einige Grundprinzipien wie Parteilichkeit, Volkstümlichkeit, Gegenwartsnähe, Optimismus und Positiver Held vorgeschrieben werden, gelingt es den kommun. Interpreten doch auch, Werke von Gorki, Scholochow und Brecht, die keines dieser Prinzipien aufweisen, unter den Begriff zu subsumieren. Es handelt sich nicht um eine ästhetische, sondern um eine politische Kategorie, die sich je nach dem Charakter des gerade herrschenden Kurses verengt oder erweitert. (Theater)

 

Die L. der S8Z konnte internationales Ansehen gewinnen, weil sich nach 1945 eine Reihe bedeutender deutscher Schriftsteller — ehemalige Emigranten oder „Innere Emigranten“ — in Mitteldeutschland niederließen und mit dem kommun. Regime solidarisierten, unter ihnen die Dramatiker Bertolt ➝Brecht und Friedrich Wolf, die Epiker Arnold ➝Zweig, Anna ➝Seghers, Ludwig ➝Renn, Bernhard Kellermann und Ehm Welk, die Lyriker Johannes R. ➝Becher, Stephan Hermlin, Peter ➝Huchel und Erich Arendt; zu schweigen von Tendenzschriftstellern zweiter und dritter Garnitur wie Erich Weinert, Willi ➝Bredel, Bodo Uhse, Eduard Claudius, Hans ➝Marchwitza, Karl Grünberg, Otto ➝Gotsche, F. C Weiskopf, Bruno ➝Apitz und Kuba (Kurt ➝Bartel); hinzu kamen später Stephan Heym und Arnolt Bronnen. Soweit es sich nicht um alte Kommunisten handelte, die der SED von vornherein verbunden waren, wurde die Annäherung an das SBZ-Regime zunächst durch die geschickte, materiell großzügige und einigermaßen liberale Kulturpolitik gefördert, die Becher als Präsident des Kulturbundes in den ersten Jahren nach 1945 betrieb. Nach der Gründung der „DDR“ 1949 und insbesondere unter den Auspizien des Kampfes gegen den Formalismus 1951/1952 wurde die geistige Bewegungsfreiheit in Mitteldeutschland aber immer mehr gedrosselt, so daß die Schriftsteller, auch die berühmten, in eine verzweifelte Lage gerieten. Keiner von ihnen hat nach der Niederlassung. in der SBZ noch ein Werk geschaffen, das seinen früheren ebenbürtig gewesen wäre. Einige wie Brecht und Hermlin verstummten ganz, andere wie Becher und Seghers fielen auf das Niveau primitiver Agitationsliteratur, wieder andere wie Zweig und Renn zogen sich auf historische und exotische Themen zurück. Die Demoralisierung war so stark, daß sich die Veteranen der linken L. selbst in der relativ liberalen Periode des Neuen Kurses und des Tauwetters 1953–1956 nicht wieder erholten. Immerhin haben in dieser Periode einige der Schriftsteller, vor allem Becher und Brecht, in Reden und Aufzeichnungen zum Teil heftige Kritik an der kommun. Kulturpolitik und Politik geübt. Namhafte marxi[S. 265]stische Theoretiker: Georg ➝Lukács, Ernst ➝Bloch und Hans ➝Mayer, haben sich zu Fürsprechern liberaler Bestrebungen gemacht (Revisionismus).

 

In der Stalin-Zeit konnte sich kein Talent entfalten. Die L. hatte lediglich die SED-Beschlüsse zu illustrieren. Selbst der bekannteste in der SBZ gereifte Autor, Erwin ➝Strittmatter, büßte sofort seine Gestaltungskraft ein, als er von Jugenderinnerungen zur Darstellung der kommun. Gegenwart überging. Im Tauwetter jedoch trat eine ganze Schar junger Lyriker auf, unter ihnen Heinz Kahlau, Günter Kunert, Armin Müller, Johannes Bobrowski, Peter Jokostra, Wolfgang Hädecke, die moderne Formen und kühne, gesellschaftskritische Aussagen hervorbrachten. Andere Autoren unter ihnen Harry Thürk, Karl Mundstock, Egon Günther, Hans Pfeiffer, Manfred Gregor-Dellin, Franz Fühmann schrieben eindrucksvolle „harte“ Kriegsromane und -erzählungen. Die meisten dieser Schriftsteller wurden nach Abbruch des Tauwetters von der SED zur Ordnung gerufen, die einen wegen Revisionismus, die anderen wegen Pazifismus.

 

Eine neue Periode der L.-Politik dekretierte Ulbricht 1959 auf der Bitterfelder Konferenz (Schreibende ➝Arbeiter), einerseits verlangte er von den Schriftstellern, sie sollten unmittelbar am Aufbau des Sozialismus teilnehmen, andererseits forderte er die Arbeiter auf, selber eine L. zu schaffen (Laienkunst).

 

Das literarische Leben in der SBZ ist dem politischen Druck gemäß außerordentlich einförmig. Es gibt keine unpolitische L., also auch keine Unterhaltungs-, Abenteuer- und Kriminalromane ohne Tendenz. Die gesamte moderne Weltliteratur wird als Dekadenz unterdrückt, z. B. Kafka, Musil, Hamsun, Gide, Sartre, Camus. Faulkner, Steinbeck. Trotz der Überfülle von Übersetzungen aus dem Russischen (1955: 66 v. H. der Übersetzungen, 12,5 v. H. der gesamten Buchproduktion) bleiben auch sowjet. Autoren unveröffentlicht, wenn sie nicht mit der Linie übereinstimmen, z. B. Babel, Dudinzew, Pasternak. Dem mitteldeutschen Lesepublikum bleiben als Ausflucht die Klassiker des Kulturellen Erbes, die zwar in Vor- und Nachworten kommunistisch interpretiert, im übrigen aber reichlich und preiswert ediert werden; außerdem die Frühwerke der in der SBZ verstummten Altmeister und die Werke solcher westlichen Autoren, die von den Kommunisten als Verbündete (Bündnispolitik) in Anspruch genommen und in begrenztem Umfang aufgelegt werden.

 

Zahlreiche Schriftsteller haben sich der Reglementierung durch Republikflucht oder Übersiedlung nach dem Westen entzogen, aus der älteren Generation Ricarda Huch, Theodor Plievier, Hermann Kasack und Alfred Kantorowicz, aus der jüngeren Heinz Rein, Horst Lommer, Heinz-Winfried Sabais, Horst Bienek, Gerhard Zwerenz, Peter Jokostra, Wolfgang Hädecke, Manfred Gregor-Dellin, Herbert A. W. Kasten, Heinar Kipphardt, Uwe Johnson. Der Leiter des führenden Verlages der SBZ, des Aufbau-Verlages in Ost-Berlin, Walter Janka, und die Schriftsteller Wolfgang Harich und Erich Loest wurden 1957 bzw. 1958 als Revisionisten zu hohen Zuchthausstrafen verurteilt.

 

Literaturangaben

  • Balluseck, Lothar von: Kultura, Kunst und Literatur in der sowjetischen Besatzungszone (Rote Weißbücher 7). Köln 1952, Kiepenheuer und Witsch. 133 S.
  • Balluseck, Lothar von: Dichter im Dienst — der sozialistische Realismus in der deutschen Literatur. Wiesbaden 1956, Limes-Verlag. 161 S. m. 8 Tafeln.
  • Rühle, Jürgen: Das gefesselte Theater — vom Revolutionstheater zum sozialistischen Realismus. Köln 1957, Kiepenheuer und Witsch. 457 S. m. 16 Abb.
  • Rühle, Jürgen: Literatur und Revolution. Die Schriftsteller und der Kommunismus. Köln 1960, Kiepenheuer und Witsch. 576 S., 72 Abb.

 

Fundstelle: SBZ von A bis Z. Siebente, überarbeitete und erweiterte Auflage, Bonn 1962: S. 263–265


 

Information

Dieser Lexikoneintrag stammt aus einer Serie von Handbüchern, die zwischen 1953 und 1985 in Westdeutschland vom Bundesministerium für gesamtdeutsche Fragen (ab 1969 Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen) herausgegeben worden sind.

Der Lexikoneintrag spiegelt den westdeutschen Forschungsstand zum Thema sowie die offiziöse bundesdeutsche Sicht auf das Thema im Erscheinungszeitraum wider.

Ausführliche Informationen zu den Handbüchern finden Sie hier.