
Flüchtlinge (1965)
Siehe auch die Jahre 1953 1954 1956 1958 1959 1960 1962 1963 1966 1969 1975 1979 1985
Unmittelbar nach der Kapitulation, besonders nach 1946/47, haben Hunderttausende Deutsche, meist unter Zurücklassung ihrer Habe, in der BRD sowie in Berlin (West) Zuflucht gesucht. Willkürakte der von der sowjet. Besatzungsmacht eingesetzten Verwaltung, die Bodenreform und Enteignungen in allen Wirtschaftsbereichen förderten diese Fluchtbewegung. Eine nie gekannte Rechtsunsicherheit, die selbst nach dem totalen Zusammenbruch in den damaligen Besatzungszonen der Westalliierten nicht eintrat, veranlaßte schon frühzeitig viele Menschen zur Flucht aus dem sowjetischen Besatzungsgebiet. Solchen F. wurde seit 1947 nach den zwischen Beauftragten der westdeutschen Länder abgeschlossenen „Segeberger Beschlüssen“ (1947) und den „Uelzener Vereinbarungen“ (1949) das Asylrecht der BRD gewährt. Die Aufenthaltserlaubnis wurde an F. erteilt, die wegen ihrer politischen Einstellung verfolgt wurden (A-Fälle), und solche, denen aus Gründen der Menschlichkeit Asylrecht zuerkannt wurde (B-Fälle). Seit dem Inkrafttreten des Bundesnotaufnahmegesetzes vom 22. 8. 1950 wurde denjenigen F., die die SBZ „wegen einer drohenden Gefahr für Leib und Leben oder die persönliche Freiheit oder aus sonstigen zwingenden Gründen“ verlassen mußten, die Aufenthaltserlaubnis erteilt. Nach dem Bundesvertriebenengesetz vom 19. 5. 1953 gilt als „Sowjetzonen-F.“: „ein deutscher Staatsangehöriger, der seinen Wohnsitz in der sowjetischen Besatzungszone oder im sowjetisch besetzten Sektor von Berlin hat oder gehabt hat, von dort flüchten mußte, um sich einer von ihm nicht zu vertretenden und durch die politischen Verhältnisse bedingten besonderen Zwangslage zu entziehen, und dort nicht durch sein Verhalten gegen die Grundsätze der Menschlichkeit oder Rechtsstaatlichkeit verstoßen hat.“ Über die Gesamtzahl der zugewanderten F. liegen keine vollständigen Unterlagen vor, da eine systematische Erfassung erst 1949 einsetzte. Der weitaus größte Teil der Zuwanderer, denen das Asylrecht oder die Notaufnahme verweigert wurde, blieb im Bundesgebiet. Eine Erfassung dieser Personen war nicht möglich. Daneben sind in großer Zahl Menschen nach Westdeutschland und nach West-Berlin eingeströmt, ohne die amtlichen Flüchtlingsstellen zu passieren (u.a. kamen bis zum Jahre 1953 rd. 930.000 Personen auf Grund von Zuzugsgenehmigungen der einzelnen Bundesländer, die nur z. T. später im Notaufnahmeverfahren erfaßt wurden).
Nach dem Ergebnis der Volkszählung vom 6. 6. 1961 im Bundesgebiet und Berlin (West) befanden sich unter den 56,175 Mill. Einwohnern 3,099 Mill. (= 5,5 v. H.) Deutsche aus der SBZ. Dazu kommen, lt. Volkszählungsergebnis, noch 2,766 Mill. Vertriebene (= 30,9 v. H. der im gesamten Bundesgebiet gezählten Vertriebenen), die nach der Aussiedlung zunächst in der SBZ ihren Wohnsitz hatten und später in die BRD oder nach Berlin (West) flüchteten. Für die Zeit von 1945 bis Ende 1951 wird die Zahl der Zuwanderer aller dieser Gruppen mit 931.000 Personen angenommen. Von diesen wurden in der Zeit von 1949 bis 1951 allein 492.681 Personen von den amtlichen Flüchtlingsstellen erfaßt. Seit 1952 (ab 4. 2. 1952 trat auch in West-Berlin das Bundesnotaufnahmegesetz in Kraft) meldeten sich jeweils innerhalb des ersten halben Jahres nach ihrer Zuwanderung bei den Notaufnahmedienststellen Berlin, Gießen und Uelzen:
*) Von den im Jahr 1961 vermerkten 207.026 F. verließen 155.402 vor Errichtung der Mauer in Berlin und vor Verstärkung der Sperren an der Demarkationslinie, d.h., vor dem 13. 8. 1961, die SBZ.
Die meisten F., die nach dem 13. 8. 1961 bis gegen Ende 1962 vom Bundes-Notaufnahmeverfahren erfaßt wurden, hatten sich bei Errichtung der Mauer in der BRD, in Berlin (West) oder im Ausland befunden und sind nicht mehr in das sowjetische Besatzungsgebiet zurückgekehrt. Außerdem befinden sich darunter solche Personen, die sich schon längere Zeit im Bundesgebiet aufgehalten hatten und sich erst später entschlossen, die Notaufnahme zu beantragen. Ab Mitte 1962, vor allem ab 1. 1. 1963, sind in den Flüchtlingszahlen auch solche Personen enthalten, die auf dem Wege der legalen Übersiedlung, d.h., mit einer offiziellen Ausreisegenehmigung der Zonenbehörden, das sowjetische Besatzungsgebiet verlassen durften. Zwischen dem 1. 1. 1963 und dem 30. 6. 1964 wurden vom Bundesnotaufnahmeverfahren 45.489 solcher Personen erfaßt. Der weitaus größte Teil davon waren Rentner, Invaliden und sonstige behinderte Personen, die dem Regime zur Last fielen und als Arbeitskräfte uninteressant waren. Von den erfaßten 45.489 Personen befanden sich allein 33.839 (= 74,4 v. H.) im Alter von über 65 Jahren.
Zwischen 1949 und dem 30. 6. 1964 sind durch die Bundesnotaufnahmebehörden insgesamt 2.824.411 F. erfaßt worden. Der F.-Strom war in den einzelnen Jahren Schwankungen unterworfen. Je stärker der politische Druck auf der Bevölkerung lastete, desto höher waren die Fluchtzahlen. Das Jahr 1953 mit einer Spitze von über 331.000 F. erinnert an Säuberungsaktionen innerhalb der Satellitenparteien, einen verschärften Kollektivierungszwang in allen Wirtschaftsbereichen und zwangsweise Normerhöhungen. Der Juni-Aufstand war der Höhepunkt des Jahres. Die hohen monatlichen Fluchtziffern (58.605 im März und 40.381 im Juni) sind nur im Au[S. 134]gust 1961 (47.433) wieder erreicht worden. Der nach dem Juni-Aufstand von der Regierung verkündete Neue Kurs brachte für die zweite Hälfte des Jahres und für 1954 einen vorübergehenden Rückgang. Auch die Berliner Außenministerkonferenz im Februar 1954 ließ zunächst auf eine Konsolidierung der politischen Lage hoffen. Infolge eines verschärften Kampfes der SED gegen die Kirche, Forcierung der Jugendweihe und Zwangswerbungen für die Volkspolizei nahm 1955 der F.-Strom wieder von Monat zu Monat zu. Anhaltende Versorgungskrisen, die Unterzeichnung des Warschauer Paktes und die Erklärung Molotows in Genf, wonach eine Wiedervereinigung nur durch die Bolschewisierung ganz Deutschlands möglich sein soll, trieb die Fluchtziffer des Jahres 1955 schließlich wieder auf eine Höhe von mehr als 250.000. Das Jahr 1956 brachte eine verschärfte Terrorjustiz. Der mißglückte Arbeiteraufstand in Polen und die Niederschlagung des Volksaufstandes in Ungarn ließen die Fluchtziffer auf über 279.000 ansteigen. Der im ersten Halbjahr 1957 leicht zurückgegangene F.-Strom stieg bis Ende des Jahres wieder an. Der „Geldumtausch“ vom 13. Oktober, die Änderung des Paßgesetzes und Maßnahmen gegen den Interzonenverkehr bewirkten gegenüber dem Vorjahr nur einen geringen Rückgang der Zahl der F. auf 261.000. Eine 1958 beginnende SED-Parteisäuberung sowie die Abschaffung der Lebensmittelkarten und Polizeimaßnahmen gegen die Republikflucht hatten in diesem Jahr ein Absinken auf 204.000 zur Folge. Die bemerkenswerte Reiselust Chruschtschows im Jahr 1959 (Besuch der SBZ und Reise nach den USA) machte der Bevölkerung Hoffnung auf Entspannung. Die Fluchtziffer ging auf knapp 144.000 zurück. Eine gewisse „Milde“ des SED-Regimes im Jahr 1959 brachte jedoch ebenso wie bereits 1954 keine echte „Kursänderung“.
Mit der im Frühjahr 1960 einsetzenden Zwangskollektivierung der Landwirtschaft, die Ende April abgeschlossen war, durch die Zuspitzung der „Berlinkrise“ und abermalige verstärkte Sozialisierungsmaßnahmen in Industrie, Handwerk und Handel stieg die Zahl der F. wieder auf knapp 200.000 an. Ein im Jahr 1961 einsetzender Druck auf die Arbeiter (Gesetzbuch der Arbeit), Terroraktionen gegen die Grenzgänger in Berlin sowie die aggressive Haltung Ulbrichts und Chruschtschows in der „Berlin-Frage“, ließen ab Mai 1961 die Fluchtziffern wieder sprunghaft ansteigen. Trotz vorheriger gegenteiliger Erklärungen errichtete am 13. August Ulbricht seine Mauer mitten durch Berlin. Von Anfang des Jahres bis zum 13. August sind durch die Bundesnotaufnahmebehörden 155.400 und bis Ende 1961 über 207.000 Sowjetzonenflüchtlinge erfaßt worden. Auch der Interzonenreiseverkehr wurde wieder erbarmungslos abgedrosselt.
Da die Fluchtbewegung aus der Zone für das Regime mit einem erheblichen Verlust an ausgebildeten Arbeitskräften verbunden war, sprach Ulbricht von einem illegalen „Kapitaltransfer“. Die volkswirtschaftlichen Verluste bezifferte er auf mindestens 30 Mrd. DM Ost. Das Bundesvertriebenengesetz stellt die „anerkannten“ Sowjetzonenflüchtlinge bei allgemeinen Hilfemaßnahmen den F. aus den deutschen Ostgebieten („Vertriebenen“) gleich. Der Entscheid der Notaufnahmedienststellen über die Aufenthaltserlaubnis wegen „Zwangslage“ gilt aber noch nicht als Entscheid über die Zuerkennung der Eigenschaft als „Sowjetzonen-Flüchtling“. Hierüber und damit über die Erteilung des „Flüchtlingsausweises C“ entscheiden die F.-Behörden der Länder. Zwischen 1954 und dem 31. 12. 1963 wurden 560.550 C-Ausweise für 749.937 Personen (einschl. der darin eingetragenen Kinder bis zu 16 Jahren) ausgestellt. Unter den F. befinden sich im Durchschnitt mehr als 60 v. H. im Erwerbsleben stehende Personen. Auch ein beachtlicher Teil der Intelligenz kehrte dem „Ulbricht-Staat“ den Rücken. Zwischen 1952 und 1963 waren unter den F. 51.400 Landwirte und Bauern. Den Anteil der Berufe an den Flüchtlingszahlen zeigt die Tabelle auf Seite 135.
Trotz der unmenschlichen Sperrmaßnahmen an der Berliner Mauer und längs der Demarkationslinie versuchen immer wieder F. unter Todesgefahr die Befestigungsanlagen zu überwinden. Soweit mit Sicherheit feststellbar, fanden in der Zeit vom 13. 8. 1961 bis 13. 8. 1964 bei dem Versuch, die Sperranlagen zu durchbrechen, 53 Menschen an der Sektorengrenze und an der Zonengrenze um Berlin (West) den Tod. Weitere 52 Personen ließen an der Demarkationslinie zwischen der BRD und der SBZ ihr Leben.
Am 31. 7. 1963 hatte Ulbricht, anläßlich der bevorstehenden Wahlen zur Volkskammer am 20. 10. 1963, erklärt, daß die in der BRD lebenden F. auch heute noch Bürger der „DDR“ seien. Obwohl die F. die SBZ verlassen hätten — vielfach aus Gründen persönlicher oder familiärer Natur —, bestände nach wie vor eine Treuepflicht gegenüber der SBZ. Ulbricht berief sich bei dieser Erklärung auf angebliche Anfragen von F. aus der BRD. Tatsächlich wurde im neuen Wahlgesetz der SBZ, in § 2, bestimmt, daß für die Wahlen zur Volkskammer „alle Bürger der DDR“, die am Wahltag das 18. Lebensjahr vollendet haben, „wahlberechtigt“ seien. In allen früheren Wahlgesetzen wurde die Wahlberechtigung ausdrücklich auf Personen beschränkt, die ihren Wohnsitz in der „DDR“ hatten. Nach dem endgültigen Wahlergebnis zur Volkskammerwahl am 20. 10. 1963 sollen 28.119 F., die als Bürger der „DDR“ gegenwärtig in Westdeutschland wohnen, an der Volkskammerwahl teilgenommen haben.
Der Strom der F. war und ist ein Beweis dafür, daß die überwiegende Mehrheit der Deutschen in der SBZ die dort herrschende staatskapitalistische Mißordnung ablehnen. Millionen wurden so bedrückt, daß sie ihre Heimat und ihre Existenz preisgaben. Die Flut der F. war und ist eine Abstimmung mit den Füßen gegen den Kommunismus.
Literaturangaben
- Seraphim, Peter Heinz: Das Vertriebenenproblem in der Sowjetzone. Berlin 1953, Duncker und Humblot. 202 S.
- Seraphim, Peter Heinz: Die Heimatvertriebenen in der sowjetischen Besatzungszone. (BB) 1955. 40 S. m. 2 mehrfarb. Karten.
- Die Flucht aus der Sowjetzone und die Sperrmaßnahmen des kommunistischen Regimes vom 13. 8. 1961 in Berlin. (BMG) 1961. 159 S. m. zahlr. Abb. u. Dok.
Fundstelle: SBZ von A bis Z. Neunte, überarbeitete und erweiterte Auflage, Bonn 1965: S. 132, 134
Florin, Peter | A, B, C, D, E, F, G, H, I, J, K, L, M, N, O, P, Q, R, S, T, U, V, W, Z | Flüchtlingsvermögen |