
Kirchenpolitik (1963)
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Die Lage der Kirchen wird entscheidend mitbestimmt durch die kirchenpolitische Entwicklung von 40 Jahren in der SU und durch die unterschiedliche Religionspolitik in den Satellitenländern. In den ersten Etappen der rücksichtslosen Kirchenverfolgung von 1917–1939 trat der Bolschewis[S. 239]mus als Antikirche mit dem Ausschließlichkeitsanspruch des Dialektischen Materialismus auf. Gottlosigkeit wurde aus Grundsatz gefordert. Auslöschung der Kirche war das Ziel. Es kam zwischen 1925 (Gründung des Bundes der Gottlosen) und 1932 zu Massenaustritten. Aber die orthodoxe Kirche überlebte und blieb. Während des Krieges schließlich wurde die Kirche „anerkannt“ und gleichgeschaltet.
In der SBZ war die Ausgangssituation eine wesentlich andere. Die Kirchen in Deutschland hatten schon während des „Dritten Reiches“ unter einer christentumsfeindlichen Diktatur leiden müssen. Die SED-Regierung hoffte, ohne Verzicht auf gelegentliche Schockaktionen, das Kirchenvolk langsam der Kirche entfremden zu können. Erfahrungen in nationalkirchlichen und Spaltungsexperimenten wurden mit Prag und Warschau ausgetauscht. Immer wenn eine Verschärfung des politischen Kurses in der Zone vorbereitet wurde, ging eine osteuropäische Konferenz „fortschrittlicher Christen“ oder eine „Friedenstagung“ mit christlichen Sprechern voraus. Chruschtschows Mahnung vom 1. 11. 1954, die Gefühle der Gläubigen zu schonen, die Dilettanten auszuschalten und nur noch einen ideologischen Kampf gegen die „unwissenschaftliche religiöse Weltanschauung“ zu führen, brachte für die Zone keine Erleichterung; vielmehr ging der Hauptkampf in Schulen, Parteischulen, Presse und Rundfunk weiter. Beide Kirchen stehen unter starkem und unablässigem Druck des kommun. Regimes; ihre Probleme sind die gleichen. Planmäßig wird versucht, die unabhängige Existenz der Kirchen auszuschalten. Wohlfahrts-, soziale und medizinische Einrichtungen werden stark beschränkt oder völlig unterdrückt. Staatliche Zuwendungen werden gekürzt oder gestrichen. Besitz wird enteignet.
Seit 1952 richtet sich der Angriff nicht nur gegen die Kirche, den Gottesdienst und die sakramentalen Riten, sondern besonders gegen die Geistlichkeit. Die Anschuldigungen konzentrieren sich auf angebliche Vergehen gegen strafgesetzliche Bestimmungen der „DDR“ mit dem Ziel, die Gemeindemitglieder von einer engeren Verbindung mit der Geistlichkeit abzuhalten und ein Gefühl der Gefährdung unter der Jugend zu schaffen. Die Gesellschaft zur Verbreitung wissenschaftlicher Kenntnisse übernahm von der fast gleichnamigen sowjet. Organisation Kampfschriften von niedrigem Niveau (z. B. Pawjolkin, „Der religiöse Aberglaube und seine Schädlichkeit“), die in großen Auflagen verbreitet wurden. Vortragszyklen an Hand des Buches „Weltall, Erde, Mensch“ wurden mit der Tendenz der Verächtlichmachung des Glaubens zur Vorbereitung der Jugendweihe veranstaltet. Auch die Volkshochschule wurde in diese „populärwissenschaftlichen“ Aufklärungsaktionen einbezogen bei Verminderung der Anzahl der christlichen Dozenten. Der wachsende Widerstand gegen die Jugendweihe wurde mit öffentlicher Beschimpfung der Pfarrer und mit Gesinnungsterror gegenüber den Eltern beantwortet.
Die scharfen Maßnahmen gegen kirchliche Jugendorganisationen (Junge Gemeinde) und die am 15. 2. 1956 verfügte Behinderung des Religionsunterrichts an den Schulen Ost-Berlins (Verbot des Religionsunterrichts an den Oberschulen) zeigten erneut, wo die Hauptangriffe gegen die Kirchen geführt werden.
Im Frühjahr 1958 setzten Massenpropaganda und erstmalig offene Nötigung ein. Eine Anordnung des Volksbildungsministeriums vom 12. 2. 1958 verlangte Maßnahmen zur Aufklärung der Eltern über „die Schädlichkeit der Überbeanspruchung der Kinder durch die Christenlehre“. Weitere Beispiele für die mit verschiedenen Mitteln durchgeführte Absicht, der Kirchenarbeit den Boden zu entziehen, sind: Die Schließung der ev. Bahnhofsmissionen und die Verhaftung zahlreicher Helfer dieser Missionen unter der Anschuldigung der Sabotage und Republikfluchtbegünstigung, die Kürzung der staatlichen Zuschüsse an die Kirchen, die Beschränkung der kirchlichen karitativen Tätigkeit „auf den kirchlichen Raum“, die Verächtlichmachung führender Geistlicher in der Öffentlichkeit, die Verweigerung jeden Kirchenbaues im neuen Industriegebiet Schwarze Pumpe, in Eisenhüttenstadt usw., Schließung kirchlicher Kinderheime, Verspottung des Weihnachtsfestes („Eulenspiegel“ Nr. 52.157), die Einschränkung der Sammelerlaubnis und die Einführung von Ersatzriten für Taufe, Trauung und Begräbnis. Der Pressekampf gegen die Synode Ende April 1958, Störtrupps im Stoeckerstift und Einreiseverbot für kathol. und ev. Bischöfe leiteten neue Großoffensive ein. Vorwand u. a. der Militärseelsorgevertrag. („Neue Zeit“ v. 22. 4. 1958: „Unterstützung des Militärseelsorgevertrages ist Staatsverbrechen.“) Die Kampfmilderung nach dem Juni-Aufstand ist vergessen.
Nach langwierigen Verhandlungen zwischen Vertretern des Staates und der Ev. Kirche am 21. 7. 1958 gaben beide Seiten zu erkennen, daß klärende Aussprachen über die Beseitigung etwaiger Mißstände durchgeführt werden sollen. Trotzdem äußerte der Rat der EKD be[S. 240]reits im Oktober 1958 ernste Sorge über die Behinderung des kirchlichen Lebens, insbesondere auf dem Gebiet der Jugenderziehung. Nachdem Grotewohl am 23. 3. 1959 in einer Rede vor Kulturschaffenden die atheistische Denkweise von Staats wegen proklamiert hatte, wandte sich Bischof Dibelius in einem Offenen Brief am 20. 4. 1957 an ihn und führte Beschwerde über die Anwendung staatlicher Machtmittel gegen die Glaubens- und Gewissensfreiheit. Am 2. 5. 1959 erließ die ev. Kirchenleitung Berlin-Brandenburg eine Notverordnung für den Fall, daß „die bestehende Einheit der Berlin-Brandenburgischen Kirche durch die politische Entwicklung unterbunden“ werden sollte. Im Juli 1960 legte Bischof Dibelius den Vorsitz in der kirchlichen Ostkonferenz nieder, der alle Bischöfe der in der SBZ liegenden Teile der Landeskirche angehören.
Am 17. 9. 1960 wurde dem Päpstlichen Nuntius für Deutschland, Erzbischof Dr. Bafile, das Betreten des Sowjetsektors von Berlin verwehrt. Als Begründung wurde angegeben: „Da gegenwärtig noch keine Vereinbarungen zwischen dem Vatikan und der Regierung der DDR bestehen, ist es nicht möglich, daß ausgerechnet ein Vertreter des Vatikans bei der Bonner Kriegsregierung in der Hauptstadt der DDR auftritt“ („Neues Deutschland“ vom 20. 9. 1960).
Am 4. 10. 1960 gab Ulbricht in seiner Eigenschaft als Vorsitzender des Staatsrats eine programmatische Erklärung ab, in der es hieß: „Die Angehörigen der Evangelischen Kirche, der Katholischen Kirche sowie der Jüdischen Gemeinde haben in unserer DDR die Möglichkeit, in der Kirche bzw. Synagoge ihre religiösen Anliegen zu pflegen.“ Damit wurde die Religionsfreiheit auf Kultfreiheit begrenzt. Wenig später, am 6. 2. 1961, erklärte „Radio DDR“ in einem Kommentar: „Die DDR betrachtet die in der DDR beheimateten Gliedkirchen der EKD als aus der EKD ausgeklammert“ und ließ damit deutlich die Absicht des Regimes erkennen, die EKD zu spalten.
Die K. des SBZ-Regimes gipfelte in dem am 8. 7. 1961 durch den Polizeipräsidenten des Sowjetsektors „im Interesse der Gewährung von Ruhe und Ordnung und zur Sicherung des Friedens“ ausgesprochenen Verbot des Deutschen Evangelischen Kirchentages für den Bereich von Ost-Berlin und (seit dem 13. 8. 1961) in der Behinderung der leitenden Kirchenmänner beider Konfessionen, ihre Dienstpflichten auf der anderen Seite der Demarkationslinie auszuüben.
Weder Bischof Dibelius noch der zum Verweser des Bischofsamtes in Ost-Berlin bestellte und danach auf heimtückische Art ausgewiesene Präses D. Scharf können ihr Amt in der SBZ ausüben. Anträge auf Wiederzulassung von Präses Scharf wurden abgelehnt. Der Versuch, auf der Synode der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg im Dez. 1961 Präses Dr. Scharf zum Bischof zu wählen und damit die Personalunion zwischen dem Ratsvorsitzenden und dem Berliner Bischof wiederherzustellen, scheiterte, da von den getrennt tagenden Regionalsynoden die östliche nicht die erforderliche Stimmenmehrheit für Scharf abgab.
Die regionale Kirchenleitung Ost der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg wählte auf ihrer Synode im Febr. 1963 den Cottbusser Generalsuperintendenten Jacob zum amtierenden Verwalter des Bischofsamtes für die Ost-Berliner und Brandenburgischen Gemeinden. Dadurch hat die SED ihre Absicht, jeglichen Einfluß aus Berlin (West) auf die EKD auszuschalten, vorerst erreicht. Den in der SBZ wohnenden Mitgliedern der Synode der Evgl. Kirche in Deutschland wurde im März 1963 erstmals seit 14 Jahren die Teilnahme an der in Bethel tagenden Synode nicht ermöglicht. Andererseits hat das in der Präambel zur neuen Geschäftsordnung der Kirchenleitungen in der SBZ enthaltene Bekenntnis der acht mitteldeutschen Landeskirchen, daß „die evangelischen Kirchen in der DDR zu der evangelischen Kirche in Deutschland gehören“, seinen Eindruck auf die Zonenfunktionäre nicht verfehlt. Zumindest ist festzustellen, daß das Regime in der Frage der Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen eine weniger rücksichtslose Stellung als bisher einzunehmen bereit scheint.
Die katholische Soziallehre wurde nach der Veröffentlichung der Enzyklika „Mater et Magistra“ wiederholt heftig angegriffen. Dem neuen in Ost-Berlin residierenden katholischen Oberhirten, Erzbischof Dr. Bengsch, wird zur Zeit noch gestattet, in beiden Teilen der Stadt seinen Dienstpflichten nachzukommen. Doch durften weder er noch die sechs anderen bischöflichen Würdenträger seit Herbst 1961 an der Fuldaer Bischofskonferenz teilnehmen.
1961 errichtete das Moskauer Patriarchat der Russisch-Orthodoxen Kirche ein Exarchat für Mitteleuropa mit dem Sitz in Ost-Berlin und berief Erzbischof Joann Wendland von Podolsk auf den Exarchenstuhl. Sein Nachfolger wurde am 1. 11. 1962 Erzbischof Sergius Ladrin von Perm und Solikamski. Sein Titel lautet „Exarch von Berlin und Mitteleuropa“. Bei seinem Amtsantritt betonte Erzbischof Sergius gegenüber dem Staatssekretär für [S. 241]Kirchenfragen, Seigewasser, die „grundsätzliche Übereinstimmung mit den humanistischen Zielen der DDR“.[S. 596]
Nachtrag
Im Juni 1963 veröffentlichten die 8 ev. Landeskirchen „Zehn Artikel über Freiheit und Dienst der Kirche“, in denen die durch die Gebote Gottes und durch das Gewissen des Christen gezogenen Grenzen der Loyalität gegenüber dem totalitären Weltanschauungsstaat deutlich gemacht werden. Gleichzeitig erließen die katholischen Bischöfe u. bischöfl. Kommissare einen Hirtenbrief, in dem sie die von den Kommunisten und ihren Helfern in der Ost-CDU und in „Christlichen Arbeitskreisen“ unternommenen Versuche zur Mißdeutung der Enzyklika „Pacem in terris“ im Sinne einer ideologischen Annäherung an die Thesen der kommun. „Weltfriedensbewegung“ zurückwiesen.
[S. 241]
Literaturangaben
- Adolph, Walter: Atheismus am Steuer. Berlin 1956, Morus-Verlag. 103 S.
- Koch, Hans-Gerhard: Die Abschaffung Gottes — der materialistische Atheismus … Stuttgart 1961, Quell-Verlag. 291 S.
- Shuster, George N.: Religion hinter dem Eisernen Vorhang (übers. a. d. Amerik.). Würzburg 1954, Marienburg Verlag. 288 S.
- Jeremias, U.: Die Jugendweihe in der Sowjetzone. 2., erg. Aufl. (BMG) 1958. 120 S.
Fundstelle: SBZ von A bis Z. Achte, überarbeitete und erweiterte Auflage, Bonn 1963: S. 238–241
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