Erziehungs- und Bildungswesen (1965)
Siehe auch:
[S. 117]Die marxistisch-leninistische Pädagogik unterscheidet drei Institutionen der „Erziehung“ der heranwachsenden Jugend: Familie, Schule und Jugendorganisation. Die Schule — insbesondere die „allgemeinbildende“ im Unterschied zur „berufsbildenden“ — gilt jedoch als die „Hauptkraft“ der Erziehung. Die FDJ, die Jungen Pioniere und die Familie sind verpflichtet, ihr „Hilfe“ zu leisten. Der Einfluß der Familie ist — soweit er sich nicht gleichschalten ließ — trotz gegenteiliger Beteuerungen ständig zurückgedrängt worden.
1. Das Typische der Erziehung
Der Marxismus-Leninismus postuliert: Das E. ist auf allen Stufen geschichtlicher Entwicklung eine gesellschaftliche Erscheinung und als Bestandteil des „Überbaus“ von der ökonomischen und somit auch von der Klassenstruktur der jeweiligen Gesellschaftsformation bedingt. Erst die „sozialistische Gesellschaft“, d.h. das kommun. totalitäre Regime, ermögliche eine Erziehung und Bildung im wahren Sinne des Wortes, schaffe die Voraussetzungen für allseitig entwickelte Persönlichkeiten. (Das Typische der Erziehung wird von der kommunistischen Pädagogik allgemein in der bewußten Einwirkung auf die Veränderung des ganzen Menschen gesehen. Bildung wird in Abweichung vom traditionellen Begriff als Prozeß und Ergebnis der Aneignung von Kenntnissen, Überzeugungen, Fähigkeiten und Fertigkeiten, die für die angeblich „wissenschaftliche Weltanschauung“ unerläßlich sind, definiert; Bewußtseinsbildung.) Das E. in der Bundesrepublik wird als eine von der Ideologie des Militarismus und Imperialismus durchdrungene Institution diffamiert, das öffentliche E. der SBZ dagegen als Ausdruck des gesellschaftlichen Fortschritts und eines echten Humanismus hingestellt. Wenn auch seine Ausrichtung auf die Interessen der Arbeiterklasse betont wird, wird doch gleichzeitig behauptet, daß es mit den Anforderungen des gesellschaftlichen Fortschritts den Interessen „aller Bürger“ gerecht werde (VI. Pädagogischer Kongreß).
2. Der Weg zur „sozialistischen Erziehung“
Der Aufbau des öffentlichen E. erfolgte nach 1945 unter der Parole „der allseitigen Demokratisierung“, wobei vorgegeben wurde, in einer „demokratischen Schulreform“ die schulpolitischen Kampfziele der deutschen Arbeiterbewegung und der „fortschrittlichsten Pädagogen des Bürgertums“ zu verwirklichen. Mit dieser Begründung wurde die relative Autonomie des überlieferten E. radikal beseitigt und das Schul- und Hochschulwesen in ein Instrument der kommun. Führung verwandelt, das von ihr bewußt als Mittel der „revolutionären Umgestaltung“ gehandhabt wird. Sie orientiert sich dabei am sowjet. E. und an der Sowjetpädagogik.
Die „demokratische Schulreform“ begann mit der Zerschlagung der überlieferten Schulorganisation und mit deren Neugestaltung durch das „Gesetz zur Demokratisierung der deutschen Schule“ (Sommer 1946). Es schuf die Einheitsschule. Sie beseitigte den Parallelismus von Volksschule und höherer Schule und führte die radikale Trennung von Kirche und Schule durch, die später auch in der Verfassung der „DDR“ verankert wurde. Die Schaffung der einheitlichen „deutschen demokratischen Schule“ wird heute noch als Liquidierung des Bildungsprivilegs der alten besitzenden Klasse gefeiert.
Mit der traditionellen Schule wurden auch die Bedingungen der funktionalen Erziehung im Rahmen einer pluralistischen Gesellschaft zerstört. Das in der Stalin-Ära aufgebaute öffentliche E., dessen Kern die damals geschaffene kommun. Lernschule war, ist seit 1955 weitgehend reorganisiert worden. Die seitdem durchgeführten Maßnahmen erhielten ihre organisatorische Form in dem „Gesetz über die sozialistische Entwicklung des Schulwesens in der DDR“ (2. 12. 1959). An die Stelle der 8klassigen Grundschule tritt die 10klassige allgemeinbildende polytechnische Oberschule als Pflichtschule (Abschluß des Umbaus 1964). Sie hat zusammen mit den sonstigen Formen des Schul- und Hochschulwesens die Aufgabe, Erziehung und Bildung aufs engste mit dem „Leben“, vor allem mit der [S. 118]gesellschaftlichen Produktion zu verbinden. Am stärksten kommt das in der polytechnischen Bildung und Erziehung zur Geltung.
3. Polytechnische Bildung und Erziehung (PE)
Die heute praktizierte Polytechnische Bildung und Erziehung (PE) orientiert sich an Ausführungen von Marx und Engels. Die SU war im Anschluß an die Oktoberrevolution bemüht, die Anregungen beider Klassiker zu verwirklichen. In der Stalin-Ära sind die entsprechenden Bestrebungen praktisch aufgegeben worden, wurden aber seit 1953 erneut aufgenommen. Die Reformversuche führten in der SU (1958) zu einer Reorganisation des gesamten Schulwesens unter dem Aspekt der Verbindung des Unterrichts mit der produktiven Arbeit in der Industrie und Landwirtschaft. Die SBZ hat sich dieser Zielsetzung angepaßt, wenn sie auch die Verbindung des Unterrichts mit der produktiven Arbeit weniger intensiv gestaltet hat als die SU. Wenn auch diese Verbindung alle Arten der Bildung und Erziehung zu durchdringen hat, wirkt sie sich doch am stärksten in der PE. aus. Die PE. umfaßt 1. die Einführung in die mathematisch-naturwissenschaftlichen Grundlagen der Produktion; 2. die Vermittlung eines Systems technologischer Grundkenntnisse, d.h. allgemeiner technischer Kenntnisse (vor allem vom Aufbau und von der Wirkungsweise einiger wichtiger Maschinen und von der Elektrotechnik sowie Vertrautheit mit den Grundzügen der Technologie der Hauptproduktionszweige (metallurgische, chemische Produktion, Maschinenbau, Energetik, Landwirtschaft); 3. die Aneignung entsprechender Fertigkeiten und Fähigkeiten im Umgang mit Werkzeugen, Meßinstrumenten und Maschinen; 4. eine Einführung in die „sozialistische“ Produktion, in die Wirtschaftspolitik, die Organisation der Arbeit u. dgl. Nach dem neuen Schulgesetz ist die PE. „Grundzug“ und „Bestandteil“ des Unterrichts und der Erziehung in allen Schuljahren. Die PE. zielt mit der Umgestaltung des traditionellen Unterrichts auf die „sozialistische Arbeitserziehung“, d.h. die Verinnerlichung der vom Regime als notwendig erachteten Arbeitstugenden. Die Verbindung der Schule mit dem Betrieb wird dabei nicht nur als das entscheidende Kettenglied der PE., sondern auch der weiteren Entwicklung des kommun. Erziehungswesens angesehen.
Der polytechnische Unterricht setzt mit der in den Klassen 1 bis 6 im „Werken“ vermittelten technischen Elementarbildung ein. Ab Klasse 7 folgen der Unterrichtstag in der sozialistischen Produktion sowie die Fächer „Einführung in die sozialistische Produktion der Industrie und der Landwirtschaft“, ab Klasse 9 Technisches Zeichnen. Kern dieser PE. sind die Grundlehrgänge des Unterrichtstages für Metallbearbeitung, Elektrotechnik, landwirtschaftliche Produktion und Maschinenkunde. Sie waren bisher nicht auf einen bestimmten Beruf ausgerichtet. In industriellen und landwirtschaftlichen Betrieben durchgeführt, sollten sie grundlegende Kenntnisse und Fähigkeiten für alle einschlägige Berufsarbeit vermitteln. Diese Gestaltung der PE. ist in der letzten Zeit als überholtes Stadium der Entwicklung hingestellt worden. Die zehnklassigen Oberschulen haben 1962 die Aufgabe erhalten, von dieser allgemeinen polytechnischen Bildung zur Vermittlung einer Grundausbildung in einer Reihe verwandter Berufe fortzuschreiten.
4. Neue „Grundsätze für die Gestaltung des einheitlichen sozialistischen Bildungssystems“
Eine auf Vorschlag des VI. Parteitages der SED gebildete „Staatliche Kommission zur Gestaltung des einheitlichen sozialistischen Bildungswesens“ arbeitete neue Grundsätze für die „weitere schrittweise Entwicklung des Bildungswesens“ in der SBZ aus, die Anfang Mai 1964 veröffentlicht wurden. Es wird u.a. festgestellt, daß das derzeitige Bildungswesen „noch nicht in vollem Umfange der Aufgabe gerecht wird, die Jugend zu einer echten sozialistischen Arbeitsdisziplin zu erziehen und die jungen Menschen so vorzubereiten, daß sie bereit sind, überall dort zu arbeiten, wo es der sozialistische Aufbau unserer Republik erfordert; noch nicht in allen Bildungseinrichtungen das Ergebnis der pädagogischen Arbeit daran gemessen wird, wie sich die Schüler und Studenten in der Produktion bewähren; im Unterricht und in der außerschulischen Bildung und Erziehung einer [S. 119]lebensnahen staatsbürgerlichen Erziehung zuwenig Aufmerksamkeit geschenkt wird, und häufig das koordinierte Vorgehen aller erzieherischen Kräfte fehlt“.
Um diese und andere Mängel zu beseitigen, schlägt die Kommission verschiedene Neuerungen vor. Bereits in den Kinderkrippen sollen Sprache und Denken so weit entwickelt werden, daß die Dreijährigen den Grundwortschatz der Umgangssprache verstehen und Anweisungen der Erwachsenen folgen können. In den Kindergärten sind die Kinder zielstrebig auf die Schule vorzubereiten. Auch Kinder, die die Kindergärten nicht besuchen, sind „nach Maßgabe der Möglichkeiten in das System der gesellschaftlichen Erziehung einzubeziehen“.
Es wird ferner vorgeschlagen, die 10klassige allgemeinbildende polytechnische Oberschule in eine Unterstufe (Kl. 1–3), eine Mittelstufe (Kl. 4–6) und eine Oberstufe (Kl. 7–10) zu gliedern. In der Unterstufe sind die Anfangsgründe der Mathematik, die über das herkömmliche Rechnen hinausgehen, auszubilden, „Kenntnisse und Erkenntnisse über die Natur, die Gesellschaft, die Arbeit und das Leben im Sozialismus zu vermitteln“. Als charakteristisch für die Mittelstufe wird die „Herausbildung des sozialistischen Staatsbewußtseins und einer sozialistischen Einstellung zur Arbeit“ bezeichnet. In der Oberstufe setzen die unmittelbare Berufsvorbereitung und die berufliche Grundausbildung ein.
Besonderes Gewicht wird auf die Einrichtung und Weiterentwicklung technischer, mathematischer, sprachlicher, musischer u.a. Spezialschulen gelegt, die begabte und talentierte Schüler zur Hochschulreife führen. Das Fern- und Abendstudium, vor allem auf dem Gebiet der technischen Wissenschaften und der Landwirtschaftswissenschaft, wird der besonderen Förderung empfohlen. Angekündigt wird ebenfalls eine Umgestaltung der bestehenden Formen und Ordnungen der Promotion, Aspirantur, Assistenz und Habilitation. (Berufsschulen, Fachschulen, Hochschulen, Vorschulerziehung, Erziehungswissenschaft)
Literaturangaben
- Froese, Leonhard: Die ideengeschichtlichen Triebkräfte in der russischen und sowjetischen Pädagogik. Heidelberg 1956, Quelle und Meyer. 198 S.
- Baumgart, Fritz: Das Hochschulsystem der sowjetischen Besatzungszone. (BMG) 1953. 31 S.
- Lange, Max Gustav: Wissenschaft im totalitären Staat. Die Wissenschaft der sowjetischen Besatzungszone auf dem Weg zum „Stalinismus“, m. Vorw. v. Otto Stammer (Schr. d. Inst. f. pol. Wissenschaft, Berlin, Bd. 5). Stuttgart 1955, Ring-Verlag. 295 S.
- Dübel, Siegfried: Die Situation der Jugend im kommunistischen Herrschaftssystem der sowjetischen Besatzungszone Deutschlands. 2., erw. Aufl. (BB) 1960. 115 S.
- Jeremias, U.: Die Jugendweihe in der Sowjetzone. 2., erg. Aufl. (BMG) 1958. 120 S.
- Lange, Max Gustav: Totalitäre Erziehung — Das Erziehungssystem der Sowjetzone Deutschlands. Mit einer Einl. v. A. R. L. Gurland (Schr. d. Inst. f. pol. Wissenschaft, Berlin, Bd. 3). Frankfurt a. M. 1954, Verlag Frankfurter Hefte. 432 S.
- Lücke, Peter R.: Das Schulbuch in der Sowjetzone — Lehrbücher im Dienst totalitärer Propaganda. (BMG) 1961. 110 S.
- Mieskes, Hans: Pädagogik des Fortschritts? — Das System der sowjetzonalen Pädagogik. München 1960, Juventa-Verlag. 312 S.
- Möbus, Gerhard: Klassenkampf im Kindergarten — Das Kindesalter in der Sicht der kommunistischen Pädagogik. Berlin 1956, Morus-Verlag. 110 S.
- Möbus, Gerhard: Erziehung zum Haß — Schule und Unterricht im sowjetisch besetzten Deutschland. Berlin 1956, Morus-Verlag. 111 S.
- Möbus, Gerhard: Kommunistische Jugendarbeit — zur Psychologie und Pädagogik der kommunistischen Erziehung im sowjetisch besetzten Deutschland. Berlin 1957, Morus-Verlag. 124 S.
- Möbus, Gerhard: Psychagogie und Pädagogik des Kommunismus. Köln 1959, Westdeutscher Verlag. 184 S.
- Säuberlich, Erwin: Vom Humanismus zum demokratischen Patriotismus. — Schule und Jugenderziehung in der sowjetischen Besatzungszone (Rote Weißbücher 13). Köln 1954, Kiepenheuer und Witsch. 170 S.
Fundstelle: SBZ von A bis Z. Neunte, überarbeitete und erweiterte Auflage, Bonn 1965: S. 117–119
Erziehung, Sozialistische | A, B, C, D, E, F, G, H, I, J, K, L, M, N, O, P, Q, R, S, T, U, V, W, Z | Erziehungswissenschaft |