DDR von A-Z, Band 1965

Deutschlandpolitik (1965)

 

 

Siehe auch:

 

Deutschlandpolitik (1965)

 

 

[S. 96]

 

1. Taktik 1956--1958

 

 

Die Haltung der SU und des SBZ-Regimes zur Spaltung und Wiedervereinigung Deutschlands änderte sich 1955. Beide lehnten es ab, in geheimen Wahlen die Wiedervereinigung einzuleiten. Sie wußten und wissen (wie aus der Verlautbarung der SBZ-Regierung vom 1. 11. 1955 hervorgeht), daß die Bevölkerung Mitteldeutschlands den scheindemokratischen Staatskapitalismus in geheimen Wahlen ablehnen würde. Die seitherige Haltung der SU und der SBZ zur Deutschlandfrage zeigt, daß sie sich nicht mehr um Wiedervereinigung im allgemeinen Sinne bemühen, sondern eine weitgespannte, machtstrategische D. treiben. Dem Regime der SED geht es dabei wesentlich um die Bolschewisierung auch des westlichen Teils von Deutschland, der Bundesrepublik (BRD).

 

Die Linie dieser D. machte Ulbricht am 30. 1. 1957 (auf der 30. Tagung des ZK der SED) sichtbar: Wenn, so sagte er, in Westdeutschland durch eine Niederlage der Regierungspartei und „Stärkung des Aktionswillens der Arbeiterklasse eine neue Lage geschaffen wird, dann ist es möglich, zu einer Vereinbarung beider deutscher Regierungen zu kommen … einen Gesamtdeutschen Rat, der sich paritätisch aus Vertretern beider deutscher Staaten zusammensetzt, zu bilden. Die Mitglieder des Rates sollten in beiden Teilen Deutschlands auf Grund der geltenden Wahlgesetze gewählt werden … Der Gesamtdeutsche Rat würde die Funktionen einer Regierung der deutschen Konföderation ausüben und Maßnahmen vorbereiten, wie die Herstellung einer einheitlichen Verwaltung“. (Das heißt, die SBZ, die mit dem Sowjetsektor Berlins nur etwa 17 Mill. Einwohner hat, sollte in der Konföderation ebenso stark vertreten sein wie die BRD, die mit West-Berlin schon 1957 rund 52 Mill. zählte.)

 

Im Zusammenhang mit Rapackis Plan einer atomwaffenfreien Zone in Mitteleuropa schlug die Regierung der SBZ am 26. 7. 1957 der Bundesregierung vor, eine „Konföderation“ beider Staaten zu bilden, bei der das bisherige Verfahren zur Bildung der Parlamente und der Regierungen nicht geändert werden sollte. (Die „DDR“ würde danach also eine Volksdemokratie unter SED-Herrschaft bleiben, die mit den erprobten Methoden des Sowjetkommunismus zunächst die Volksdemokratisierung, später Bolschewisierung der vom freien Westen getrennten und daher wehrlosen BRD betreiben könnte.) Erläuternd behauptete das SED-Regime gleichzeitig: „Auf dem Territorium Deutschlands bestehen … zwei Staaten, von denen der eine ein hochkapitalistisches, imperialistisches und militaristisches Gepräge trägt, während der andere Staat in seinem Gesellschafts- und Wirtschaftsleben die Grundlagen des Sozialismus entwickelt hat und weiterhin zum Sozialismus strebt. Unter solchen Umständen können diese beiden Staaten nicht mechanisch von außen durch gesamtdeutsche Wahlen in einen Staat zusammengefügt werden.“

 

Maßgeblich für die D. der nächsten Jahre war der Beschluß des V. Parteitages der SED vom 16. 7. 1958. Dort heißt es (in § I, 5) über die Stellung der SBZ zur BRD: „Die DDR und ihre sozialistischen Errungenschaften werden niemals ein Objekt des Schachers sein. Fest verbunden mit der SU und dem ganzen sozialistischen Lager sind die Arbeiter-und-Bauern-Macht des deutschen Volkes und ihre sozialistischen Errungenschaften für immer unantastbar.“ Die SED forderte fast völlige Entwaffnung beider Teile Deutschlands, um — gestützt auf die übermächtigen, in nächster Nähe bereitstehenden Kräfte des Sowjetblocks — die BRD in die Hand zu bekommen. Daran schloß sie (in § III, 2) die Behauptung: „Die DDR ist der rechtmäßige souveräne deutsche Staat. In ihm wurden im Sinne der Potsdamer Beschlüsse der drei Großmächte die Lehren des zweiten Weltkrieges gezogen, die Wurzeln des Faschismus beseitigt und die Grundlagen für eine friedliche Entwicklung geschaffen.“

 

Unter Milderung der taktischen Formeln, unter Verzicht auf eine offen „sozialistische“ (d.h. staatskapitalistische) Zielsetzung bezeichnete die SED (in § VI, 4) eine „Volksaktion“ aller werktätigen Kräfte in der BRD als notwendig. Sie gab vor, „unter den Verhältnissen in Westdeutschland die Schaffung einer bürgerlich-[S. 97]demokratischen Ordnung, die auf imperialistische Bestrebungen und Forderungen verzichtet, als den realen Weg zur Sicherung des Friedens und zur Wiedervereinigung zu betrachten“, und proklamierte ein Hauptstichwort für ihre D., indem sie erklärte: „Die größte und stärkste Kraft in Deutschland ist die deutsche Arbeiterklasse. Sie trägt eine große nationale Verantwortung. Wenn sie sich einigt, ist sie in der Lage, alle anderen friedliebenden Kräfte um sich zu sammeln und die brennenden Probleme der Nation zu lösen.“ — Hier wirkte sich die „weiche“ Taktik aus, die in dieser Zeit von der SU angewandt wurde.

 

Vorschläge dieser Art wiederholen sich in allen Äußerungen, die die SED und das SBZ-Regime zur Frage der Wiedervereinigung seit 1958 taten. Sie sind oft verbunden mit der Forderung nach Souveränität der SBZ, nach Abrüstung, nach Austritt aus der NATO und nach einem Friedensvertrag sowjetischer Planung.

 

2. Taktik 1959--1961

 

 

Für die Art, in der die SBZ ihre D. während und nach der mißglückten Genfer Außenministertagung von 1959 betrieb, war die Regierungserklärung vom 9. 8. 1959 bezeichnend. Es werde, so hieß es, „in Zukunft keine Gespräche über deutsche Probleme ohne die direkte Mitwirkung der DDR geben. Die Teilnahme der DDR an der Genfer Sechsmächtekonferenz bedeutet ihre De-facto-Anerkennung durch die Westmächte“

 

Der amtlichen Propagierung dieser D. wie auch der heimlichen Infiltration dieser Gedanken diente eine wichtige Richtlinie: Das ZK der SED veröffentlichte am 17. 4. 1960 den „Deutschlandplan des Volkes — Offenen Brief an die Arbeiterschaft Westdeutschlands“, der in riesigen Auflagen verbreitet wurde. — Die SED verzichtete darin scheinbar auf revolutionäre Lösungen. Sie täuschte vor, sie wolle nur ehrliche Bündnispolitik treiben, um den Frieden zu sichern und eine „demokratische“ Entwicklung in Westdeutschland wiederherzustellen. Derart sprach die SED (mit ihr auch FDGB, FDJ und Nationale Front) nicht nur „sozialdemokratische, christliche und parteilose Arbeiter“ an, sondern auch den Mittelstand: „ehrliche Patrioten“ in Stadt und Land, ja sogar „fortschrittliche Unternehmer“.

 

Die SED betonte, vor allem müsse „der westdeutsche Militarismus ausgeschaltet“ werden. Dann würde ein nationaler Kompromiß zwischen den Deutschen hüben und drüben und zwischen „beiden deutschen Staaten“ zustande kommen. Hier legte die SED wieder den Köder einer „Konföderation, eines deutschen Staatenbundes“, um die BRD aus der NATO herauszulösen. — Die SED behauptete unter Verfälschung der Wahrheit, die BRD werde diktatorisch regiert, während die „DDR“ eine wirkliche Demokratie sei. Die Partei Ulbrichts wolle den „unterdrückten“ Westdeutschen dazu verhelfen, „daß in Westdeutschland … wenigstens eine bürgerlich-demokratische Ordnung geschaffen würde, die den Krieg ablehnt und in der die Spielregeln der bürgerlich-parlamentarischen Demokratie geachtet werden“.

 

Am 4. 10. 1960 führte Ulbricht in der regierungsamtlichen Erklärung, die er als „Vorsitzender des Staatsrates“ abgab, die Linie der D. im wesentlichen fort. Doch schob er die Rettung des Friedens in den Vordergrund, da sich die Aussichten auf raschen, auch atomaren Ausbau der in vieler Beziehung zu schwachen Verteidigungsmacht der NATO mehrten. Man dürfe, so meinte er (in Teil I), „nur einen solchen deutschen Staat als rechtmäßig anerkennen, der den Friedenswillen des deutschen Volkes vertritt, in dem der Friede eine feste Heimstatt hat, in dem die Interessen der deutschen Nation oberstes Gesetz sind: Der rechtmäßige deutsche Staat ist die DDR. Es wird die Zeit kommen, daß auch in Westdeutschland die Friedenskräfte bestimmen und Westdeutschland als friedlicher Staat bezeichnet werden kann. Dann wird die Wiedervereinigung Deutschlands bald möglich sein“.

 

Am 6. 7. 1961 beschloß die „Volkskammer“ einen „Deutschen Friedensplan“. Im Sinne des sowjetischen Friedensvertrags-Entwurfs vom 10. 1. 1959 forderte dieser Plan 1.) die Anerkennung der Souveränität der „DDR“ und der Oder-Neiße-Linie; 2.) sah er Wehrlosmachung der BRD und deren kalte „Demokratisierung“ [S. 98](d.h. Sowjetisierung) auf dem Wege einer Konföderation vor. Die „DDR“ wolle so „im Bewußtsein ihrer nationalen Verantwortung“ alles tun, um Deutschlands beiden Staaten die „Wiedervereinigung in einem friedliebenden, demokratischen und neutralen Staat“ zu erleichtern. — In Wirklichkeit aber errichtete das SED-Regime kurz darauf, auf Anweisung der SU, die Mauer in Berlin und schnürte Mitteldeutschland völlig von der BRD ab.

 

Die Vortäuschung, die D. der SED sei nur auf Frieden und gewaltloses Nebeneinander (Koexistenz) angelegt, erfüllte auch die Rede, die Ulbricht am 23. 11. 1961 vor dem ZK der SED hielt. Dort rief er den westdeutschen Arbeitern zu: „Es gibt, nur einen Weg: Die Aktionsgemeinschaft der Arbeitsgemeinschaft, der Zusammenschluß aller friedliebenden Kräfte und die Herstellung normaler Beziehungen zur DDR, der Bastion des Friedens in Deutschland. Die friedliche Lösung der nationalen Frage des deutschen Volkes setzt die friedliche Koexistenz zwischen den beiden deutschen Staaten voraus.“

 

3. Nationales Dokument (1962)

 

 

Breit ausgeführt wurde — als die SU ihre Taktik wieder verschärft hatte — die D. des SED-Regimes am 23. 3. 1962 in dem „Nationalen Dokument“. Seine Überschrift lautet: „Die geschichtliche Aufgabe der Deutschen Demokratischen Republik und die Zukunft Deutschlands“. Diese 48seitige Broschüre wurde auf der 15. Tagung des ZK der SED beschlossen, danach am 25. 3. vom „Nationalrat der Nationalen Front“ bestätigt und veröffentlicht. Nur formelle Bedeutung hatte es, daß diese nationalgeschichtlich frisierte, im Kern kommunistisch-klassenkämpferische Propagandaschrift am 17. 6. vom „Nationalkongreß der Nationalen Front“ beschlossen wurde. — Wichtig aber ist, 1.) daß das ZK der in der BRD verbotenen KPD dieses „Dokument“ schon am 30. 3. 1962 für die gesamte Parteiarbeit verbindlich machte (s. „Neues Deutschland“ vom 31. 3. 1962 S. 2); und daß 2.) der Minister für Volksbildung, Alfred ➝Lemmnitz, am 2. 4. die Anweisung gab, „den Lehrern sofort und umfassende Anleitung und Hilfe für die Behandlung des Nationalen Dokuments im Unterricht zu geben“ (s. „Deutsche Lehrerzeitung“ vom 6. 4. 1962).

 

Weit schärfer als der „Deutschlandplan“ (April 1960) wendet sich das Dokument (in Teil II) gegen „die in Westdeutschland herrschenden Kräfte“ (d.h. die Parteien des Bundestages). Ihre NATO-Politik beweise, so behauptet die SED, „daß sie auf eine nationalstaatliche souveräne und friedliche Existenz des deutschen Volkes überhaupt verzichten“. In der „DDR“, so heißt es (in Teil I), „regiert das Volk — Kommunisten und Nichtkommunisten, Christen und Atheisten — vereint in der Nationalen Front des demokratischen Deutschland und im Block der demokratischen Parteien“. Die Zukunft des deutschen Volkes, so wird (in Teil III) breit dargelegt, liege bei der SED, bei „der vereinigten Arbeiterklasse — unterstützt von allen antifaschistischen und demokratischen Kräften“. Mit der Behauptung, die BRD sei von „imperialistischen und militaristischen Kräften … beherrscht“, sucht die SED (in Teil I) die BRD zu verleumden. Von der SBZ aber wird (in Teil II) gesagt, daß sie als „der sozialistische deutsche Staat die Zukunft der ganzen Nation verkörpert“.

 

Für die Übergangszeit wird (in Teil VI) gefordert: Friedensvertrag (im Sinne des Sowjetplans von 1959), „Konföderation der beiden deutschen Staaten“ und Koexistenz. — Der sozialistische, bald auch kommunistische Aufbau in der SBZ soll (nach Teil IV) auch Westdeutschland in naher Zukunft retten: Er setzt „das große Beispiel, das es auch den westdeutschen Werktätigen erleichtern wird, den richtigen Weg zu gehen, sich der Herrschaft der Militaristen und Großkapitalisten zu entledigen, sich eine wahre demokratische Ordnung zu erkämpfen und aus eigener Erkenntnis den Weg zum Sozialismus zu beschreiten“. Damit gibt das Dokument — im Sinne der weitgeplanten, doppelbödigen D. der SED und der SBZ — die Losung der Einmischung und des Bürgerkrieges aus.

 

4. Äußerungen seit dem Parteiprogramm der SED von 1963

 

 

Diese D. wird auch in dem Parteiprogramm vertreten, das sich die SED im Jan. 1963 gab. Die Politik der 3 großen Parteien Westdeutschlands, so wird in Teil 1, I [S. 99]und vor allem 1, III behauptet, habe dazu geführt, daß „der westdeutsche Staat … ein zutiefst antinationaler Staat ist, der von den machtpolitischen Zielsetzungen des westdeutschen Imperialismus und der mit ihm verflochtenen internationalen, besonders amerikanischen Finanzgruppen geprägt ist“. Die SED fordert, es müsse „zur Überwindung von Imperialismus und Militarismus in Westdeutschland … die Einheitsfront der sozialdemokratischen, kommunistischen, christlichen und parteilosen Arbeiter verwirklicht“ werden. Als „konsequenteste antiimperialistische und nationale Kraft in Westdeutschland“ wird die KPD bezeichnet. Dieser Hinweis wird durch den doppeldeutigen Satz ergänzt: „Voraussetzung eines friedlichen demokratischen Übergangs vom Kapitalismus zum Sozialismus ist auch in Westdeutschland die Schaffung demokratischer Verhältnisse.“

 

In Teil 1, IV des Programms heißt es zu der Forderung einer Konföderation zwischen der Bundesrepublik, der „Freien Stadt“ West-Berlin und der SBZ: „Die SED hält unverrückbar an ihrem Ziel, der Wiederherstellung der nationalen Einheit Deutschlands, an der Überwindung der von den imperialistischen Westmächten im Komplott mit dem westdeutschen Monopolkapital vollzogenen Spaltung, fest.“ Ergänzend verlangt in Teil 2, V, 2 die SED „die sozialistische Nationalkultur als die Erfüllung der humanistischen Kultur des deutschen Volkes“. Wieder werden der BRD Vorschläge für Koexistenz, friedlichen Wettbewerb und Demokratisierung gemacht. Aber der Kern und die Endabsicht dieser friedlich klingenden Vorschläge wird sichtbar, wenn in Teil 3, Abs. 15 gesagt wird: „Die Werktätigen der DDR geben mit der umfassenden Verwirklichung des Sozialismus ein Beispiel für die Werktätigen Westdeutschlands. Sie sind Pioniere einer glücklichen Zukunft der ganzen deutschen Nation.“

 

Auf dem Boden dieser Ziele des Parteiprogramms der SED stand Ulbricht, als er als Vorsitzender des Staatsrates am 31. 7. 1963 eine Erklärung vor der Volkskammer abgab. — Diese (in Teil I) für die D. wichtige Erklärung enthält eine scharfe Absage gegen demokratische Selbstbestimmung und geheime Wahlen — vor allem in dem Satz: „Die deutsche Wiedervereinigung kann nur in der Vereinigung der beiden deutschen Staaten durch ihre Verständigung bestehen.“ Wichtig ist der anschließende Versuch, die Zonenflucht zu verharmlosen und die Flüchtigen für die Politik der SBZ einzuspannen. Dazu heißt es: „In Westdeutschland leben gegenwärtig viele Bürger der DDR … Sie sind … — überwiegend waren es Gründe persönlicher oder familiärer Natur — nach Westdeutschland gegangen … Sie alle sind auch heute noch Bürger der DDR … abgesehen von jenen, die auf ihren Antrag hin von der Regierung der DDR aus der Staatsbürgerschaft entlassen worden sind. Sie haben also eine Treuepflicht gegenüber der DDR.“

 

Diese D. führte die SED und damit das Regime der SBZ auch 1964 fort. Ulbricht richtete am 26. 5. 1964 einen Brief an den Bundeskanzler, in dem er forderte: „Verzicht der westdeutschen Bundesrepublik auf Revanchepolitik, auf atomare Rüstung einschließlich der Beteiligung an einer multilateralen Atomrüstung der NATO, die Abrüstung und die Verständigung über einen Friedensvertrag … freie Verhandlungen der Regierungen der deutschen Staaten …“ Dahinter steht der Plan, Westdeutschland wehrlos zu machen und es auf dem Wege der Koexistenz zu überwältigen.

 

5. Auswirkung in der Infiltration

 

 

Den Zielen der D. dient vor allem die planmäßige politische Infiltration, die die SED (wie auch fast jede der Parteien, Massenorganisationen usw.) gegen die BRD betreibt. Diese Arbeit wird seit Dez. 1961, seit der „XIV. Deutschen Arbeiterkonferenz“ in Ost-Berlin, nicht mehr als „gesamtdeutsche Arbeit“ bezeichnet, sondern wird als Arbeit nach Westdeutschland hinein betrieben. Obschon das Regime die BRD durchdringen und in seine Gewalt bringen will, behauptet es einstweilen, gedeckt durch die Berliner Mauer, ein friedliches Nebeneinander von „zwei deutschen Staaten“ sei das echte Ziel der SED und der „DDR“. Die Bezeichnung „gesamtdeutsch“ mußte deshalb stillschweigend unter den Tisch fallen. Diese Arbeit wird seit Ende 1962 verantwortlich geleitet von der „Abt. 62“ des ZK der SED unter Herbert Zinsmeister. (Vorher hieß sie: Westkommission; Abt. für [S. 100]gesamtdeutsche Arbeit; Arbeitsbüro; Abt. für Westarbeit.) Neben ihr wirken vor allem: Das Büro für Arbeiterfragen in Westdeutschland (früher Büro für nationale Gewerkschaftseinheit) beim Bundesvorstand des FDGB, geleitet von Hans ➝Jendretzky; ferner der Ausschuß für deutsche Einheit und der Nationalrat der Nationalen Front. Im Zusammenhang mit der Zwei-Staaten-These wurde 1960 ein Teil der Verantwortung für diese Arbeit der Parteiführung der KPD in der SBZ übertragen. Aber nach wie vor werden alle wichtigen Arbeitsanweisungen durch das Politbüro und das Sekretariat des ZK der SED erteilt.

 

Im Mittelpunkt steht das Werben um die westdeutsche Arbeiterschaft, insbesondere um Mitgl. des DGB und der SPD, unter der Losung „Aktionseinheit der deutschen Arbeiterklasse“. Verantwortlich für diese Bemühungen im SED-Politbüro: Hermann ➝Matern. Außerdem bemühen sich die SED und die ihr unterstellten Organisationen und Einrichtungen um Zusammenarbeit mit ehem. Offizieren, ehem. Nationalsozialisten, Unternehmern, Intellektuellen u.a. Bevölkerungsgruppen in der BRD (Tarnorganisationen, Arbeitsgemeinschaft ehemaliger Offiziere).

 

Wichtigste Arbeitsmethoden: Entsendung von illegal reisenden Instrukteuren in die BRD zur Unterstützung und Überwachung der in den Tarnorganisationen und dem illegalen KPD-Apparat tätigen Funktionäre sowie zur Überbringung der Geldmittel; Entsendung von politisch zuverlässigen und besonders überprüften Abordnungen, die vor allem in Betrieben, Hochschulen, Gewerkschaften, öffentlichen Ämtern sowie mit Volksvertretern und Kommunalpolitikern diskutieren und Kontakte aufnehmen sollen; Einladung von ebenfalls ausgesuchten Delegationen sowie von Schulkindern (Ferienaktion) aus der BRD in die SBZ „zum Studium der sozialistischen Errungenschaften“.

 

Ferner werden für die Propagierung der D. veranstaltet: „Deutsche Arbeiterkonferenzen“ und „Deutsche Gespräche“ zwischen SED-Funktionären und angeblichen SPD-Mitgl. Die Teilnehmer aus der BRD sind meist getarnte Kommunisten. Verschickung von Propagandamaterial der Nationalen Front und des Ausschusses für deutsche Einheit an zahlreiche Organisationen, Betriebe, Schulen und Privatpersonen in der BRD. Schulkinder, Angestellte, Funktionäre u.a. werden aufgefordert, mit Bekannten und Unbekannten in der BRD in briefliche Verbindung zu treten sowie Patenschaften zu übernehmen. Das Komitee zum Studium der gesellschaftlichen Verhältnisse und ihrer Veränderung in Westdeutschland soll (seit 9. 4. 1962) vor allem auch außerhalb der SBZ den Zwecken der D.. dienen. — Sehr rege wird die Linie der D. durch den Rundfunk und das Fernsehen propagiert.

 

Die jährlichen Aufwendungen für alle diese Tätigkeiten werden auf etwa 100 bis 120 Mill. DM West und 250 Mill. DM Ost beziffert. Für die propagandistische Tätigkeit ist Albert ➝Norden zuständig. In allen wichtigen politischen Fragen, zum Teil sogar in Einzelfragen, entscheidet Walter Ulbricht.

 

Literaturangaben

  • Deuerlein, Ernst: Deutschland, wie Chruschtschow es will… Sowjetische Deutschlandpolitik 1955 bis 1961. Bonn 1961, Berto-Verlag. 217 S.
  • Dokumente zur Deutschlandpolitik, III. Reihe, Bd. 1 (5. Mai bis 31. Dez. 1955), bearb. v. Ernst Deuerlein und Hansjürgen Schierbaum. (BMG) Frankfurt a. M. 1960, Alfred Metzner. 952 S.
  • Dokumente zur Deutschlandpolitik, III. Reihe, Bd. 2 (1956), in 2 Halbbänden (1963), zus. 1295 S.
  • Erfurt, Werner: Die sowjetrussische Deutschlandpolitik. 6., erw. Aufl., Eßlingen 1962, Bechtle. 275 S.
  • Friede durch die Sowjets? Eine Frage an Deutschland… 2., erw. Aufl. (hrsg. v. d. Studiengesellsch. f. staatspolit. Öffentlichkeitsarbeit). Frankfurt a. M. 1961. 128 S. m. Abb.
  • Die deutsche Frage 1952–1956 — Notenwechsel und Konferenzdokumente der vier Mächte, hrsg. v. Eberhard Jäckel (Bd. XXIII der Dokumente, hrsg. v. d. Forschungsstelle f. Völkerrecht … d. Univ. Hamburg) Frankfurt a. M. 1957, Alfred Metzner. 169 S.
  • Schmitt, Walther E.: Krieg in Deutschland — Strategie und Taktik der sowjetischen Deutschlandpolitik seit 1945. Düsseldorf 1961, Droste Verlag. 392 S.
  • Schuster, Rudolf: Die Scheinkonföderation als Nahziel der sowjetischen Deutschlandpolitik (aus „Europa-Archiv“ 1959, Nr. 12). 24 S.
  • Siegler, Heinrich von: Wiedervereinigung und Sicherheit Deutschlands. Eine dokumentarische Diskussionsgrundlage. 5., erw. Aufl., Bonn 1964, Verlag für Zeitarchive. 408 S. m. 4 Karten.
  • Siegler, Heinrich von: Von der gescheiterten Gipfelkonferenz Mai 1960 bis zur Berlinsperre August 1961. Bonn 1961, Verlag für Zeitarchive. 126 S.
  • Siegler, Heinrich von: Dokumentation zur Deutschlandfrage … 1941 bis 1961. 2., erw. Aufl., Bd. I (888 S.)

 

Fundstelle: SBZ von A bis Z. Neunte, überarbeitete und erweiterte Auflage, Bonn 1965: S. 96–100


 

Information

Dieser Lexikoneintrag stammt aus einer Serie von Handbüchern, die zwischen 1953 und 1985 in Westdeutschland vom Bundesministerium für gesamtdeutsche Fragen (ab 1969 Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen) herausgegeben worden sind.

Der Lexikoneintrag spiegelt den westdeutschen Forschungsstand zum Thema sowie die offiziöse bundesdeutsche Sicht auf das Thema im Erscheinungszeitraum wider.

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