DDR von A-Z, Band 1963

Sprache (1963)

 

 

Siehe auch die Jahre 1960 1962 1965 1966 1969 1975 1979 1985


 

Unter dem Einfluß des Parteijargons verändert sich die Schrift- und Umgangssprache der SBZ in einer Weise, die hüben wie drüben von vielen Menschen als Symptom des Auseinanderlebens und der Entfremdung empfunden wird. Entwicklungstendenzen der S., die allgemein mit der Technisierung des Lebens und den Fortschritten auf dem Gebiet der Kommunikationsmittel (zumal der mechanischen Vervielfältigung und Verbreitung von Wort und Ton) Hand in Hand gehen, werden im totalitären Herrschaftsbereich durch den hemmungslosen Sprachverschleiß in der politischen Agitation und Propaganda verstärkt und beschleunigt. Das Weltanschauungs-Monopol des Marxismus-Leninismus und dessen behauptete Wissenschaftlichkeit, die Ansprüche der Zentralverwaltungswirtschaft (Produktionssteigerung, Plandisziplin, Erreichung des„Weltniveaus“), der militante Stil des Klassen- und „Friedens“-Kampfes, die bewußte Anlehnung an die SU - all das durchsetzt auf dem Wege über Presse, Fachliteratur, Rundfunk, Schule, Schulung und Kulturelle Massenarbeit, ja, selbst über Literatur, Theater, Kabarett das öffentliche und private Leben mit Elementen der (pseudo-)philosophischen, politökonomischen, militärischen Fachsprache.

 

Der Glaube an die Machbarkeit aller Dinge bestimmt (wie beim Nationalsozialismus) den Habitus des gesprochenen und geschriebenen Wortes; der ideologische Bruch der Doktrin („der Überbau hilft der Basis“, Marxismus-Leninismus) nötigt zu sprachlichen Camouflagen (typisches, immer wiederkehrendes Beispiel: „breit entfalten“ für „aufziehen“, organisieren); der arglistigen Täuschung politisch Unerfahrener oder Schwankender dienen die Sinnverschiebungen bei Schlüsselbegriffen wie Demokratie, Freiheit, Frieden, Gesetzlichkeit (Rechtswesen), Mitbestimmung, Sozialismus, Wahlen usw.; der Kampf gegen den „Klassenfeind“, vor allem aber die Auseinandersetzung mit den ideologischen Abweichungen haben Arsenale von Schimpf- und Schmähwörtern entstehen lassen, die für den Nichtkommunisten [S. 451]vielfach unverständlich sind (Objektivist, Praktizist, Versöhnler u. a.); Journalisten, Partei- und Gewerkschaftsfunktionäre, aber auch Lehrer passen sich unter dem Zwang, den ideologischen Weisungen und Losungen der SED prompt zu folgen, oft auch unfähig zu selbständigem Denken und eigenem Ausdruck (oder deren Gefahren meidend) der S. der jeweils maßgebenden Parteigrößen an, und Nichtkommunisten folgen ihnen darin, entweder um sich zu tarnen, oder um das „Partei-Chinesisch“, nur dem Ohr von Gleichgesinnten vernehmbar, ad absurdum zu führen.

 

Nachdem in der Tagespublizistik der BRD häufig die Gefahr einer Sprachspaltung an die Wand gemalt wurde, hat die Wissenschaft erfreulicherweise begonnen, die Sonderentwicklung der S. in der SBZ zu untersuchen und fundierte Erkenntnisse über sie vorzulegen. Die Verluderung der S. (als gesamtdeutsches und als sowjetzonales Problem) ist auch in der SBZ beobachtet und von einigen Einsichtigen (Becker, Klemperer, Weiskopf, Zweig) kritisch und warnend behandelt worden, doch wurden die spezifisch „gesellschaftlichen“ Ursachen von ihnen begreiflicherweise übersehen. Der Spracherziehung dient, unter Wahrung der Tabus und mit klassenkämpferischen Einschlägen, die unter Mitwirkung der Redaktion des sowjetzonalen „Duden“ vom Verlag Enzyklopädie herausgegebene Monatsschrift „Sprachpflege“. Schriftsteller, Pädagogen und Wissenschaftler, die sich um die „Reinerhaltung und schöpferische Weiterentwicklung der deutschen S.“ verdient machen, zeichnet die Deutsche ➝Akademie der Künste mit dem F. C. Weiskopf-Preis aus. Ein von der Deutschen ➝Akademie der Wissenschaften seit langem vorbereitetes Wörterbuch der Deutschen S. der Gegenwart, dessen erste Lieferungen vorliegen, hat sich bereits der Sonderentwicklung der S. im kommun. Machtbereich angepaßt.


 

Fundstelle: SBZ von A bis Z. Achte, überarbeitete und erweiterte Auflage, Bonn 1963: S. 450–451


 

Information

Dieser Lexikoneintrag stammt aus einer Serie von Handbüchern, die zwischen 1953 und 1985 in Westdeutschland vom Bundesministerium für gesamtdeutsche Fragen (ab 1969 Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen) herausgegeben worden sind.

Der Lexikoneintrag spiegelt den westdeutschen Forschungsstand zum Thema sowie die offiziöse bundesdeutsche Sicht auf das Thema im Erscheinungszeitraum wider.

Ausführliche Informationen zu den Handbüchern finden Sie hier.