DDR von A-Z, Band 1963

 

Sozialversicherungs- und Versorgungswesen (1963)

 

 

Siehe auch die Jahre 1953 1954 1956 1958 1959 1960 1962 1965 1966 1969 1975 1979 1985

 

[S. 437]

 

Grundsätze

 

 

Der Vorsorge gegen die wirtschaftlichen Folgen von Alter, Invalidität, Arbeitslosigkeit und sonstigen Wechselfällen des Lebens sowie der Erhaltung der Gesundheit und Arbeitsfähigkeit der arbeitenden Bevölkerung und dem Schutze der Mutterschaft soll nach Art. 16, 3 der Verfassung ein einheitliches, umfassendes Sozialversicherungswesen auf der Grundlage der Selbstverwaltung der Versicherten dienen. Obwohl stets die Sorge um den Menschen betont wird, bestimmt nicht sie die Gestaltung und die Grenzen dieser Vorsorge, vielmehr tun dies die Aufgaben, die die Sozialversicherung innerhalb der Planwirtschaft hat. Organisation und Leistungen der Sozialversicherung sind darauf gerichtet, die Bevölkerung möglichst ausnahmslos zur Arbeit zu zwingen, damit die Produktion ein Höchstmaß erreicht. Mittel dazu sind: möglichst kleine Alters- und Invalidenrenten, strengster Maßstab bei ärztlichen Untersuchungen und Erwerbsminderung oder wegen zeitweiliger Arbeitsbefreiung infolge Krankheit, keine Versorgung für arbeitsfähige Witwen bis zu 60 Jahren. Außerdem soll durch eine geplante Staffelung der Leistungen nach der volkswirtschaftlichen Bedeutung des Betriebes, in dem der Versicherte arbeitet, die Fluktuation der Arbeitskräfte eingeschränkt werden.

 

Entwicklung

 

 

Die Sozialversicherung wurde 1945/46 in eine zentralgelenkte Einheitsversicherung umgewandelt, in der alle früheren Versicherungsträger aufgegangen sind. Durch die VO über die Sozialpflichtversicherung vom 28. 1. 1947, erlassen auf Grund des Befehls Nr. 28 der SMAD („Arbeit und Sozialfürsorge“, S. 92/47), wurde das Sozialversicherungswesen auf eine einheitliche Grundlage gestellt, nachdem bereits ab Herbst 1945 in jedem Lande der SBZ durch Gründung einer Sozialversicherungsanstalt die Voraussetzung hierfür geschaffen worden war.

 

Durch die VO über die Sozialversicherung vom 26. 4. 1951 (GBl. S. 325) wurde die Verantwortung für die Leitung und die Kontrolle der Sozialversicherung dem FDGB übergeben. Die 5 Sozialversicherungsanstalten der Länder wurden zu einer einheitlichen „Sozialversicherung, Anstalt des öffentlichen Rechtes“ mit dem Sitz in Berlin vereinigt, die vom Zentralrat der Sozialversicherung geleitet und verwaltet wurde. Dem Ministerium für Arbeit und Berufsausbildung oblag seitdem nur noch die Aufsicht über die Sozialversicherung. Der Zentralrat der Sozialversicherung wurde gesetzlicher Vertreter der Sozialversicherung und ihr oberstes Organ.

 

Auf einer Tagung des FDGB-Bundesvorstandes am 15. und 16. Februar 1955 wurde in Ausführung der bereits im Juni 1954 entworfenen „Politischen Grundsätze der Sozialversicherung für den zweiten Fünfjahrplan“ beschlossen, die „Sozialversicherung“ zu der in Zukunft nur noch die Arbeiter und Angestellten gehören sollten, vollständig dem FDGB zu übergeben. Zunächst ohne Änderung der gesetzlichen Bestimmungen wurde aus der Zentralverwaltung der Sozialversicherung und der Abteilung Sozialversicherung des FDGB-Bundesvorstandes eine „Verwaltung der Sozialversicherung des Bundesvorstandes des FDGB“ gebildet und der Zentralrat sowie die Räte für Sozialversicherung in den Bezirken und Kreisen, die bis dahin als „Selbstverwaltungsorgane“ galten, obwohl sie nicht von den Versicherten gewählt, sondern von den FDGB-Vorständen bestellt worden waren, aufgelöst. Durch VO vom 2. 3. 1956 (GBl. S. 257) [S. 438]wurden rückwirkend vom 1. Januar an die Selbständigen (Bauern, Handwerker, Kleinunternehmer usw.) aus der Sozialversicherung, Anstalt öffentlichen Rechts, ausgegliedert. Träger der Sozialversicherung wurde für diese Berufsgruppen die Deutsche ➝Versicherungs-Anstalt. Ihr wurde später auch die Sozialversicherung der Mitglieder der sozialistischen Produktionsgenossenschaften übertragen. Die völlige Übernahme durch den FDGB wurde durch VO vom 23. 8. 1956 legalisiert (GBl. S. 687).

 

Die Verwaltung der Sozialversicherung des FDGB

 

 

Träger der Sozialversicherung der Arbeiter und Angestellten ist seitdem die Verwaltung der Sozialversicherung des FDGB, die zur „juristischen Person“ erklärt wurde. Sie gliedert sich in die Verwaltung des Bundesvorstandes, der Bezirksvorstände und der Kreisvorstände des FDGB (SVK). Der FDGB hat gleichzeitig das Recht erhalten, den Zentralvorständen der Industriegewerkschaften die volle Verantwortung für die Sozialversicherung für ihren Bereich zu übertragen. Von dieser Befugnis ist weitgehend Gebrauch gemacht worden. Die Staatsaufsicht entfiel.

 

In den „volkseigenen Betrieben“ (VEB) und Verwaltungen bestehen Räte, in den Privatbetrieben Kommissionen der Sozialversicherung. Die Räte in den VEB und in den Verwaltungen haben die Bevollmächtigten für Sozialversicherung anzuleiten und zu kontrollieren. Die Bevollmächtigten für Sozialversicherung in den VEB und Verwaltungen sowie auch in den Privatbetrieben müssen u. a. Kranke innerhalb von drei Tagen in der Wohnung besuchen.

 

In den VEB und den Verwaltungen wählen die Bevollmächtigten für Sozialversicherung die Räte, in den Privatbetrieben bestehen die Kommissionen aus den Bevollmächtigten. Die Bevollmächtigten werden auf Vorschlag der jeweiligen BGL von den Betriebsangehörigen gewählt.

 

Die Übertragung der Sozialversicherung auf den FDGB und das System der Räte und der Bevollmächtigten sollen angeblich die Selbstverwaltung der Sozialversicherung durch die Versicherten verwirklichen, in Wahrheit bedeutet es jedoch, daß die Versicherten keinerlei Einfluß haben. Die FDGB-Vorstände sind nicht die Vertreter aller Versicherten, sondern bestenfalls der FDGB-Mitgl., wobei schon dies bei der Fragwürdigkeit der Wahlen zu den Vorständen bezweifelt werden muß. Da die Räte in den VEB und Verwaltungen sowie die Kommissionen in den Privatbetrieben von den BGL angeleitet werden oder ihnen sogar, wie in den Privatbetrieben, unterstehen, ist auch hier der Einfluß der Versicherten praktisch ausgeschaltet.

 

Die kurzfristigen Barleistungen (Krankengeld, Hausgeld, Schwangerschafts- und Wochenhilfe, Sterbegeld) werden meist in den Betrieben ausgezahlt (Anordnungen vom 2. 8. 1951, GBl. S. 113). Die Räte in den VEB und Verwaltungen sind befugt, über Leistungen zu entscheiden. Das gleiche gilt für die Kommissionen, wenn der Privatbetrieb die Leistungen auszahlen darf.

 

Haushalt und Beitragseinzug

 

 

Der Haushaltsplan der Sozialversicherung ist Bestandteil des Haushaltsplans der „DDR“ (§ 8 der VO vom 26. 4. 1951). Die Pflichtbeiträge werden von den Abt. Finanzen bei den Räten der Kreise und Stadtkreise (Finanzämtern) eingezogen (VO vom 14. 2. 1950, GBl. S. 1195). Gesetzliche Grundlage der Sozialpflichtversicherung und ihrer Leistungen sind für die Arbeiter und Angestellten mit Ausnahme der Renten die VO über die Sozialversicherung der Arbeiter und Angestellten vom [S. 439]21. 12. 1961 (GBl. II S. 533) und im übrigen noch die VO über Sozialpflichtversicherung vom 28. 1. 1947 und zahlreiche Einzelverordnungen.

 

Umfang der Versicherungspflicht

 

 

Der Sozialversicherungspflicht unterliegen ohne Rücksicht auf die Höhe des Einkommens alle Arbeiter und Angestellten (auch die Angestellten der Verwaltung, die in der SBZ an die Stelle der Beamten getreten sind); Bauern, die bis zu 5 Arbeiter beschäftigen; Handwerker, die zur Handwerkskammer gehören; die Angehörigen der freischaffenden Intelligenz, also z. B. Ärzte, Anwälte und Künstler); alle anderen selbständigen Erwerbstätigen, die bis zu 5 Arbeiter und Angestellte beschäftigen; die ständig mitarbeitenden Ehefrauen und Kinder sowie Studenten, Hoch- und Fachschüler.

 

Leistungen

 

 

Die Leistungen der Sozialversicherung bestehen a) im Krankheitsfalle aus freier Heilbehandlung, Krankengeld, Hausgeld für die Zeit der Behandlung in einem Krankenhaus oder Sanatorium; b) aus Schwangerschafts- und Wochenhilfe; c) aus Bestattungsbeihilfe (Sterbegeld); d) aus Renten bei Invalidität, im Alter, für die Folgen von Arbeitsunfällen und anerkannten Berufskrankheiten und für Hinterbliebene; e) aus Kuren für Rekonvaleszenten und angeblich erholungsbedürftige Aktivisten.

 

Der Betriebsleiter, die betriebliche Gewerkschaftsleitung (BGL) und der Rat für Sozialversicherung haben das Recht, bei Vermutung einer mißbräuchlichen Ausnutzung der Leistungen der Sozialversicherung bei den zuständigen Einrichtungen des staatlichen Gesundheitswesens die sofortige Überprüfung des Gesundheitszustandes des Werktätigen zu beantragen. Bei Verstößen gegen die Krankenordnung können der Betriebsleiter, die BGL oder die Verwaltung der Sozialversicherung anweisen, daß der Lohnausgleich und die Leistungen der Sozialversicherung ganz oder teilweise nicht gewährt werden (§ 105 des Gesetzbuches der Arbeit).

 

Die ehemaligen Beamten und Berufssoldaten sowie deren Witwen und Hinterbliebenen werden von der Sozialversicherung und nach deren Grundsätzen versorgt (Beamtenversorgung). Das gleiche gilt für Kriegsinvalide und Kriegshinterbliebene (Kriegsopferversorgung). Die Renten sind im allgemeinen so niedrig, daß sie nur eine äußerst bescheidene Lebenshaltung erlauben. Eine seit langem versprochene Rentenreform ist ausgeblieben. Bergleute erhalten auf Grund verschiedener Verordnungen erhöhte Leistungen (Bergmannsrenten), desgleichen neuerdings Eisenbahner und Angehörige der Post, soweit sie sich bei Inkrafttreten der entsprechenden Bestimmungen (1. 1. 1956 und 1. 7. 1956) im Dienst befanden. Ausgeschiedene können sich die bessere Versorgung verdienen, wenn sie die Arbeit für ein Jahr wieder aufnehmen. Für die technische Intelligenz in den „volkseigenen“ und ihnen gleichgestellten Betrieben ist eine zusätzliche Altersversorgung geschaffen worden. Eine entsprechende Regelung gilt für die Intelligenz an wissenschaftlichen, künstlerischen, pädagogischen und medizinischen Einrichtungen. (Altersversorgung)

 

Die Sozialversicherung der Arbeiter und Angestellten versorgt auch die Verfolgten des Naziregimes, selbst wenn diese keine Versicherungszeiten nachweisen können. (Wiedergutmachung). Sie ist Träger der Arbeitslosenversicherung.[S. 440]

 

Beiträge

 

 

Die Pflichtversicherungsbeiträge betragen für Arbeiter und Angestellte 19 v. H. — im Bergbau 30 v. H. — des lohnsteuerpflichtigen Arbeitsverdienstes bis zu 600 DM Ost monatlich. Die Beiträge sind je zur Hälfte von den Versicherten und den Betrieben zu tragen, im Bergbau tragen die Betriebe zwei Drittel. Selbständig Erwerbstätige zahlen 17 v. H. des steuerpflichtigen Einkommens bis zu 600 DM Ost monatlich, privilegierte Gruppen 14 v. H. Der Mindestbeitrag beträgt für diese 8 DM Ost. Handwerker und Bauern zahlen gestaffelte Beiträge nach besonderen Tabellen. Außerdem wird eine besondere Unfallumlage erhoben, deren Höhe sich nach den Einkünften des Versicherten und nach den Unfallgefahren des jeweiligen Betriebes richtet.

 

Rechtsmittel

 

 

Gegen Entscheidungen über Leistungen ist das Rechtsmittel der Beschwerde gegeben. Über sie entscheidet in den Betrieben, in denen eine Konfliktkommission besteht, diese, im übrigen die Kreisbeschwerdekommission beim Kreisvorstand des FDGB, die auch über Einsprüche gegen Entscheidungen der Konfliktkommission in Sozialversicherungssachen entscheidet. Gegen die Entscheidung einer Beschwerdekommission konnte bis 30. 6. 1961 entweder das Bezirksarbeitsgericht durch Anfechtungsklage oder die Beschwerdekommission des Bezirks durch weitere Beschwerden angerufen werden. Seit dem 1. 7. 1961 ist nur noch die weitere Beschwerde an die Bezirksbeschwerdekommission gegeben. Der Beschluß der Bezirksbeschwerdekommission ist endgültig. Eine Zentrale Beschwerdekommission kann indessen auf Antrag des Bundesvorstandes des FDGB im Wege der Kassation tätig werden.

 

Freiwillige und zusätzliche Versicherung

 

 

Eine freiwillige oder eine zusätzliche Versicherung kann bei der Sozialversicherung seit Erlaß der VO über Herausnahme der freiwilligen Versicherungen aus der Sozialversicherung vom 19. 3. 1953 (GBl. S. 463) nicht mehr abgeschlossen werden. Neue derartige Versicherungen können nur bei der Deutschen Versicherungsanstalt abgeschlossen werden. Ehemalige Pflichtversicherte, die sich bei der Sozialversicherung freiwillig rentenversichert hatten, bleiben dort auch in Zukunft versichert.

 

Trotz der großen Zahl der Anspruchsberechtigten kann die Sozialfürsorge aus öffentlichen Mitteln nicht entbehrt werden.

 

Literaturangaben

  • Bosch, Werner: Die Sozialstruktur in West- und Mitteldeutschland. (FB) 1958. 240 S. m. 43 Tab.
  • Caesar, Paul: Das Sozialversicherungsrecht in der Bundesrepublik und in der sowjetischen Besatzungszone. (FB) 1958. 120 S. mit 2 Anlagen.
  • Haas, Gerhard, und Alfred Leutwein: Die rechtliche und soziale Lage der Arbeitnehmer in der sowjetischen Besatzungszone. 5., erw. Aufl. (BB) 1959. Teil I (Text) 264 S., Teil II (Anlagen) 162 S.
  • Mampel, Siegfried: Das System der sozialen Leistungen in Mitteldeutschland und in Ost-Berlin (BB) 1961. Teil I (Text) 150 S., Teil II (Anlagen) 142 S.
  • Mampel, Siegfried, und Karl Hauck: Sozialpolitik in Mitteldeutschland (Sozialpolitik in Deutschland, H. 48, hrsg. v. Bundesmin. f. Arbeit …). Stuttgart usw. 1961, Kohlhammer. 87 S.
  • Leutwein, Alfred: Die technische Intelligenz in der sowjetischen Besatzungszone. (BB) 1953. 56 S. m. 6 Anlagen.

 

Fundstelle: SBZ von A bis Z. Achte, überarbeitete und erweiterte Auflage, Bonn 1963: S. 437–440


 

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Information

Dieser Lexikoneintrag stammt aus einer Serie von Handbüchern, die zwischen 1953 und 1985 in Westdeutschland vom Bundesministerium für gesamtdeutsche Fragen (ab 1969 Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen) herausgegeben worden sind.

Der Lexikoneintrag spiegelt den westdeutschen Forschungsstand zum Thema sowie die offiziöse bundesdeutsche Sicht auf das Thema im Erscheinungszeitraum wider.

Ausführliche Informationen zu den Handbüchern finden Sie hier.