Schule (1965)
Siehe auch:
Das „Gesetz zur Demokratisierung der deutschen Schule“ (1946) bildete bis 1959 die gesetzliche Grundlage der Organisation des Schulwesens (Einheitsschule). An seine Stelle ist das „Gesetz über die sozialistische Entwicklung des Schulwesens …“ (1959) getreten.
Die allgemeinbildende Schule für alle Kinder ist nach diesem Gesetz nicht mehr die achtstufige Grundschule, sondern die „zehnklassige allgemeinbildende polytechnische Oberschule“. Sie muß allerdings erst schrittweise bis zum Herbst des Jahres 1960 in allen Kreisen geschaffen werden. Soweit sie schon vorhanden ist, gilt die zehnjährige Vollschulpflicht. Die Oberschule, die eine Unterstufe (Klasse 1 bis 4) und eine Oberstufe (5 bis 10) umfaßt, hat nach dem Schulgesetz die Aufgabe, die Grundlage für die berufliche Ausbildung und alle weiterführenden Bildungseinrichtungen zu schaffen. „Der Weg von der Oberschule über die Berufsbildung ist der Hauptweg zur Entwicklung des Fach- und Hochschulnachwuchses.“ Es gibt folgende Wege zur Hochschule: 1. Nach dem Besuch der 10klassigen polytechnischen Oberschule eine dreijährige Berufsausbildung mit gleichzeitiger Vorbereitung auf die Reifeprüfung in Abiturklassen der Berufsschulen. 2. 10 Jahre Oberschule, zwei Jahre Berufsausbildung, danach Fachschulstudium. Das bestandene Examen berechtigt in der Regel zum Hochschulstudium in der entsprechenden Fachrichtung. 3. Nach der Zehnklassenschule und der Berufsausbildung Besuch einer Betriebsoberschule, die zur Reifeprüfung führt — neben der Berufsarbeit. 4. Besuch von Oberschullehrgängen, die in Verbindung mit Volkshochschulen oder als Abendoberschulen bestehen — neben Berufsarbeit. (Erwachsenenbildung). 5. Lehrgänge zur Vorbereitung auf die Sonderreifeprüfung — neben Berufsarbeit. 6. Besuch der Arbeiter- und Bauern-Fakultät. 7. Außerdem gibt es weiterhin die 12klassige allgemeinbildende (nunmehr auch) polytechnische Oberschule, die kurz als erweiterte Oberschule bezeichnet wird (vierstufig, im Anschluß an die achte Klasse der Oberschule). Falls die Absolventen der erweiterten Oberschule nicht während ihrer Schulzeit einen praktischen [S. 379]Beruf erlernt haben, haben sie vor der Aufnahme des Studiums ein berufspraktisches Jahr (praktisches Jahr) unter Anleitung der Hochschule oder Universität zu absolvieren.
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Die Verlängerung der Vollschulpflicht und angebliche Erhöhung des Niveaus der Bildung wird vor allem durch den Hinweis auf die Fortschritte der Technik, die für den Sozialismus notwendige hohe Arbeitsproduktivität und die Anforderungen der werdenden sozialistischen Gesellschaft begründet. „Die Schule hat die Jugend auf das Leben und die Arbeit im Sozialismus vorzubereiten, sie zu allseitig polytechnisch gebildeten Menschen zu erziehen und ein hohes Bildungsniveau zu sichern. Sie erzieht die Kinder und Jugendlichen zur Solidarität und zu kollektivem Handeln, zur Liebe zur Arbeit und zu den arbeitenden Menschen und entwickelt alle ihre geistigen und körperlichen Fähigkeiten zum Wohle des Volkes und der Nation“ (§ 3 des Schulgesetzes). Die „Liebe zu den arbeitenden Menschen“ umfaßt nach den offiziellen Verlautbarungen auch die Liebe zu der Partei der Arbeiterklasse, d.h. zur SED. Es fehlen auch nicht die propagandistischen Hinweise auf „Frieden“, „Völkerfreundschaft“ — „insbesondere“ auf die Freundschaft zur SU.
Das neue Schulgesetz distanziert sich von der Lernschule der Stalinzeit, insofern sie die Lehrer auf „eine fortschrittliche Unterrichtsmethodik, die auf der Aktivität und Selbsttätigkeit der Schüler beruht“, verpflichtet, die polytechnische Bildung und Erziehung als den Grundzug des Unterrichts herausstellt und überhaupt die enge Verbindung der Bildung und Erziehung mit der produktiven Arbeit und der Praxis des „sozialistischen Aufbaus“ fordert.
Gleichwohl hält die SBZ ausdrücklich — wie bisher — an der „Systematik“ des Unterrichts, d.h. an der Reglementierung des systematischen Aufbaus der einzelnen Lehrgänge durch „staatliche Lehrpläne“ und an dem Postulat der „Wissenschaftlichkeit“, d.h. an der Monopolstellung des Marxismus-Leninismus fest. Sie versucht auch nach wie vor, das Schulleben in Übereinstimmung mit dem für den Kommunismus charakteristischen Mechanismus zentralgesteuerter (planrationaler) gesellschaftlicher Änderungen zu gestalten. So wird die Arbeit der Sch. durch ein System von Plänen gesteuert, deren Grundlage der detaillierte Lehrplan ist, der den Rang einer staatlichen Verordnung hat. Die Sch. haben folgende Pläne zu erstellen: Jahresarbeitsplan der Schule; Pläne der Klassenleiter; Stoffverteilungspläne der Leiter und Erzieher der Horte und Internate. Dazu kommen Pläne der zahlreichen sonstigen Gruppen, die mit der Sch. verbunden sind: des Elternbeirats, der SED-Schulorganisation, der Lehrergewerkschaft und anderer.
Die Oberschüler werden auf der Unterstufe in der Form des Anfangs- und fachvorbereitenden Unterrichts, auf der Oberstufe in der Form des Fachunterrichts unterrichtet. Mit der 5. Klasse beginnt der Unterricht in den Fächern Russisch, Geschichte, Erdkunde, Biologie. In den nächsten Klassen folgen Physik (ab Klasse 6) und Chemie (ab 7), die 2. (fakultative) Fremdsprache (Englisch oder Französisch), Technisches Zeichnen (ab 7), Staatsbürgerkunde (ab 9), Einführung in die sozialistische Produktion in Industrie und Landwirtschaft und der Unterrichtstag in der Produktion (ab Klasse 7), dem das Werken (ab Klasse 1 bis 6 mit 1 oder 2 Stunden) voraufgeht. In der 7. Klasse entfallen 12 von 33 Wochenstunden auf die vier mathematisch-naturwissenschaftlichen Fächer, in der 10. sind es 15 von 34 Wochenstunden. Das Gewicht dieser Fächer wird durch die für die polytechnische Bildung besonders vorgesehenen Fächer noch verstärkt. Das für die Vermittlung der kommun. Ideologie wichtigste Fach ist die Geschichte, wenn auch jedes Schulfach verpflichtet ist, einen Beitrag zur weltanschaulich-politischen Erziehung zu leisten. Im Literaturunterricht wird neben dem sog. „nationalen Kulturerbe“ (klassische Dichtung) vor allem die russische und die kommun. Literatur (insbesondere die Sowjetliteratur und die „sozialistische“ Literatur der Zone) behandelt.
Die erweiterten Oberschulen haben naturwissenschaftliche, neu- und altsprachliche Zweige. Die größte Zahl der Schüler besucht den naturwissenschaftlichen Zweig (nur zwei Fremdsprachen). Die altsprachlichen Zweige beginnen mit Latein in der 9., Griechisch folgt in der 10. Klasse. Neben Russisch wird an den sonstigen Zweigen vornehmlich Englisch und Latein, weniger Französisch, betrieben. Seit 1. 9. 1960 haben alle erweiterten Oberschulen eine berufliche Grundausbildung zu vermitteln, ab 1962/63 die volle Berufsausbildung.
Das Regime war bis vor einigen Jahren bemüht, den Unterschied zwischen Land- und Stadtschulen mit Hilfe eines einheitlichen Lehrplanes zu überwinden. Dem entsprach auch der Versuch, die wenig gegliederten Landschulen durch achtklassige Zentralschulen in günstig gelegenen Orten zu ersetzen. 1945 gab es rund 4.000 einklassige Schulen, 1960 wurde die letzte aufgelöst. Die Zentralschulen werden allmählich in zehnklassige Oberschulen verwandelt. Seit 1956 ist das Regime bemüht, der Landschule einen besonderen Inhalt zu geben. Sie hat sich nach den geltenden Lehrplänen weniger mit produktiver Arbeit in der Industrie als in der Landwirtschaft zu beschäftigen, was sich auch auf die anderen Fächer auswirkt. Damit soll offenbar der Landflucht vorgebeugt werden.
Das neue Schulgesetz hat die vorhandenen Horte und Internate „als feste Bestandteile der Schule“ definiert. Damit hat es eine organisatorische Basis für die Verwandlung von Schulen in Tagesheim- bzw. Ganztagsschulen geschaffen. Der Hort hat „den Schülern beim Lernen zu helfen und für eine erzieherisch wertvolle Freizeitgestaltung und gute Betreuung der Schüler während des ganzen Tages zu sorgen“. Ein wichtiges, vielleicht das entscheidende Motiv der Schaffung von Tagesheimschulen ist in der verstärkten Rekrutierung von Frauen für die berufliche Tätigkeit gegeben.
Das Regime ist bestrebt, die Eltern (Elternbeiräte), die Massenorganisationen, Volksvertretungen, staatlichen Behörden und SED-Organe für die Arbeit der Schule zu mobilisieren. Die „staatlichen Organe“ werden ebenso auf die Unterstützung der Schule verpflichtet wie die „volkseigenen“ Betriebe und LPG. Letztere werden sogar für die Durchführung des Unterrichts in der Produktion „verantwortlich“ gemacht (Patenschaftsverträge).
[S. 380]Neben den angegebenen Schultypen gibt es noch Schulen mit erweitertem Russischunterricht (von der 3. Klasse an mit 5 oder 6 Wochenstunden); Kinder- und Jugendsportschulen (von der 5. Klasse an 6 bis 7 Wochenstunden Turnen) und Sonderschulen für blinde, gehörlose, taubstumme blinde, sehschwache, schwerhörige, sprach- gestörte, körperbehinderte und bildungsfähige schwachsinnige Kinder und Jugendliche (Hilfsschulen). Mitglieder des Kreuz- und Thomanerchores werden schulisch besonders betreut. Im sog. zweisprachigen Gebiet der Bezirke Cottbus und Dresden gibt es Oberschulen und erweiterte Oberschulen mit sorbischem Sprachunterricht und sorbische Oberschulen (Wenden). Eine Spezialoberschule für Russisch, die ausschließlich künftige Studenten der PH. Potsdam auf das Abitur vorbereiten soll, wird zur Zeit in Wiesenburg (Kr. Belzig) aufgebaut. Ab 1966 sollen die Absolventen als geschlossene Seminargruppen vom Slawistischen Institut der PH. Potsdam übernommen werden. Dort sollen sie Vorlesungen in russischer Sprache hören.
Die staatliche Schulaufsicht wird von den Abt. für Volksbildung bei dem Rat des Kreises und dem des Bezirks und dem Ministerium für Volksbildung verkörpert. Der Direktor (an kleineren Schulen der Schulleiter) ist der Dienstvorgesetzte der pädagogischen und technischen Kräfte seiner Schule. Allerdings hat die SED-Schulorganisation die Rolle der „führenden Kraft“. Zu den pädagogischen Kräften gehört auch der hauptamtliche Pionierleiter. Nach der Beförderungsordnung vom 7. 4. 1960 werden Lehrern unter bestimmten Voraussetzungen folgende Titel verliehen: Oberlehrer, Studienrat, Oberstudienrat, Professor. Sie sind mit Beförderungszulagen zum Grundgehalt verbunden. Die Lehrergehälter sind niedriger als die Gehälter der entsprechenden Lehrergruppen in der Bundesrepublik und dürften in ihrem Realwert erheblich unter ihnen liegen. (Lehrerbildung)
Zahlenangaben: Schüler an allgemeinbildenden Schulen der Klassen 1 bis 10 im Jahre 1963: 2.202.496 in 8.639 Schulen mit 102.017 vollbeschäftigten Lehrkräften; an 305 erweiterten Oberschulen unterrichteten 5.441 vollbeschäftigte Lehrkräfte 76.544 Schüler. 1963 bestanden 552 Sonderschulen mit 5.664 vollbeschäftigten Lehrkräften, die 66.688 Schüler unterrichteten. 64 v. H. der Abgänger der 8. Klassen sind 1962 nach Angaben des Ministers für Volksbildung zur 9. Klasse der zehnklassigen allgemeinbildenden polytechnischen Oberschule, 13 v. H. zur erweiterten Oberschule übergegangen, während 23 v. H. die Schule verlassen haben und in das Berufsleben eingetreten sind.
Literaturangaben
- Lange, Max Gustav: Totalitäre Erziehung — Das Erziehungssystem der Sowjetzone Deutschlands. Mit einer Einl. v. A. R. L. Gurland (Schr. d. Inst. f. pol. Wissenschaft, Berlin, Bd. 3). Frankfurt a. M. 1954, Verlag Frankfurter Hefte. 432 S.
Fundstelle: SBZ von A bis Z. Neunte, überarbeitete und erweiterte Auflage, Bonn 1965: S. 377–380
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