DDR von A-Z, Band 1963

Genossenschaften (1963)

 

 

Siehe auch die Jahre 1958 1959 1960 1962 1965 1966 1969 1975 1979 1985


 

G. im traditionellen Sinne sind Vereinigungen zur Förderung des Erwerbs und der (individuellen!) Wirtschaft ihrer Mitgl. auf freiwilliger Grundlage. Diese G. — auch die Produktions-G. (PG) — lehnte Marx grundsätzlich ab, und zwar nicht nur die G. in ihrer damaligen historischen Form, sondern die G. als sozialökonomisches Strukturelement überhaupt. Die historischen Verhältnisse in Rußland z. Zt. der bolschewistischen Revolution im Jahre 1917 (besonders in der Landwirtschaft) und die die politische Macht der Bolschewisten bedrohende Wirtschaftskrise Anfang der zwanziger Jahre haben zu einer Änderung der Marxschen Auffassung von der Bedeutung der G. geführt. Das auf diesem historischen Hintergrund von Lenin formulierte evolutorische „Genossenschaftsprogramm“ ist für die SBZ seit 1945 gültig: Die selbständig Wirtschaftenden sollen über die Vergenossenschaftung der Handels- und Kreditfunktionen („einfache“ G.) zur Vergenossenschaftung der Produktion (Produktions-G. = „höhere“ G.) geführt werden.

 

a) Auf der Grundlage dieser Lehre gelangten die nach dem Zusammenbruch in der SBZ bestehenden G. — nahezu ausschließlich Handels- und Kredit-G. — zu erhöhter Bedeutung. Die Wiederaufnahme ihrer Tätigkeit wurde ihnen schon 1945 bzw. Anfang 1946 durch SMAD-Befehl gestattet. Die G. konnten entsprechend ihren traditionellen Prinzipien (Selbstbestimmung, Selbstverantwortung, Selbstverwaltung) arbeiten. Eine rege Werbung erhöhte die Zahl der Mitglieder.

 

Der Nutzen der G. für das kommun. System lag in den ersten Jahren auf wirtschaftlichem Gebiet: teilweise Übernahme der Kreditfunktionen der geschlossenen Banken und besonders der Handelsfunktionen des liquidierten privaten Großhandels bis zum Aufbau eines leistungsfähigen staatlichen Handels- und Kreditapparates. In dieser Pe[S. 165]riode konnten die G. ihre wirtschaftliche Tätigkeit ausdehnen und z. T. eine Monopolstellung erreichen (z. B. erfolgte die Düngemittelzuteilung ausschließlich über G.). Im Rahmen der 1948 beginnenden Wirtschafts-Planung hatten die G. organisatorische Aufgaben zu übernehmen (Aufschlüsselung der Pläne, statistische Berichterstattung, Versorgung der Betriebe mit Produktionsmitteln usw.). Gleichzeitig wurde ihre Wirtschaftstätigkeit in die zentrale Planung einbezogen.

 

Parallel dieser Entwicklung erfolgte die Einengung und Beseitigung der genossenschaftlichen Demokratie durch Übernahme zentraler Positionen innerhalb der G. durch systemfreundliche Funktionäre. Die G. verloren also ihre wirtschaftliche Selbständigkeit und wurden zur Aufgabe ihrer Prinzipien gezwungen. Sie hörten auf, G. im traditionellen (westlichen) Sinne zu sein. Zwar behielten sie ihre wirtschaftlichen Funktionen — diese blieben Grundlage ihrer Macht den Mitgliedern gegenüber —, jedoch trat nun inr gesellschaftspolitischer Nutzen für das System in den Vordergrund: über die G. erfolgte der Angriff der SED auf die kleinen und mittleren selbständigen Existenzen. Mehr und mehr war es — seit 1948/50 — Aufgabe der G., die (Wirtschafts-) Politik der Partei ihren Mitgliedern gegenüber zu vertreten und durchzusetzen. Seit Beginn der Kollektivierung 1952 bedeutete das insbesondere, die G.-Mitglieder zum Eintritt in PG zu bewegen. In dem Maße, wie die Bildung von PG fortschritt, wurden traditionelle G. überflüssig. Ihre Einrichtungen wurden, in der Regel unter Ausschluß der Liquidation der G., von den neu gebildeten PG übernommen.

 

Zu den G., die nach 1945 in diesem Sinne tätig waren, zählten vor allem die Raiffeisen-G. (ländliche Genossenschaften) und die Einkauf- und Liefer-G. des Handwerks.

 

b) Während die Existenz der Handels- und Kredit-G. mit der Vollendung des „Aufbaus des Sozialismus“ endet, sind die Produktionsgenossenschaften (PG) ein Endziel dieser Entwicklungsperiode. Ihrer formalen Struktur nach sind sie mit den traditionellen Produktiv-G. identisch. Wie bei diesen ist ihr Ziel, selbständig Wirtschaftende als Mitglieder zu gewinnen. Während aber die traditionelle Produktivgenossenschaft durch Vergenossenschaftung von Produktionsfunktionen die Rentabilität der Betriebe verbessern und so die Selbständigkeit der Mitglieder erhalten will (bzw. Unselbständigen durch Teilnahme an Unternehmerfunktion und Unternehmerlohn eine relative Selbständigkeit ermöglichen will), stehen die „sozialistischen“ PG im Dienst des kollektiven Erwerbs mit dem Ziel, die Selbständigkeit der Mitglieder zu beseitigen. Die Methode ist der Entzug der individuellen Verfügungsgewalt über die in Privateigentum stehenden materiellen Produktionsfaktoren (Boden, Kapital) durch Einbringen in die „G.“ (genossenschaftlich-sozialistisches Eigentum) und die Übertragung der Unternehmerfunktion auf das Kollektiv, wobei dieses durch systemfreundliche Personen repräsentiert werden soll. Als Besonderheit ist zu bemerken, daß in den landwirtschaftlichen PG aller kommun. Länder mit Ausnahme der SU der in die PG eingebrachte Boden rechtlich Privateigentum geblieben ist. Diese Tatsache hat jedoch nur formale Bedeutung, sie soll dem „Besitzinstinkt“ der „kleinen Warenproduzenten“ Rechnung tragen. Der totale Entzug der Verfügungsgewalt und die praktische Unmöglichkeit des Austritts aus der PG bedeuten de facto Enteignung.

 

Die PG haben also die Aufgabe, den Selbständigen die wirtschaftliche Basis ihrer Selbständigkeit zu entziehen und sie dadurch in wirtschaftliche, politische und schließlich persönliche Abhängigkeit vom kommun. (Wirtschafts-) System zu bringen. G. im Kommunismus dienen also nicht der Förderung, sondern der — ersatzlosen — Liquidation der Wirtschaft ihrer Mitglieder.

 

Da sich die angesprochenen Schichten gegen diese wirtschaftliche Entmachtung und den persönlichen Freiheitsentzug wehren, jedenfalls aber nicht freiwillig in PG eintreten, werden wirtschaftliche Anreize (z. B. Steuervergünstigungen, bevorzugte Belieferung mit Produktionsmitteln, hohe Preise für die Produkte, billige Kredite), politische und psychologische Druckmittel angewandt. Rein ökonomisch sind die PG in der kommun. Planwirtschaft besser zu handhaben: sie lassen sich wegen ihrer Größe besser in die Volkswirtschaftspläne einbeziehen und von innen und außen — sowohl wirtschaftlich (Planerfüllung) als auch politisch — leichter kontrollieren als Individualbetriebe. Die Kontrollmöglichkeit von außen kann noch dadurch erhöht werden, daß der Produktionsfaktor Kapital sich ganz oder teilweise im Eigentum des Staates befindet. (LPG, MTS). Die zentrale Aufgabe der PG ist die Erfüllung der durch die Volkswirtschaftspläne vorgegebenen Produktionsauflagen.

 

Im einzelnen bestehen Landwirtschaftliche PG, PG des Handwerks, PG werktätiger Fischer (Fischerei), Gärtner-PG (Gartenbau). [S. 166]Aus den genannten Gründen ist die PG auch in neue Bereiche vorgedrungen. So gibt es z. B. PG der Künstler und „Kollegien der Rechtsanwälte“ (Rechtsanwaltschaft).

 

c) Eine Sonderstellung in diesem System nehmen die Konsumgenossenschaften ein. Sie sind die einzigen G., die Nichtselbständige als Mitglieder haben. Sie sind eine Massenorganisation und haben innerhalb des staatlichen (Güter-) Verteilungsapparates bestimmte Funktionen zu erfüllen. (Handel)


 

Fundstelle: SBZ von A bis Z. Achte, überarbeitete und erweiterte Auflage, Bonn 1963: S. 164–166


 

Information

Dieser Lexikoneintrag stammt aus einer Serie von Handbüchern, die zwischen 1953 und 1985 in Westdeutschland vom Bundesministerium für gesamtdeutsche Fragen (ab 1969 Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen) herausgegeben worden sind.

Der Lexikoneintrag spiegelt den westdeutschen Forschungsstand zum Thema sowie die offiziöse bundesdeutsche Sicht auf das Thema im Erscheinungszeitraum wider.

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