
Flüchtlinge (1963)
Siehe auch die Jahre 1953 1954 1956 1958 1959 1960 1962 1965 1966 1969 1975 1979 1985
a) Ostvertriebene. Im Pj. werden Vertriebene aus den deutschen Gebieten östlich der Oder-Neiße-Linie und aus den osteuropäischen Ländern als Umsiedler oder Neubürger (in der Bundesrepublik als Vertriebene) bezeichnet. Die Umsiedlerämter hatten nach offiziellen Angaben am 31. 3. 1949 insgesamt 4.442.318 — davon 1.874.736 männliche und 2.567.582 weibliche Vertriebene erfaßt. Die von 1945 bis 1949 in das Gebiet der späteren BRD abgewanderten rund 500.000 bis 600.000 Personen sind nicht mitgezählt. Der Anteil der Vertriebenen an der Bevölkerung betrug 1950 = 25 v. H. (Vergleich: BRD am 1. 4. 1950 = 7,7 Mill. Vertriebene, d. h. 16,1 v. H.). Für die SBZ liegen trotz der in den Jahren 1950–1960 erfolgten Zugänge von über 100.000 Aussiedlern aus Polen und den übrigen osteuropäischen Gebieten keine neuen Angaben über den Anteil der Umsiedler an der Bevölkerung vor. Dagegen stieg in der BRD der Anteil der Vertriebenen (ihr Anteil an den Antragstellern im Notaufnahmeverfahren schwankte während der Jahre 1952 bis 1960 zwischen 22,8 und 24,4 v. H.) bis zum 31. 12. 1960 auf 9,697 Mill. = 18,4 v. H. der Bevölkerung.
Über die Verteilung der Vertriebenen auf die Bezirke sowie ihre berufliche Eingliederung existieren keinerlei amtliche Veröffentlichungen. Rückschlüsse aus der für „Umsiedler“ unter den Neubauern [S. 147]im Jahre 1951 zur Verfügung gestellten Kreditsumme von 25 Mill. DMark Ost (je Stelle bis zu 5.000 DM Ost Kredit) lassen die Annahme zu, daß mindestens 50.000 Neubauernstellen an Vertriebenenfamilien vergeben worden sind.
Den Vertriebenen ist jeder Zusammenschluß und jede Betätigung mit dem Ziel der Rückkehr in die Heimat verboten. Sie gehören im allgemeinen zu den schärfsten Gegnern des SED-Regimes.
b) Sowjetzonenflüchtlinge. Seit 1946/47 haben Hunderttausende Deutsche, meist unter Zurücklassung ihrer Habe, in der BRD sowie in West-Berlin Zuflucht gesucht. Solchen F. wurde seit 1947 nach den zwischen Beauftragten der westdeutschen Länder abgeschlossenen „Segeberger Beschlüssen“ (1947) und den „Uelzener Vereinbarungen“ (1949) das Asylrecht der BRD gewährt. Die Aufenthaltserlaubnis wurde an F. erteilt, die wegen ihrer politischen Einstellung verfolgt wurden (A-Fälle), und solche, denen aus Gründen der Menschlichkeit Asylrecht zuerkannt wurde (B-Fälle). Seit dem Inkrafttreten des Bundesnotaufnahmegesetzes vom 22. 8. 1950 wurde denjenigen F., die die SBZ „wegen einer drohenden Gefahr für Leib und Leben oder die persönliche Freiheit oder aus sonstigen zwingenden Gründen“ verlassen mußten, die Aufenthaltserlaubnis erteilt. Nach dem Bundesvertriebenengesetz vom 19. 5. 1953 gilt als „Sowjetzonen-F. “: „ein deutscher Staatsangehöriger, der seinen Wohnsitz in der sowjetischen Besatzungszone oder im sowjetisch besetzten Sektor von Berlin hat oder gehabt hat, von dort flüchten mußte, um sich einer von ihm nicht zu vertretenden und durch die politischen Verhältnisse bedingten besonderen Zwangslage zu entziehen, und dort nicht durch sein Verhalten gegen die Grundsätze der Menschlichkeit oder Rechtsstaatlichkeit verstoßen hat.“ über die Gesamtzahl der zugewanderten F. liegen keine vollständigen Unterlagen vor, da eine systematische Erfassung erst 1949 einsetzte. Der weitaus größte Teil der Zuwanderer, denen das Asylrecht oder die Notaufnahme verweigert wurde, blieb im Bundesgebiet. Eine Erfassung dieser Personen war nicht möglich. Daneben sind in großer Zahl Menschen nach Westdeutschland und nach West-Berlin eingeströmt, ohne die amtlichen Flüchtlingsstellen zu passieren (u. a. kamen bis zum Jahre 1953 rd. 930.000 Personen auf Grund von Zuzugsgenehmigungen der einzelnen Bundesländer, die nur z. T. später im Notaufnahmeverfahren erfaßt wurden).
Für die Zeit von 1945 bis Ende 1951 wird die Zahl der Zuwanderer aller dieser Gruppen mit 931.000 Personen angenommen. Von diesen wurden in der Zeit von 1949 bis 1951 allein 492.681 Personen von den amtlichen Flüchtlingsstellen erfaßt. Seit 1952 (ab 4. 2. 1952 trat auch in West-Berlin das Bundesnotaufnahmegesetz in Kraft) meldeten sich jeweils innerhalb des ersten halben Jahres nach ihrer Zuwanderung bei den Notaufnahmedienststellen Berlin, Gießen und Uelzen:
Zwischen 1949 und Ende Dezember 1961 sind durch die Bundesnotaufnahmebehörden insgesamt 2.759.922 F. erfaßt worden. Der F.-Strom war in den einzelnen Jahren Schwankungen unterworfen. Je stärker der politische Druck auf der Bevölkerung lastete, desto höher waren die Fluchtzahlen. Das Jahr 1953 mit einer Spitze von über 331.000 F. erinnert an Säuberungsaktionen innerhalb der Satellitenparteien, einen verschärften Kollektivierungszwang in allen Wirtschaftsbereichen und zwangsweise Normerhöhungen. Der Juni-Aufstand war der Höhepunkt des Jahres. Die hohen monatlichen Fluchtziffern (58.605 im März und 40.381 im Juni) sind nur im August 1961 (47.433) wieder erreicht worden. Der nach dem Juni-Aufstand von der Regierung verkündete Neue Kurs brachte für die zweite Hälfte des Jahres und für 1954 einen vorübergehenden Rückgang. Auch die Berliner Außenministerkonferenz im Februar 1954 ließ zunächst auf eine Konsolidierung der politischen Lage hoffen. Infolge eines verschärften Kampfes der SED gegen die Kirche, Forcierung der Jugendweihe und Zwangswerbungen für die Volkspolizei nahm 1955 der F.-Strom wieder von Monat zu Monat zu. Anhaltende Versorgungskrisen, die Unterzeichnung des Warschauer Paktes und die Erklärung Molotows [S. 149]in Genf, wonach eine Wiedervereinigung nur durch die Bolschewisierung ganz Deutschlands möglich sein soll, trieb die Fluchtziffer des Jahres 1955 schließlich wieder auf eine Höhe von mehr als 250.000.
Das Jahr 1956 brachte eine verschärfte Terrorjustiz. Der mißglückte Arbeiteraufstand in Polen und die Niederschlagung des Volksaufstandes in Ungarn ließen die Fluchtziffer auf über 279.000 ansteigen. Der im ersten Halbjahr 1957 leicht zurückgegangene F.-Strom stieg bis Ende des Jahres wieder an. Der „Geldumtausch“ vom 13. Oktober, die Änderung des Paßgesetzes und Maßnahmen gegen den Interzonenverkehr bewirkten gegenüber dem Vorjahr nur einen geringen Rückgang der Zahl der F. auf 261.000. Eine 1958 beginnende SED-Parteisäuberung sowie die Abschaffung der Lebensmittelkarten und Polizeimaßnahmen gegen die Republikflucht hatten in diesem Jahr ein Absinken auf 204.000 zur Folge. Die bemerkenswerte Reiselust Chruschtschows im Jahr 1959 (Besuch der SBZ und Reise nach den USA) machte der Bevölkerung Hoffnung auf Entspannung. Die Fluchtziffer ging auf knapp 144.000 zurück. Eine gewisse „Milde“ des SED-Regimes im Jahr 1959 brachte jedoch ebenso wie bereits 1954 keine echte „Kursänderung“.
Mit der im Frühjahr 1960 einsetzenden Zwangskollektivierung der Landwirtschaft, die Ende April abgeschlossen war, durch die Zuspitzung der „Berlinkrise“ und abermalige verstärkte Sozialisierungsmaßnahmen in Industrie, Handwerk und Handel stieg die Zahl der F. wieder auf knapp 200.000 an. Ein im Jahr 1961 einsetzender Druck auf die Arbeiter (Gesetzbuch der Arbeit), Terroraktionen gegen die Grenzgänger in Berlin sowie die aggressive Haltung Ulbrichts und Chruschtschows in der „Berlin-Frage“, ließen ab Mai 1961 die Fluchtziffern wieder sprunghaft ansteigen. Trotz vorheriger gegenteiliger Erklärungen errichtete am 13. August Ulbricht seine Mauer mitten durch Berlin. Von Anfang des Jahres bis zum 13. August sind durch die Bundesnotaufnahmebehörden 155.400 und bis Ende 1961 über 207.000 Sowjetzonenflüchtlinge erfaßt worden. Auch der Interzonenreiseverkehr wurde wieder erbarmungslos abgedrosselt. Bei der Masse der F., die ab 14. August 1961 um Notaufnahme baten, handelte es sich um Personen, die unmittelbar vor der Unterbindung der garantierten Verkehrswege angekommen waren, oder um Bewohner des sowjetischen Besatzungsgebietes, die in der BRD oder in Berlin (West) von den Sperrmaßnahmen überrascht wurden. Sie verzichteten auf eine Rückkehr in ihre zu einem Konzentrationslager gewordene Heimat. Seitdem gelingt nur noch wenigen, unter Einsatz ihres Lebens, die Flucht.
Da die Fluchtbewegung aus der Zone für das Regime mit einem erheblichen Verlust an ausgebildeten Arbeitskräften verbunden war, sprach Ulbricht von einem illegalen „Kapitaltransfer“. Die volkswirtschaftlichen Verluste bezifferte er auf mindestens 30 Mrd. DM Ost. Das Bundesvertriebenengesetz stellt die „anerkannten“ Sowjetzonenflüchtlinge bei allgemeinen Hilfemaßnahmen den F. aus den deutschen Ostgebieten („Vertriebenen“) gleich. Der Entscheid der Notaufnahmedienststellen über die Aufenthaltserlaubnis wegen „Zwangslage“ gilt aber noch nicht als Entscheid über die Zuerkennung der Eigenschaft als „Sowjetzonen-Flüchtling“. Hierüber und damit über die Erteilung des „Flüchtlingsausweises C“ entscheiden die F.-Behörden der Länder. Zwischen 1954 und dem 31. 12. 1961 wurden 490.596 C-Ausweise für 666.818 Personen (einschl. der darin eingetragenen Kinder bis zu 16 Jahren) ausgestellt. Unter den F. befinden sich im Durchschnitt mehr als 60 v. H. im Erwerbsleben stehende Personen. Auch ein beachtlicher Teil der Intelligenz kehrte dem „Ulbricht-Staat“ den Rücken. Zwischen 1954 und September 1961 waren unter den F. 24.100 Selbständige aus land- und forstwirtschaftlichen Berufen. Den Anteil der Berufe an den Flüchtlingszahlen zeigt die Tabelle auf Seite 150.
Der Strom der F. war und ist ein Beweis dafür, daß die überwiegende Mehrheit der Deutschen in der SBZ die dort herrschende staatskapitalistische Mißordnung ablehnt. Millionen wurden so sehr bedrückt, daß sie ihre Heimat und ihre Existenz Preisgaben. Die Flut der F. war und ist eine Abstimmung mit den Füßen gegen den Kommunismus.
Literaturangaben
- Seraphim, Peter Heinz: Das Vertriebenenproblem in der Sowjetzone. Berlin 1953, Duncker und Humblot. 202 S.
- Seraphim, Peter Heinz: Die Heimatvertriebenen in der sowjetischen Besatzungszone. (BB) 1955. 40 S. m. 2 mehrfarb. Karten.
- Die Flucht aus der Sowjetzone und die Sperrmaßnahmen des kommunistischen Regimes vom 13. 8. 1961 in Berlin. (BMG) 1961. 159 S. m. zahlr. Abb. u. Dok.
Fundstelle: SBZ von A bis Z. Achte, überarbeitete und erweiterte Auflage, Bonn 1963: S. 146–149
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