
Erziehungswesen (1963)
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[S. 130]Die marxistisch-leninistische Pädagogik unterscheidet drei Institutionen der „Erziehung“ der Heranwachsenden Jugend: Familie, Schule und Jugendorganisation. Die Schule — insbesondere die „allgemeinbildende“ im Unterschied zur „berufsbildenden“ — gilt jedoch als die „Hauptkraft“ der Erziehung. Die FDJ, die Jungen Pioniere und die Familie sind verpflichtet, ihr „Hilfe“ zu leisten. Der Einfluß der Familie ist — soweit er sich nicht gleichschalten ließ — trotz gegenteiliger Beteuerungen ständig zurückgedrängt worden.
Der Marxismus-Leninismus postuliert: Das E. ist auf allen Stufen geschichtlicher Entwicklung eine gesellschaftliche Erscheinung und als Bestandteil des „Überbaus“ von der ökonomischen und somit auch von der Klassenstruktur der jeweiligen Gesellschaftsformation bedingt. Erst die „sozialistische Gesellschaft“, d. h. das kommun. totalitäre Regime, ermögliche eine Erziehung und Bildung im wahren Sinne des Wortes, schaffe die Voraussetzungen für allseitig entwickelte Persönlichkeiten. (Das Typische der Erziehung wird von der kommunistischen Pädagogik allgemein in der bewußten Einwirkung auf die Veränderung des ganzen Menschen gesehen. Bildung wird in Abweichung vom traditionellen Begriff als Prozeß und Ergebnis der Aneignung von Kenntnissen, Überzeugungen, Fähigkeiten und Fertigkeiten, die für die angeblich „wissenschaftliche Weltanschauung“ unerläßlich sind, definiert; Bewußtseinsbildung). Das E. in der Bundesrepublik wird als eine von der Ideologie des Militarismus und Imperialismus durchdrungene Institution diffamiert, das öffentliche E. der SBZ dagegen als Ausdruck des gesellschaftlichen Fortschritts und eines echten Humanismus hingestellt. Wenn auch seine Ausrichtung auf die Interessen der Arbeiterklasse betont wird, wird doch gleichzeitig behauptet, daß es mit den Anforderungen des gesellschaftlichen Fortschritts den Interessen „aller Bürger“ gerecht werde (VI. Pädagogischer Kongreß).
Der Aufbau des öffentlichen E. erfolgte nach 1945 unter der Parole „der allseitigen Demokratisierung“, wobei vorgegeben wurde, in einer „demokratischen Schulreform“ die schulpolitischen Kampfziele der deutschen Arbeiterbewegung und der „fortschrittlichsten Pädagogen des Bürgertums“ zu verwirklichen. Mit dieser Begründung wurde die relative Autonomie des überlieferten E. radikal beseitigt und das Schul- und Hochschulwesen in ein Instrument der kommun. Führung verwandelt, das von ihr bewußt als Mittel der „revolutionären Umgestaltung“ gehandhabt wird. Sie orientiert sich dabei am sowjet. E. und an der Sowjetpädagogik.
Im Zusammenhang mit dem Aufbau der Grundlagen des „Sozialismus“ ist in den letzten Jahren, vor allem auf dem V. Parteitag der SED, der „Beginn einer neuen Etappe“, der Übergang von der „antifaschistisch-demokratischen“ zur „sozialistischen Schule“ bzw. Hochschule proklamiert und konstatiert worden.
Die „demokratische Schulreform“ begann mit der Zerschlagung der überlieferten Schulorganisation und mit deren Neugestaltung durch das „Gesetz zur Demokratisierung der deutschen Schule“ (Sommer 1946). Es schuf die Einheitsschule. Sie beseitigte den Parallelismus von Volksschule und höherer Schule und führte die radikale Trennung von Kirche und Schule durch, die später auch in der Verfassung der „DDR“ verankert wurde. Die Schaffung der einheitlichen „deutschen demokratischen Schute“ wird heute noch als Liquidierung des Bildungsprivilegs der alten besitzenden Klasse gefeiert.
Mit der traditionellen Schule wurden auch die Bedingungen der funktionalen Erziehung im Rahmen einer pluralistischen Gesellschaft zerstört. Das in der Stalin-Ära aufgebaute öffentliche E., dessen Kern die damals geschaffene kommun. Lernschule war, ist seit 1955 weitgehend reorgani[S. 131]siert worden. Die seitdem durchgeführten Maßnahmen erhielten ihre organisatorische Form in dem „Gesetz über die sozialistische Entwicklung des Schulwesens in der DDR“ (2. 12. 1959). An die Stelle der 8klassigen Grundschule tritt die 10klassige allgemeinbildende polytechnische Oberschule als Pflichtschule (Abschluß des Umbaus 1964). Sie hat zusammen mit den sonstigen Formen des Schul- und Hochschulwesens die Aufgabe, Erziehung und Bildung aufs engste mit dem „Leben“, vor allem mit der gesellschaftlichen Produktion zu verbinden. Am stärksten kommt das in der polytechnischen Bildung und Erziehung zur Geltung.
Die Polytechnisierung des E. und die Verlängerung der Vollschulpflicht werden vor allem mit dem Hinweis auf die gewachsenen Anforderungen von Wissenschaft und Technik motiviert. Daneben operiert die SED-Führung auch mit weniger pragmatischen Begründungen. Sie beruft sich auf den „humanistischen Grundsatz“ des Rechts auf eine höhere Bildung für alle und setzt das Ziel, dem Einzelnen durch ein höheres Bildungsniveau die bessere Teilnahme an der Gestaltung des gesellschaftlichen Lebens zu ermöglichen. Diese Erziehung zu einer manipulierten Identifizierung mit der bestehenden Machtordnung und zur Verinnerlichung der geforderten Arbeitstugenden durchdringt die gesamte pädagogische Ziellehre: die allgemeine Zielsetzung, die Ziele für die einzelnen Arten der Erziehung und Bildung, also für die intellektuelle, polytechnische, sittliche, ästhetische und körperliche Erziehung und Bildung. Insgesamt soll die Schule „Persönlichkeiten“ heranbilden, die befähigt sind, auf „sozialistische Art“ zu arbeiten, zu lernen und zu leben, und somit auch bereit sind, ihre individuellen Interessen den ausschließlich von der politischen Führung kontrollierten gesellschaftlichen Interessen — in bewußter Orientierung am Marxismus-Leninismus — zu unterwerfen. Oder: die Schule hat zusammen mit anderen Institutionen des E. die Aufgabe, „Kinder und Jugendliche auf das Leben in der sozialistischen Gesellschaft“ vorzubereiten.
Der Realisierung der politischen und pädagogischen Zielsetzung dient ein E., das dem Modell der kommun. Ordnung angepaßt ist. 1. Das E. ist total politisiert. Das Prinzip der Einheit von Erziehung und Politik zwingt alle Institutionen und Pädagogen zu strenger „Parteilichkeit“. 2. Die Arbeit der Schulen und Jugendverbände wird durch ein System von Plänen dirigiert und damit dem planrationellen Charakter der kommun. Ordnung angepaßt. Lernen ist Training in der Sollerfüllung. 3. Erziehung und Unterricht zielen auf die Erzeugung von Handlungsbereitschaften, die den Anforderungen einer industriellen Gesellschaft und der kommun. Herrschaftsordnung entsprechen. 4. Der Lehrstoff der Schulen, Hochschulen u. a. orientiert sich an der marxistisch-leninistischen Einheitswissenschaft. 5. Das E. richtet sich nicht auf den Einzelnen als Einzelnen, sondern als Mitglied einer Gruppe. 6. Das kommun. E. arbeitet trotzdem mit der Methode des Wettbewerbs. Gute Leistungen werden mit erhöhtem Prestige (z. B. Diplome, Medaillen) und materiellen Vorteilen (Stipendien, Karriere) belohnt. 7. Die Erfüllung der behördlichen Anordnungen wird durch ein doppeltes Kontrollsystem gesichert. Neben staatlichen Kontrollinstanzen stehen SED-Organisationen in Schulen, Hochschulen, Instituten und Behörden. Sie werden auf dem Sektor des E. von der Lehrergewerkschaft und der FDJ unterstützt. 8. Das öffentliche E., kontrolliert von der SED, entscheidet mehr und mehr über die zukünftige Position und die Möglichkeiten der Teilnahme am Konsum. 9. Wohl soll die Schulleistung bei der Auslese immer stärker bewertet werden, aber nur im Zusammenhang mit der geforderten politischen Loyalität und der Herkunft (bevorzugte Behandlung von Arbeiter- und Bauernkindern). 10. Erziehung und Bildung an allgemeinbildenden Schulen zielen nicht nur auf die zukünftige Rolle der Heranwachsenden als Partei- und Staatsbürger, sondern auch auf ihre zu[S. 132]künftige Berufstätigkeit in der industriellen Gesellschaft (besondere Betonung von Mathematik, Naturwissenschaften und Technik). Der Unterschied zwischen der „sozialistischen“ Schule und der Schule der Stalin-Ära besteht nicht nur in der Einführung der polytechnischen Erziehung und Bildung und der Verbindung der Schule mit industriellen und landwirtschaftlichen Betrieben, sondern auch in der Distanzierung von dem Paukbetrieb der „demokratischen“ Schule. Die sowjetzonale Pädagogik ist heute im Einklang mit der sowjet. bemüht, effektivere — „aktive“ — Methoden der Mobilisierung der Schüler im Rahmen ihrer strengen Bindung einzuführen. Das neue Schulgesetz verpflichtet die Lehrer auf die Berücksichtigung der „Aktivität und Selbständigkeit“ der Schüler. Der Intensivierung der Erziehung dient auch die für eine nahe Zukunft projektierte Entwicklung von Ganztagsschulen durch Ausbau der Schulhorte.
Die Schule ist nur das Zentrum eines Systems paralleler pädagogischer Einwirkungen auf Kinder und Jugendliche. Zu ihm gehören neben den Jugendorganisationen der außerschulische Unterricht, die Verbindung von Schule und Betrieb, die Ferienlager und -aktionen und die staatlich dirigierte Jugendliteratur. Auch die Gesellschaft für ➝Sport und Technik gehört teilweise in diesen Zusammenhang.
Die behördlich gelenkten außerschulischen Arbeitsgemeinschaften haben die Aufgabe, Fähigkeiten, Talente und Interessen, die für die „sozialistische Gesellschaft“ wichtig sind, zu fördern. Zur Unterstützung dieser Arbeitsgemeinschaften sind Stationen für junge Techniker, Naturforscher und Touristen geschaffen worden. Die Beschäftigung der Arbeitsgemeinschaften mit Maschinenbau, Landmaschinen-, Kraftfahrzeug-, Elektro-, Radio- und Fernmeldetechnik, Flugzeug- und Schiffsmodellbau, Tierhaltung und dergleichen wird begünstigt. In den Pioniergruppen dazu Basteln, Fotografieren, Touristik und Heimatkunde. Die neuen Anforderungen, die die beruflichen Rollen, aber auch die politischen in einem kommun. totalitären Staat stellen, haben die SBZ zur Entwicklung einer umfassenden Erwachsenenbildung genötigt.
Es ist nicht zu bestreiten, daß die SBZ relativ hohe Mittel für die öffentliche Erziehung aufwendet. Das ist die Konsequenz der „gesellschaftlichen Umwälzung“; sie nötigt die kommun. Führung, die Erziehung als ein Mittel zur Erhaltung und Befestigung der totalitären Machtordnung und der Entwicklung der planrationalen Wirtschaft und Gesellschaft einzusetzen und die Traditionen des E. zu liquidieren bzw. zu manipulieren. (Berufsschulen, Fachschulen, Erziehungswissenschaft)[S. 595]
Nachtrag
Der VI. Parteitag kündigte eine Reihe von bemerkenswerten Änderungen des Schulwesens an. Sie werden von einer inzwischen gebildeten staatlichen Kommission beim Ministerrat in den Einzelheiten ausgearbeitet. Die Direktiven des Parteitags zielen auf eine verstärkte Vereinheitlichung des sowjetzonalen Bildungssystems vom Kindergarten bis zur Hochschule und zur Erwachsenenbildung. Sie soll den Übergang von einer Bildungsstufe und -einrichtung zur anderen durch ihre inhaltliche Abstimmung aufeinander erleichtern und einen kontinuierlichen Bildungs- und Erziehungsprozeß sichern. Dabei sind folgende Neuerungen vorgesehen:
1. Die noch nicht schulpflichtigen Kinder sind in Kindergärten, an Lern- und Spielnachmittagen und in anderen Formen zielstrebig auf die Schule vorzubereiten.
2. Der Fachunterricht in Mathematik, Naturwissenschaften, Deutsch und Russisch soll nicht erst in der 5. Klasse, sondern nach Schaffung der Voraussetzungen früher beginnen.
3. Der Bildungsinhalt der allgemeinbildenden polytechnischen Oberschule soll neu bestimmt werden.
4. Die allgemeine und polytechnische Bildung ist in der zehnklassigen Oberschule eng mit der beruflichen Ausbildung zu verzahnen.
a) In der 7. und 8. Klasse erwerben die Schüler technische, technologische und ökonomische Kenntnisse in einem polytechnischem Unterricht, der eng mit produktiver Arbeit in Lehrwerkstätten und Lehrabteilungen der Industrie und Landwirtschaft verbunden ist.
b) In der 9. und 10. Klasse setzt die berufliche Grundausbildung für mehrere artverwandte Berufe ein. Nach der Schulentlassung wird die Berufsausbildung in spezieller Richtung zu Ende geführt. Der in den 7. und 8. Klassen durchgeführte Unterricht in mechanischer Technologie und Betriebs- und Arbeitsökonomie führt in der 9. und 10. Klasse mit der Grundausbildung auch zur Ausbildung in Maschinenkunde, Grundlagen der Automatisierung und Elektrotechnik mit technischer Elektronik. An den Landschulen wird die allgemeintechnische und ökonomische Ausbildung auf Erfordernisse der Landwirtschaft ausgerichtet.
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5. An den erweiterten Oberschulen (9. bis 12. Klassen) wird künftig mit dem Abitur zugleich die Ausbildung in einem Beruf erworben.
6. Die Oberschulbildung soll von der 8. Klasse an entsprechend den Erfordernissen des jeweiligen Zweiges der Volkswirtschaft, mit dem die betreffende Schule verbunden ist, weiter differenziert werden. So wird z. B. projektiert, daß die mit Chemiebetrieben verbundenen Schulen den Chemie- und Physikunterricht über die Grundanforderungen hinaus erweitern. Dabei erhalten die entsprechenden Schulen ausdrücklich den Auftrag, solchen Betrieben einen qualifizierten Nachwuchs zu sichern.
7. In radikalem Bruch mit der bisherigen Praxis wird eine erhöhte Aufmerksamkeit für die besondere Förderung der Begabten gefordert.
8. Die 1956 vorübergehend vorgenommene Senkung der Anforderungen an das Bildungsniveau wird nachträglich als Auswirkung des Revisionismus diskreditiert und der seit dem V. Parteitag eingeschlagene Kurs auf „höhere Anforderungen an die Wissenschaftlichkeit der Ausbildung“ bewußt bejaht und verstärkt.
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Literaturangaben
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- Dübel, Siegfried: Die Situation der Jugend im kommunistischen Herrschaftssystem der sowjetischen Besatzungszone Deutschlands. 2., erw. Aufl. (BB) 1960. 115 S.
- Jeremias, U.: Die Jugendweihe in der Sowjetzone. 2., erg. Aufl. (BMG) 1958. 120 S.
- Lange, Max Gustav: Totalitäre Erziehung — Das Erziehungssystem der Sowjetzone Deutschlands. Mit einer Einl. v. A. R. L. Gurland (Schr. d. Inst. f. pol. Wissenschaft, Berlin, Bd. 3). Frankfurt a. M. 1954, Verlag Frankfurter Hefte. 432 S.
- Lücke, Peter R.: Das Schulbuch in der Sowjetzone — Lehrbücher im Dienst totalitärer Propaganda. (BMG) 1961. 110 S.
- Mieskes, Hans: Pädagogik des Fortschritts? — Das System der sowjetzonalen Pädagogik. München 1960, Juventa-Verlag. 312 S.
- Möbus, Gerhard: Klassenkampf im Kindergarten — Das Kindesalter in der Sicht der kommunistischen Pädagogik. Berlin 1956, Morus-Verlag. 110 S.
- Möbus, Gerhard: Erziehung zum Haß — Schule und Unterricht im sowjetisch besetzten Deutschland. Berlin 1956, Morus-Verlag. 111 S.
- Möbus, Gerhard: Kommunistische Jugendarbeit — zur Psychologie und Pädagogik der kommunistischen Erziehung im sowjetisch besetzten Deutschland. Berlin 1957, Morus-Verlag. 124 S.
- Möbus, Gerhard: Psychagogie und Pädagogik des Kommunismus. Köln 1959, Westdeutscher Verlag. 184 S.
- Säuberlich, Erwin: Vom Humanismus zum demokratischen Patriotismus. — Schule und Jugenderziehung in der sowjetischen Besatzungszone (Rote Weißbücher 13). Köln 1954, Kiepenheuer und Witsch. 170 S.
Fundstelle: SBZ von A bis Z. Achte, überarbeitete und erweiterte Auflage, Bonn 1963: S. 130–132
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