Militärpolitik (1965)
1. Getarnte Anfänge
Das Potsdamer Abkommen sah auch für die SBZ eine völlige und dauernde Entwaffnung vor. Doch die SU und später in ihrem Aufträge die kommun. Machthaber der SBZ betrieben eine sehr wirksame M., indem sie militärische und militärähnliche (paramilitärische) Verbände aufstellten und weite Bereiche des öffentlichen und politischen Lebens in den Dienst der Wiederbewaffnung stellten. — Schon vor Mitte 1948 traf die SU insgeheim einige Vorkehrungen für ihre M.:
1. Sie gab die (seit Aug. 1946 im Gegensatz zu den Polizeien der westlichen Besatzungszonen zentralisierte) nichtmilitärische Volkspolizei schon 1945 in die Hand der SED, um zuverlässige Kräfte für die künftige Zonenarmee zu sammeln; 2. sie baute seit 1. 12. 1946 eine militärähnliche kasernierte Grenzpolizei auf, die bis Mitte 1948 auf 9.100 Mann anwuchs, während in den westlichen Besatzungszonen an derartiges noch nicht zu denken war; 3. sie sammelte unter den deutschen Kriegsgefangenen in der SU Kräfte für die geplante Zonenarmee.
Seit dem 3. 7. 1948 ließ die SU militärische Einheiten, die sog. Kasernierte Volkspolizei (KVP), auf bauen. Sie sollten angeblich nur polizeiliche Bereitschaftsverbände sein, wuchsen aber schon bis Anfang 1951 zu einer einsatzfähigen Armee von rd. 65.000 Mann an, die 24 verstärkte, mit Artillerie und Panzern versehene Regimenter und zahlreiche Ausbildungs- und Sondereinheiten umfaßte. Seit Jan. 1952 wurden aus diesen Regimentern (die bis Jan. 1951 Bereitschaften, danach VP- Dienststellen hießen) 6 motorisierte Divisionen zusammengestellt. Die Errichtung von Seestreitkräften der KVP begann Mitte 1950, die Vorbereitung einer Luftwaffe im März 1951.
Seit Mitte 1951 arbeitete geheim unter Willi ➝Stoph eine Stelle zur Organisierung einer Rüstungsindustrie, seit Okt. 1951 unter der Bezeichnung „Büro für Wirtschaftsfragen“. Die Grenzpolizei war am 1. 3. 1951 etwa 17.000 Mann stark; die Transportpolizei war von 1946 bis 1951 auf rd. 8.000 Mann angewachsen; und die seit Frühjahr 1950 aufgebauten Wachverbände des Ministeriums für Staatssicherheit umfaßten 1951 mindestens rd. 6.000 Mann. Diese drei Verbände mit zus. rd. 31.000 Mann waren schon 1951 militärähnliche Polizeitruppen. — Die als „Volkspolizei“ getarnte Armee wurde bis Frühjahr 1952 überwiegend aus Freiwilligen gebildet, die meist glaubten, einer bloßen Polizei beizutreten, und weit besser verpflegt wurden als sehr große Teile der Bevölkerung.
Grundlegend und bezeichnend für die Armee und die Polizeitruppen ist die politische Überwachung und Anleitung durch die Politorganisationen der SED in den bewaffneten Kräften (Politverwaltung, Politschulung). Sie will Offiziere und Mannschaften zu dem Bewußtsein erziehen, sie seien wichtige Werkzeuge und Vorkämpfer 1. der SED, als Vorhut der Arbeiterklasse, und 2. der „antifaschistisch-demokratischen Ordnung“ (später, seit Anfang 1956, der „Arbeiter-und-Bauern-Macht“). — Von großer Bedeutung ist auch die scharfe Überwachung durch jene Organe und Spitzel des Ministeriums für Staatssicherheit, die innerhalb der Verbände eingesetzt sind. — In der Armee und bei den Polizeitruppen war (und ist bei den Spitzenstäben noch heute) eine dritte Kontrollorganisation tätig, die zugleich anleitend wirkt: die sowjet. Berater (Sowjetnik) für die militärische Ausbildung und Führung der Truppe. Ihr Einfluß macht deutlich, daß die Armee der SBZ ein Werkzeug des sowjet. Imperialismus sein soll.
Bis April 1952 wurde die Abschirmung der M. dadurch verstärkt, daß die SED behauptete, der SBZ läge eine Bewaffnung völlig fern. So fehlte in dem (bis zum 5. 4. 1954 geltenden) II. Parteistatut der SED vom 24. 7. 1950 jeder Hinweis auf eine Verteidigungspflicht der Mitglieder. Ebenso verwarf Walter ➝Ulbricht, als er am 9. 5. 1951 als 1. Stellv. des Ministerpräsidenten vor der Volkskammer sprach, jede Rüstung. Er sagte: „Wozu brauchen wir in Deutschland ein Heer, wo wir unsere ganze Kraft benötigen, um unsere deutsche Heimat wiederaufzubauen, und wo es in Europa niemanden gibt, der die Absicht hat, die Beziehungen mit einem friedliebenden Deutschland zu stören?“ Und Ministerpräsident Grotewohl erklärte am 11. 8. 1951: „Die Volkspolizei der DDR hat keinen militärischen Charakt[S. 286]er … Sie hat die Aufgabe, den friedlichen Aufbau der DDR gegen Saboteure, Spione und Diversanten zu schützen.“ Wider besseres Wissen stellte er die KVP als nicht-militärisch hin.
2. „Nationale Streitkräfte“ (1952 -1955)
Seit Mai 1952 bezeichnete die SED „nationale Streitkräfte“ als notwendig und betrieb ihre M. ziemlich offen. Dazu trug manches bei: 1. Auf die Dauer ließ sich die Armee nicht verheimlichen; 2. die SU hatte am 10. 3. 1952 einem nach ihren Wünschen neutralisierten, wiedervereinigten und „demokratisierten“ (d.h. auf kaltem Wege bolschewisierten) Deutschland „eigene nationale Streitkräfte“ in Aussicht gestellt; 3. die Armee sollte offen zur Stärkung der Staatsgewalt der SBZ beitragen, die von der 2. Parteikonferenz der SED (am 12. 7. 1952) zum „Hauptinstrument bei der Schaffung der Grundlagen des Sozialismus“ erklärt wurde.
Die Regierung der SBZ gab ihre Streitkräfte unter Vorwänden bekannt. Sie stellte die Verteidigungsbemühungen der Westmächte gegen die Übermacht der sowjet. Rüstung als „imperialistische Kriegstreibereien“ hin (Pieck am 1. 5. 1952) und bezeichnete die immer weiter hingezögerte Verteidigungsplanung der unbewaffneten BRD als „wiedererstehenden Militarismus in Westdeutschland“ (Ulbricht am 3. 5. 1952). Ulbricht forderte „den bewaffneten Schutz der DDR“. Außenminister Dertinger teilte am 8. 5. 1952 die bevorstehende Einrichtung „nationaler Streitkräfte“ mit. — Die SED mußte die Forderung nach einer „nationalen“ Armee im Bereiche des FDGB und auch der FDJ mit Friedenskampf-Losungen bemänteln. Diese Propaganda bewog am 30. 5. 1952 das IV. Parlament der FDJ, im Art. 4 der FDJ-Satzung, den Dienst in der Armee zu fordern: „Der Dienst in der Deutschen Volkspolizei ist für die Mitglieder der FDJ Ehrendienst.“
Die 2. Parteikonferenz der SED. welche die bisher „antifaschistisch-demokratische DDR“ in eine Volksdemokratie umwandelte und den raschen Übergang zum Sozialismus beschloß, legte auch die Rolle der Streitkräfte bei der geplanten Sowjetisierung des gesamten Deutschland fest. In Ulbrichts Referat hieß es: „Die nationalen Streitkräfte werden die Armee des vom Imperialismus befreiten Volkes in der DDR sein … ein Werkzeug zur weiteren Stärkung der volksdemokratischen Grundlagen unserer staatlichen Ordnung …. Sie werden erfüllt sein vom Willen zur Wiederherstellung der Einheit unseres Vaterlandes. Die nationalen Streitkräfte werden sich brüderlich verbunden fühlen mit allen patriotischen Kräften Westdeutschlands.“ Bezeichnenderweise hatte Ulbricht vorher in seinem Referat erklärt: „Die Schaffung nationaler Streitkräfte wird der Volksbewegung in Westdeutschland einen stärkeren Rückhalt und Mut in ihrem Kampf für den Sturz der Bonner Vasallenregierung geben“ (Neue Welt 1952, Nr. 15, S. 1810 u. 1825). — Von der „nationalen“ Verbrämung der M. versprach sich die SED starke Wirkungen auf breite mittelständische Volksteile, auf ehemalige Soldaten und vormalige Nationalsozialisten in der SBZ und in der Bundesrepublik. Deshalb wurde auch die Nationaldemokratische Partei (NDPD) stark eingespannt.
Um die Vergrößerung der Armee zu erreichen, mußten Regierung und SED immer stärker zu Zwangseinziehungen greifen (Wehrpflicht), die z. B. als Parteiauftrag oder Verbandsauftrag (der FDJ) getarnt wurden. — Schon am 1. 9. 1952 kam es zur Aufstellung des ersten, 3 Divisionen umfassenden Armeekorps, dem bald ein zweites folgte. Ende 1952 war die KVP (mit Luft und See) etwa 110.000 Mann stark. Vorwiegend als Armeeministerium diente nach wie vor das Ministerium des Inneren (MdI). Doch die Bildung eines Staatssekretariats für Innere Angelegenheiten im MdI (am 19. 2. 1953) zeigte, daß die innere Verwaltung nur eine Seite des MdI ausmachte.
Neben die Armee, die auch ihre See- und Luftstreitkräfte ausbaute, traten seit Mitte 1952 zwei militärähnliche Milizen: 1. die der vormilitärischen Ausbildung dienende Gesellschaft für ➝Sport und Technik (GST); 2. die Kampfgruppen (KG) der SED. Bis zum 7. 8. 1952, an dem der Ministerrat die GST errichtete, lag die vormilitärische Ausbildung bei der FDJ. Sie verlor sie, da sie organisatorisch versagte und da ihre Mitglieder sich noch allzusehr in pazifistischen Vorstellungen [S. 287]bewegten. — Militärisch gewichtig waren wie bisher die Polizeitruppen: 1. die Grenzpolizei, die seit Mai 1952 nicht mehr dem Innen-, sondern dem Staatssicherheitsministerium (MfS) unterstand; 2. die Transportpolizei, seit Jan. 1953 ebenfalls dem MfS untergeordnet; 3. die Wachverbände des MfS.
Während des Juni-Aufstandes 1953 gingen Teile der allgem. Volkspolizei (DVP) zum Volke über, doch die Wacheinheiten des MfS ließen sich von der SED überall bedenkenlos neben den Sowjettruppen gegen das Volk einsetzen. Die Zuverlässigkeit der Armee (KVP), auf deren Einsatz die SU vorsichtshalber nur in äußersten Notfällen zurückgriff, wurde nicht ernsthaft geprüft. Nach dem 17. Juni ging die GST stark zurück, da FDJ und SED im Zeichen des Neuen Kurses die Zwangswerbung für sie lascher betrieben.
Die Erfahrungen mit der Volkspolizei (DVP) und der GST sowie die Ungewißheit darüber, wie sich die KVP im Ernstfälle bewähren würde, bewogen die Regierung zu ständiger Siebung und Härtung der KVP in politischer und militärischer Beziehung. Ferner wurden 1. die DVP überprüft; 2. kasernierte Bereitschaftskommandos der DVP (unabhängig von den Wacheinheiten der Staatssicherheit) aufgestellt; 3. bei Wiederbelebung der GST deren politische Schulung mindestens so stark betrieben wie die militärische; 4. neue KG der SED errichtet, wo es gegen den stillen Widerstand vieler Industriearbeiter und Behördenangestellten am ehesten möglich war. Noch rücksichtsloser als vor dem 17. Juni 1953 wurde die KVP nach Beendigung des „Neuen Kurses“ zu einer bewußt politischen Armee entwickelt und entsprechend geschult. Die KVP warb nicht nur mit sozialistischklassenkämpferischen, sondern auch mit „nationalen“ Losungen, aber das allgemeine Mißtrauen der Bevölkerung, vor allem der Jugend, konnte sie nicht überwinden. Nur eine Minderheit ließ sich für den Dienst in der KVP begeistern — und die SED versuchte, diese Minderheit zu ihrem zuverlässigen Werkzeug zu erziehen. Die SED konnte es nicht wagen, die allgemeine Wehrpflicht einzuführen, obgleich diese zu den grundsätzlichen Forderungen marxistisch-leninistischer M. gehört.
Der IV. Parteitag der SED machte (am 5. 4. 1954) im neuen Statut (9. Abs. der Einl.) die „aktive Verteidigung der Heimat, des Staates der Arbeiter und Bauern“ verbindlich. Bei seiner Satzungsänderung am 18. 6. 1955 machte es der FDGB (in Teil 1, § 3) seinen Mitgliedern zur Pflicht, „die DDR und ihre Errungenschaften zu verteidigen“, d. h. in der Armee zu dienen. Auch der Sport wurde für die M. eingespannt: Manfred Ewald (SED), der Vors. des Staatl. Komitees für Körperkultur und Sport, erhob auf der III. Sportkonferenz (25. 11. 1955) die Forderung, den Massensport für die vormilitärische Erziehung einzusetzen. (Sport)
Die Propaganda für die M. stieß immer wieder auf Widerstände in der Bevölkerung. Deshalb erachtete es z. B. Innenminister Willi Stoph, Chef der KVP, am 14. 4. 1954 für „erforderlich, den Ungeist des Pazifismus … entschieden zu bekämpfen“. — Auf der gleichen Linie lag die Verfassungsergänzung, die die Volkskammer am 26. 9. 1955 beschlossen hatte. Sie erhob den Verteidigungsdienst zur „nationalen Ehrenpflicht der Bürger der DDR“ und führte damit grundsätzlich die Wehrpflicht ein, auch wenn diese vorläufig noch nicht ausdrücklich und allgemein durchgesetzt wurde.
3. Erste Jahre der Nationalen Volksarmee
Bereits die KVP wurde mit dem Anspruch erzogen, sie sei die eigentlich rechtmäßige, die gesamtdeutsche Armee. Seit dem 18. 1. 1956, seit der Umbenennung der KVP in Nationale Volksarmee (NVA) wird dieser Anspruch noch stärker betont. Sie soll „den Interessen des ganzen deutschen Volkes dienen … auf der Wacht für die Sicherung des Friedens“, so erklärte Stoph am 18. 1. 1956, als er die Errichtung des Ministeriums für Nationale Verteidigung ankündigte. Sie soll ein Machtinstrument werden, das entscheidend an der geplanten Bolschewisierung auch der BRD mitwirkt. „Die Arbeiterklasse Deutschlands“, so sagte Stoph am 12. 6. 1957, „verfügt in Gestalt der NVA über eine reguläre, den Anforderungen eines modernen Krieges entsprechende Armee“.
[S. 288]Vor diesem Hintergrund muß die gesamte M. der SBZ gesehen werden: die Hebung der Politschulung, der Diziplin und der militärischen Schlagkraft aller bewaffneten Kräfte, ferner der KG und GST. Die ständige Überwachung der Armee und aller anderen Verbände muß dabei seit 1956 immer wieder verschärft werden, denn der Widerspruch zwischen den demokratisch und national klingenden Losungen der „DDR“ einerseits und der Wirklichkeit dieses Gebildes andererseits ist zu groß. Mehr denn je ist die M. der SED auf die Jugend angewiesen. Deshalb verlangte das Statut der FDJ vom 27. 5. 1955 den Einsatz der Mitglieder in der vormilitärischen Erziehung und den Wehrdienst in jeder Form. Das Statut der FDJ vom 15. 5. 1959 forderte dies noch bestimmter (§ 1„11- Abs.).
Weil die Militärpropaganda wenig anschlug, wurden neben der Armee die 4 Polizeitruppen ausgebaut: Die Grenzpolizei kam Anfang 1956 auf etwa 34.000 Mann; die Transportpolizei auf rund 9.000; die militärähnlichen Bereitschaftskommandos der Volkspolizei zählten rund 13.000; die aus den Wacheinheiten der Staatssicherheit entstandenen „Inneren Truppen“ etwa 15.000 Mann. Auch die KG fielen seit Mitte 1954 seit der teilweisen Ausstattung mit mittelschweren Infanteriewaffen nicht nur politisch, sondern auch militärisch ins Gewicht; und die GST entlastete die NVA nicht unbeträchtlich. — Die Unterbringung großer Teile des Ministeriums für Nationale Verteidigung und beträchtlicher Verbände der Polizeitruppen, dazu der Politoffiziers-Schule der NVA im Sowjetsektor von Berlin verletzt vor 1956 wie seitdem den Viermächte-Status Berlins. Dies gilt auch von den häufigen bewaffneten Aufmärschen und Paraden, nicht zuletzt der KG.
Die NVA trägt von Anfang an nicht mehr eine sowjetähnliche Uniform, sondern wieder die feldgraue deutsche des 1. und 2. Weltkrieges, aber die Sowjetarmee gilt als ihr Vorbild. Und unter Berufung auf den Marxismus-Leninismus soll sie zu einem Werkzeug des Sowjetimperialismus erzogen werden. Diese Fesselung an die SU wird dadurch verstärkt, daß die NVA seit 28. 1. 1956 dem Vereinten Oberkommando des Warschauer Beistandspaktes untersteht, das ein Werkzeug der Sowjetarmee ist.
Nach Umbenennung der KVP in NVA wurde ihre Bewaffnung noch entschiedener modernisiert und verstärkt als vorher. Im Frühjahr 1957 wurde eine Flugabwehr (Fla)-Div. errichtet. — Die Polizeitruppen wurden am 15. 2. 1957 dem allzu mächtig gewordenen MfS entzogen, dem MdI unterstellt und umgegliedert: Die Bereitschaftspolizei (vordem „Innere Truppen“) wurde von Mai bis Okt. 1957 auf 10 mot. Bereitschaften (= Regimenter) und 1 Lehrbereitsch. gebracht, nachdem sie die kasern. Bereitschaften der allgem. Vopo (außer in Ost-Berlin) übernommen hatte. Im Herbst 1957 wurde die Grenzpolizei in Abt. (= Btl.), in Bereitschaften (= Rgt.) und Abschnitte, bald als Brigaden (= Div.) bezeichnet, organisiert.
Seit 1956 verstärkte die SED ihre Anstrengungen, aus der Armee (wie auch den Polizeitruppen und Milizen) eine streng kommun. Parteiarmee zu machen. Dies vergrößerte die Spannungen in der Armee. Seit Mitte 1956 verschärften sich die Unstimmigkeiten zwischen den Offizieren, die mehr militärisch als parteipolitisch denken, und jenen, die völlig der kommun. Schulung erlegen sind. Fast alle Offiziere, die aus der Deutschen Wehrmacht stammen und die KVP mitaufgebaut haben, wurden seit 1957 aus Kommandostellen entfernt, nicht wenige entlassen. — Stark war auch der Widerwille freiheitlich denkender Soldaten und Offiziere. Die nicht geringe Zahl von Angehörigen der NVA und der Polizeitruppen, die die Flucht wagen, zeugt davon. — All diesen Spannungen und Widerständen sucht das Regime mit allen Mitteln zu begegnen, auch durch den Aufbau eines politisch zuverlässigen Reserveoffizierkorps. Die Furcht vor dem Emporkommen eines Offizierkorps, das sich von soldatischen Ehrbegriffen, Korpsgeist und nichtkommun. gesamtdeutschem Nationalbewußtsein leiten läßt, bewog die SED dazu, im Juni 1960 die Kadettenschule auflösen zu lassen.
Die starke Entfaltung der KG wird darin sichtbar, daß im März 1958 ihre Durchgliederung in Bataillone bekannt wird, über denen Unterstäbe, Kreisstäbe und Bezirksstäbe stehen. — Im Frühjahr 1958 wird erkennbar, daß die Ausbildung der [S. 289]NVA, die nun chemische Kompanien erhält, den Bedingungen eines Atomkrieges angepaßt wird. Dies zeigt ebenso wie die ständige Verbesserung ihrer Bewaffnung, daß die NVA für ernsten Kriegseinsatz vorbereitet wird. Etwa im Nov. 1958 wurde die 6. mot. Schützen-Div. aufgelöst. Doch wurde dies durch Aufstellung von 3 Ausbildungs-Regimentern und Verstärkung der Feuerkraft der NVA ausgeglichen.
Wichtig war in den folgenden Jahren: 1. die Durchführung vieler Lehrgänge für Reserveoffiziere, Unterführer und Reservisten der NVA; 2. die im Herbst 1959 einsetzende Bildung von mot. schweren Bataillonen der KG, neben denen die leichten Btl. (ca. ¾) dieser territorialen Miliz weiterbestehen.
4. Seit Errichtung der Mauer (1961--1964)
Die Errichtung der Mauer um den Westteil Berlins und die mit Todesstreifen versehene frontmäßige Befestigung der Demarkationslinie zwischen SBZ und BRD am 13. 8. 1961 war ein Probefall für die M. der SBZ. Die bewaffneten Verbände, die die Sperrmauer erzwangen, taten dies im drohenden Schatten der sowjet. ➝Besatzungstruppen. Und sie richteten ihre Waffen gegen die Bevölkerung. Doch die SED bemäntelte diese Gewalttat mit der Behauptung, die Bundesregierung wolle die SBZ angreifen.
Mit der Erzwingung der Mauer versperrte das Regime nicht nur die Flucht unentbehrlicher Arbeitskräfte und Jugendlicher, sondern auch Wehrpflichtiger. Wichtige Schritte der M. folgten: Am 15. 9. 1961 wurde die Grenzpolizei als „Kommando Grenze“ in die NVA eingegliedert, etwa 46.000 Mann stark. Dies soll sie völlig militarisieren und soll die NVA vergrößern. Das am 20. 9. 1961 von der Volkskammer beschlossene Verteidigungsgesetz verstärkt die Militarisierung.
Da das Regime der SBZ noch die formelle Einführung der Wehrpflicht scheute, betrieb es seit dem 17. 8. eine Massenaushebung von Wehrfähigen. Sie wurde als Freiwilligenwerbung im Rahmen eines „Kampfauftrages“ der FDJ getarnt. Die etwa 75.000 Mann, welche die FDJ der NVA zuführte, wurden mit allen Mitteln der Propaganda (gegen einen angeblich drohenden Angriff des Westens), der Einschüchterung am Arbeitsplatz und des „freiwilligen“ Zwanges zusammengebracht. — Bei dem zielbewußten Steigern der Bewaffnung der NVA war sehr wichtig, daß die Fla-Div. 1961 Fla-Raketen erhielt und von 3 auf 5 Rgt. anwuchs.
West-Berlin wurde ab 13. 8. 1961 nicht von Grenztruppen der NVA abgesperrt, sondern von 2 „Grenzbrigaden (B)“ der Bereitschaftspolizei, die ab Juni 1961 z. T. aus Kräften der bisherigen Grenzpolizei gebildet wurden. Erst am 23. 8. 1962, als die sowjet. Kommandantur im Sowjetsektor Berlins durch eine solche der NVA ersetzt wurde, traten diese 2 Brigaden zum Kdo Grenze der NVA. — Wahrscheinlich wegen Rekrutenmangels wurde die Bereitschaftspolizei im Sommer 1962 von 33 Btl. auf 17 Bereitschaften neuer Ordnung (= Btl.) vermindert. — Dies wurde durch Aufstellung weiterer „schwerer Btl.“ der KG ausgeglichen. Die Ende 1961 begonnene Auflösung der „schweren“ Abt. (= Btl. mit Sturmgeschützen und mot. Inf.) der Grenztruppen-Brigaden wird allmählich wieder rückgängig gemacht.
Die allgemeine Wehrpflicht wurde durch Gesetz vom 24. 1. 1962 auch förmlich eingeführt. Der seit 24. 1. 1962 geltende neue Fahneneid betont die Bindung an den national getarnten Kommunismus der SED und an den Sowjetimperialismus. — Auch nach Einführung der Wehrpflicht werden Polizeitruppen, KG und GST sehr sorgfältig geschult und militärisch verbessert. Als eine Ergänzung der KG und der GST wurden, auch nach Beendigung des Kampfauftrages der FDJ, die „Ordnungsgruppen“ der FDJ beibehalten und stark ausgebaut. (FDJ-Ordnungsgruppen) — Die zielbewußte M. der SED hat der Armee und den Polizeitruppen eine beträchtliche Kampfkraft gegeben. Dies gilt auch von großen Teilen der beiden Milizen. Man darf diese Gefahr für die nichtkommun. Welt nicht unterschätzen. Seit Mitte 1964 hat die Artillerie des Heeres Raketengeschütze, von denen auch Raketen mit Atomsprengköpfen abgefeuert werden können.
Ein wichtiges Mittel der M. ist die Militärpropaganda: die unaufhörliche Durchdringung der Bevölkerung mit den scheinpatriotisch gefärbten (Patriotismus) [S. 290]Wehrauffassungen des Marxismus-Leninismus (Militarismus). Um die Bevölkerung der SBZ wie auch der Bundesrepublik gegen die NATO aufzuhetzen, wird mit der allgemeinen Militärpropaganda eine lebhafte militärpolitische Agitation gegen die Bundeswehr verbunden. Dabei bedienen sich die SED und das Regime der fadenscheinigen Behauptung, die Bundesregierung wolle die SBZ gewaltsam in Besitz nehmen.
Literaturangaben
- Arnold, Theodor: Der revolutionäre Krieg. Pfaffenhofen/Ilm 1961, Ilmgau-Verlag. 250 S.
- Garthoff, Raymond L.: Die Sowjetarmee — Wesen und Lehre (m. Einführung v. General a. D. Günther Blumentritt, übers. v. Helmut Bohn). Köln 1955, Markus-Verlag. 592 S. m. 12 Karten.
- Pruck, Erich F.: Der rote Soldat — Sowjetische Wehrpolitik. München 1961, Olzog. 331 S.
- *: Die politische Armee der Sowjetzone in den Jahren 1955 bis 1958 (Denkschrift). (BMG) 1959. 45 S.
- Bohn, Helmut: Armee gegen die Freiheit — Dokumente und Materialien zur Ideologie und Aufrüstung in der Sowjetzone. Köln 1956, Markus-Verlag. 241 S.
- Bohn, Helmut (und andere): Die Aufrüstung in der sowjetischen Besatzungszone Deutschlands. 2., veränd. Aufl. (BB) 1960. 216 S.
- Boutard, R. J.: L'Armée en Allemagne Orientale … Paris 1955, Nouvelles Éditions Latines. 208 S.
- Grieneisen, W.: Die sowjetdeutsche Nationalarmee — Aufbau und Entwicklung von 1948 bis 1952 (in „Hefte der Kampfgruppe“). Berlin 1952. 88 S. m. Abb. u. Übers.
- Kopp, Fritz: Chronik der Wiederbewaffnung in Deutschland, Rüstung der Sowjetzone — Abwehr des Westens (Daten über Polizei und Bewaffnung 1945 bis 1958). Köln 1958, Markus-Verlag. 160 S.
- Martin, Friedrich P.: SED-Funktionäre in Offiziersuniform — Wer befiehlt in der „Nationalen Volksarmee“? Eine Dokumentation. Köln 1962, Markus-Verlag. 160 S. m. zahlr. Abb. u. Dok.
- Müller, Karl Valentin: Die Manager in der Sowjetzone … zur Soziologie der wirtschaftl. und milit. Führungsschicht in Mitteldeutschland (Schriftenreihe d. Inst. f. Empirische Soziologie, Nürnberg, Nr. 2). Köln 1960, Westdeutscher Verlag. 200 S. m. zahlr. Tabellen. — (Der wehrsoziolog. Teil: 1954 abgeschlossen.)
Fundstelle: SBZ von A bis Z. Neunte, überarbeitete und erweiterte Auflage, Bonn 1965: S. 285–290
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