DDR von A-Z, Band 1963

Arbeitspolitik (1963)

 

 

Siehe auch:

 

[S. 37]Die kommun. A. geht von der Vorstellung aus, daß durch die Überführung der Produktionsmittel in Volkseigentum die natürlichen Gegensätze zwischen Kapital und Arbeit aufgehoben seien und die Interessen des „Staates“, der als Eigentümer der Produktionsmittel gleichzeitig Arbeitgeber ist und nach den Anweisungen der SED die gesamte Volkswirtschaft wie ein Unternehmen plant und leitet (Planung), mit denen der Arbeitnehmer identisch seien. Die A. ist zur Funktion der Wirtschaftspolitik geworden (Wirtschaft). Ihr Hauptziel ist wirtschaftlicher Natur. Die Produktion soll mit allen Mitteln erhöht werden. Der Fürsorgegedanke, im Pj. „die Sorge um den Menschen“, ist zwar nicht ganz ausgeschaltet und wird je nach der politischen Situation und vor allem je nach der Stimmung der Arbeiterschaft mehr oder weniger betont, aber der arbeitende Mensch wird auch dort, wo ihm Fürsorge zuteil werden soll, nur als Objekt der A. behandelt. Ferner soll die A. die Erziehung der Arbeiter und Angestellten zu Menschen mit sozialistischem ➝Bewußtsein unterstützen. Erzieherische Aufgaben haben der Betriebsleiter, die Betriebsgewerkschaftsleitung, die Brigaden der sozialistischen Arbeit und die Konfliktkommissionen. Auch die Lohngestaltung (Lohnpolitik) soll hierzu beitragen (Bewußtseinsbildung) Die bewußte Ausnützung der materiellen Interessiertheit wirkt diesem Bemühen entgegen, weil damit der Egoismus angeregt wird, wogegen sich das sozialistische Bewußtsein in einer gemeinschaftsbezogenen Haltung äußern soll (im Pj. heißt das „der Weg vom Ich zum Wir“).

 

Um Störungen dieser A. auszuschalten, sind die arbeitenden Menschen ihrer Interessenvertretung beraubt. Die Betriebsräte wurden im Jahre 1946 abgeschafft und an ihre Stelle die betrieblichen ➝Gewerkschaftsleitungen, die unteren Organe des FDGB, gesetzt. Nach § 11 Abs. 2 des Gesetzbuches der Arbeit (GBl. 1961, I, S. 27) sollen die von der Gewerkschaftsorganisation „gewählten“ Vertrauensleute und betrieblichen Gewerkschaftsleitungen Interessenvertreter aller Arbeiter, Angestellten und [S. 38]Angehörigen der „Intelligenz“ im Betriebe sein. Da sie aber an die Weisungen der oberen Organe des FDGB gebunden sind, die sich satzungsgemäß und wegen ihrer personellen Zusammensetzung in völliger Abhängigkeit von der SED befinden, dienen sie in Wirklichkeit der Transmission des Willens der SED auf die arbeitenden Menschen. Damit hat der „staatliche Arbeitgeber“ nicht nur freie Hand bei der Verfolgung seiner Interessen, er wird auch noch von der angeblichen Interessenvertretung der arbeitenden Menschen unterstützt. § 12 des Gesetzbuches der Arbeit bestimmt demgemäß, daß die betrieblichen Gewerkschaftsleitungen insbesondere das „Recht“ haben, den sozialistischen Wettbewerb, die sozialistische Gemeinschaftsarbeit, die Ständigen Produktionsberatungen und die Plandiskussionen zu organisieren, an der Ausarbeitung der betrieblichen Pläne teilzunehmen und deren Verwirklichung zu kontrollieren.

 

Obwohl Art. 14 Abs. 2 der Verfassung das Streikrecht der Gewerkschaften gewährleistet, wird es mit der Behauptung verweigert, die Werktätigen könnten nicht gegen sich selbst streiken (Streik).

 

Ein Mitbestimmungsrecht der Arbeitnehmer bei der Führung der Wirtschaft ist nicht vorhanden. Dem FDGB wird nach §§ 4 und 5 des Gesetzbuches der Arbeit zwar das Recht zuerkannt, an der Ausarbeitung der Wirtschaftspläne teilzunehmen und in den Planungsorganen an der Ausarbeitung gesetzlicher Bestimmungen mitzuwirken, die unmittelbar die Lebens- und Arbeitsbedingungen der Arbeiter, Angestellten und [S. 38]Angehörigen der Intelligenz betreffen. Auch soll der FDGB die Arbeiterkontrolle organisieren und vom „Staat“ ausgeübte Funktionen auf dem Gebiete der A. übernehmen, z. B. die Leitung der Sozialversicherung (Sozialversicherungs- und Versorgungswesen) und die Kontrolle des betrieblichen Arbeitsschutzes. Da der FDGB indessen die Führung der SED vorbehaltlos anerkennt, damit also dem Willen des „staatlichen Arbeitgebers“ untergeordnet ist, kann er bei Wahrnehmung seiner Aufgaben nicht die Interessen der Arbeitnehmer vertreten, sondern muß die „staatlichen“ Interessen voranstellen.

 

In einem System ohne echte Interessenvertretung der Arbeitnehmer hat ein autonomes kollektives Arbeitsrecht keinen Platz. Das nach 1945 auch in der SBZ wieder aufgebaute Tarifvertragssystem ist zerstört. An seine Stelle traten Gesetze und Verordnungen. Zwingend gesetzlich geregelt wurden das Urlaubsrecht (Urlaub), das Kündigungsrecht, also nicht nur der Kündigungsschutz, und die arbeitsrechtlichen Mantelbestimmungen. Das Gesetzbuch der Arbeit löste das Gesetz der Arbeit vom 9. 4. 1950 (GBl. S. 349) ab. Auch die Lohnsätze in der „volkseigenen“ Industrie waren lange Zeit durch Regierungsverordnungen festgesetzt. In jüngster Zeit werden sie wieder durch Rahmenkollektivverträge festgelegt, die zwischen den „staatlichen“ Organen und dem FDGB oder seinen Gewerkschaften abgeschlossen werden. Wegen der Abhängigkeit des FDGB von der SED und dem „staatlichen“ Arbeitgeber hat dieser Wandel nur formelle Bedeutung. Das Günstigkeitsprinzip gilt nicht.

 

Die Betriebskollektivverträge (BKV), die alljährlich in den „volkseigenen Betrieben“ abgeschlossen werden, haben keine arbeitsrechtliche Bedeutung. Sie sind laut § 13 des Gesetzbuches der Arbeit eine Vereinbarung zwischen dem Betriebsleiter und der Betriebsgewerkschaftsleitung zur Erfüllung der Betriebspläne und enthalten u. a. insbesondere Verpflichtungen zur maximalen Steigerung der Arbeitsproduktivität, zur Senkung der Selbstkosten und Durchsetzung des Sparsamkeitsprinzips, zur Entwicklung des sozialistischen Wettbewerbs und der sozialistischen Gemeinschaftsarbeit.

 

Dem hervorragendsten Ziel der A., der Erhöhung der Produktion, dienen: a) die Vermehrung der Zahl der Arbeitskräfte, b) ihr zweckmäßiger Einsatz und c) die Erhöhung der Arbeitsproduktivität.

 

a) Zur Vermehrung der Arbeitskräfte sollen alle Arbeitskraftreserven erschlossen werden. Die Zahl der weiblichen Arbeitskräfte ist daher ungewöhnlich hoch (Frauenarbeit). Dieses Reservoir ist aber ziemlich erschöpft, obwohl weitere Anstrengungen gemacht werden, Frauen für die Produktion zu gewinnen. Erwerbsfähige Witwen erhalten keine Rente oder Sozialfürsorgeunterstützung (Renten, Sozialfürsorge). Frauen, die durch familiäre Pflichten vorübergehend verhindert sind, ganztägig zu arbeiten, sollen eine Teilbeschäftigung aufnehmen (§ 3 Abs. 4 Gesetzbuch der Arbeit). Renten und Unterstützungen für Invaliden sind so gestaltet, daß nur zu zwei Drittel Erwerbsgeminderte Versorgung erhalten. Auch Altersrentner sollen nach Möglichkeit noch weiter tätig sein. Trotzdem wird im Laufe der nächsten Jahre die Zahl der Arbeitskräfte wegen des Heranwachsens von geburtenschwachen Jahrgängen und der Überalterung der Bevölkerung ständig weiter abnehmen.

 

b) Um so größere Bedeutung gewinnen die planmäßige Lenkung der Arbeitskräfte und des Berufsnachwuchses.

 

Die Ämter für Arbeit und Berufsberatung haben weitgehende Befugnisse zur Lenkung der Arbeitskräfte und zur Berufslenkung. § 25 des Gesetzbuches der Arbeit ermöglicht es, Arbeitnehmern vorübergehend eine andere Arbeit sogar in einem anderen Betrieb am selben Ort zu [S. 39]übertragen, grundsätzlich bis zur Dauer eines Monats im Kalenderjahr, für bestimmte Tätigkeiten bis zur Dauer von 6 Monaten.

 

c) Die Erhöhung der Arbeitsproduktivität wird als das geeignetste Mittel angesehen, die Produktion zu steigern, weil sie keine Vermehrung der Arbeitskräfte verlangt und gleichzeitig die Gestehungskosten vermindert. Die Gestaltung des Arbeitsrechts soll nach § 1 Abs. 2 des Gesetzbuches der Arbeit der Steigerung der Arbeitsproduktivität dienen. Der Arbeitslohn soll darauf gerichtet sein, die Arbeitsproduktivität maximal zu steigern (§ 39 Abs. 1). Die materielle Interessiertheit wird ausgenutzt, indem der Lohn von der Leistung abhängig gemacht wird (Leistungslohn, Stücklohn, Prämienzeitlohn, Prämienstücklohn, Objektlohn). Die Löhne werden ergänzt durch Prämien für die Erfüllung und Übererfüllung der Pläne und besondere Leistungen. Bei Stücklohn soll die Erhöhung der Arbeitsnormen zu größeren Leistungen zwingen, da dann nur die Wahl zwischen geringerem Lohn oder Mehrleistung bleibt. Aktivisten und Neuerer sollen die Normen in die Höhe treiben. Ihre Leistungen werden für die anderen Arbeitnehmer als vorbildlich hingestellt. Für die einzelnen Wirtschaftszweige bestehen allgemein 8 Lohngruppen, die untereinander stark differenziert sind. In die Lohngruppen werden die Arbeitsbereiche eingruppiert nach Lohn- bzw. Gehaltsgruppen-Katalogen (Wirtschaftszweig-Lohngruppenkatalog, Lohngruppe) (§ 42). Die Lohn- und Gehaltsgruppen der Arbeitnehmer richten sich nach dem Arbeitsbereich, wobei ihre Qualifikation (Qualifizierung) zu berücksichtigen ist.

 

Erhöhung des Lohnes und Verkürzung der Arbeitszeit werden von der Steigerung der Arbeitsproduktivität abhängig gemacht (§ 39, Abs. 2, § 67, Abs. 2). Die Arbeitsproduktivität wird in der Regel durch Erhöhung der Arbeitsintensität gesteigert, denn die Möglichkeiten, moderne Ausrüstungen und eine bessere Betriebsorganisation zu schaffen (sozialistische ➝Rekonstruktion), sind im allgemeinen gering, und im Kampfe gegen Stillstands- und Wartezeiten (Seifert-Methode) besteht stets die Gefahr, daß auch arbeitsphysiologisch notwendige Ruhepausen beseitigt werden. Die A. geht darauf aus, die körperlichen und geistigen Kräfte der schaffenden Menschen immer mehr zu beanspruchen. Die Arbeitszeitverkürzung in der „volkseigenen“ Industrie um 3 Stunden in der Woche, verteilt auf 6 Tage (Arbeitszeit), ist nur eine ungenügende Kompensation. Auch die menschliche Eitelkeit wird in den Dienst der A. gestellt. Auszeichnungen sollen zu besonderen Leistungen anspornen. Mit dem sozialistischen Wettbewerb wird die Neigung, Kräfte und Können zu messen, in den Dienst der A. gestellt. Eine strenge Arbeitsdisziplin soll dafür sorgen, daß die Ziele der A. erreicht werden. Meister und Brigadiere haben die Aufgabe, ihre Kollegen zu hohen Leistungen anzutreiben. Durch Produktionspropaganda sollen die Arbeiter beeinflußt werden, ihre Arbeitskraft und ihre Intelligenz in den Dienst des Regimes zu stellen. Das wird „schöpferische Mitwirkung der Werktätigen bei der Erfüllung der Aufgaben und bei der Leitung der Betriebe“ genannt.

 

Literaturangaben

  • Haas, Gerhard, und Alfred Leutwein: Die rechtliche und soziale Lage der Arbeitnehmer in der sowjetischen Besatzungszone. 5., erw. Aufl. (BB) 1959. Teil I (Text) 264 S., Teil II (Anlagen) 162 S.
  • Leutwein, Alfred: Der Betriebskollektivvertrag in der sowjetischen Besatzungszone. 3., erw. Aufl. (BB) 1957. 112 S. m. 4 Anl.
  • Mampel, Siegfried, und Karl Hauck: Sozialpolitik in Mitteldeutschland (Sozialpolitik in Deutschland, H. 48, hrsg. v. Bundesmin. f. Arbeit …). Stuttgart usw. 1961, Kohlhammer. 87 S.
  • Mampel, Siegfried: Das Gesetzbuch der Arbeit der Sowjetzone und das Arbeitsrecht der Bundesrepublik Deutschland — ein Vergleich. 5. Aufl. (hrsg. v. Bundesmin. für Arbeit …). Bonn 1962. 64 S.
  • Mampel, Siegfried: Beiträge zum Arbeitsrecht der sowjetischen Besatzungszone (BMG) 1963. 135 S.

 

Fundstelle: SBZ von A bis Z. Achte, überarbeitete und erweiterte Auflage, Bonn 1963: S. 37–39


 

Information

Dieser Lexikoneintrag stammt aus einer Serie von Handbüchern, die zwischen 1953 und 1985 in Westdeutschland vom Bundesministerium für gesamtdeutsche Fragen (ab 1969 Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen) herausgegeben worden sind.

Der Lexikoneintrag spiegelt den westdeutschen Forschungsstand zum Thema sowie die offiziöse bundesdeutsche Sicht auf das Thema im Erscheinungszeitraum wider.

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