
Entstalinisierung (1963)
Siehe auch die Jahre 1965 1966 1969
Nach dem Tod Stalins im März 1953 kritisierte die neugebildete Führung der KPdSU den Personenkult und den Dogmatismus der Stalinzeit. Sie propagierte das Prinzip der kollektiven Führung und begann, stalinistische Herrschaftsmethoden abzubauen (Stalinismus). In diesem Rahmen: Abbau des Terrors, teilweise Dezentralisierung der Staats- und Wirtschaftsleitung, Auflösung von Zwangsarbeitslagern, Verkündung der sozialistischen Gesetzlichkeit und Einschränkung der ideologischen Reglementierung. Verschiedene Wissenschaften, bes. die Naturwissenschaften, erhielten größeren Spielraum für die objektive Forschung. Die Arbeits- und Lebensbedingungen der Bevölkerung wurden verbessert durch den Abbau der drakonischen Arbeitsgesetzgebung und die Erhöhung der Konsumgüterproduktion. Außenpolitisch wurde die Aussöhnung mit Jugoslawien gesucht (Titoismus) und das Abhängigkeitsverhältnis der Volksdemokratien gegenüber Moskau etwas gelockert.
Die Zeit von Stalins Tod bis zum XX. Parteitag der KPdSU im Febr. 1956 kann als „stille E.“ bezeichnet werden (Tauwetter). Auf dem XX. Parteitag bekannte sich die Parteiführung offen zu den Maßnahmen, mit denen sie das von Stalin übernommene System zu reformieren versuchte. Auch auf dem XXII. Parteitag im Okt. 1961 wurde Stalin öffentlich kritisiert. Neue Thesen wurden verkündet, die eine weitere Abkehr von wichtigen Prinzipien des Stalinismus bedeuteten (Geschichte der ➝KPdSU) und darauf abzielten, Ideologie und Praxis den Bedingungen eines modernen Industrie[S. 126]staates anzupassen. Diese Anpassung wurde als Rückkehr zum Leninismus ausgegeben. Das kennzeichnet auch die Grenzen der E. Die Alleinherrschaft der Partei blieb erhalten.
Mit der E. lebten in den Volksdemokratien und fast allen kommunistischen Parteien oppositionelle Strömungen auf (Revisionismus, Dritter Weg, Nationalkommunismus). Nach den Ereignissen in Polen und Ungarn im Herbst 1956 wurde die E. von Moskau vorübergehend gebremst. Trotzdem ging in der SU der „Kampf gegen Personenkult und Dogmatismus“ weiter. Die jüngeren, gebildeteren, vom Stalinismus unbelasteten Kader ringen unter dieser Losung um die Verstärkung ihres Einflusses, während sich die Stalinisten der E. widersetzen. In den Volksdemokratien ist die E. bisher in Polen und Ungarn am weitesten vorangeschritten, die chinesische und die albanische Parteiführung widersetzen sich hartnäckig und bezeichnen die E. als einen Verrat an den Prinzipien des Marxismus-Leninismus. Walter ➝Ulbricht hat bisher vermieden, aus der Verurteilung Stalins und seiner Herrschaftsmethoden ähnlich weitgehende Konsequenzen wie in der SU und in einigen Volksdemokratien zu ziehen. Offiziell wurde zwar der Personenkult verurteilt, aber die Herrschaftsmethoden haben sich im Vergleich zur Stalinära noch nicht wesentlich verändert.
Fundstelle: SBZ von A bis Z. Achte, überarbeitete und erweiterte Auflage, Bonn 1963: S. 125–126
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