
Tauwetter (1965)
Siehe auch die Jahre 1960 1962 1963 1966
Im Westen geläufige Bezeichnung für die bisher umfassendste geistig-politische Oppositionswelle gegen bolschewistische Einseitigkeit in Herrschaftsausübung und Doktrin. Als „T.“ nach einem für diese Haltung repräsentativen Roman des sowjet. Schriftstellers Ilja Ehrenburg genannt, begann die Oppositionsbewegung Anfang 1956, ausgelöst durch die scharfen Angriffe Chruschtschows und Mikojans auf entscheidende Elemente des Stalinismus auf dem XX. Parteitag der KPdSU. Politische Höhepunkte der auf Liberalisierung und Revision der bolschewistischen Dogmen und der bolschewistischen Herrschaftsausübung gerichteten Gegenbewegung waren die im Okt. 1956 in Polen und im Nov. 1956 in Ungarn gipfelnden Partei- und Volkserhebungen gegen die Stalinisten in den eigenen Führungen und den Hegemonieanspruch der UdSSR. Während in Polen ein Kompromiß zustande kam, wurde die zum Bürgerkrieg entwickelte ungarische Erhebung blutig niedergeschlagen. Von da an wurde die Liberalisierungswelle des T., die zunächst auch in den politischen, wissenschaftlichen und. literarischen Führungskreisen der UdSSR eine gewisse Resonanz hatte, von der gesamten bolschewistischen Führerschaft entschlossen gebremst, da diese — sicher zu Recht — für den Fall weiterer Nachgiebigkeit um die Existenz ihrer Regime bangen mußte. Doch hat sich in einer Reihe von Volksdemokratien, zunächst in Polen und Ungarn, ein Hang zur Tolerierung offenerer Diskussion in der Gesellschaft, vor allem unter den Intellektuellen, gehalten. (Versachlichung, Liberalisierung)
In der SBZ war das T. im wesentlichen auf den Bereich der theoretischen Auseinandersetzungen beschränkt. Philosophen (Ernst Bloch), Ökonomen (Fritz ➝Behrens, Arne ➝Benary, Kurt ➝Vieweg), Historiker (Jürgen Kuczynski), Journalisten hatten die stark von dem ungarischen Parteiphilosophen Georg ➝Lukács angeregte Bewegung getragen, darunter zahlreiche prominente jüngere Parteiideologen. Aber auch innerhalb der Partei- und Staatsführung (Fred ➝Oelßner, Fritz ➝Selbmann, Gerhart ➝Ziller, Ernst ➝Wollweber, Karl ➝Schirdewan) war es zu Auseinandersetzungen um den vor allem von Walter ➝Ulbricht repräsentierten Doktrinarismus gekommen. Die Probleme einer rationelleren und bevölkerungsorientierten Gestaltung der Volkswirtschaft und einer größeren Kompromißbereitschaft in der gesamtdeutschen Frage hatten dabei wesentliche Rollen gespielt. Nach dem Zusammenbruch des ungarischen Aufstandes hat sich auch in der SBZ die radikale Gruppe Ulbrichts wieder mit sowjet. Hilfe voll durchsetzen können. Eine Kampagne zur scharfen Reglementierung von Wissenschaft, Kunst und Hochschulwesen lief an, so daß die SBZ heute das antiliberalste Land des Ostblocks darstellt. Lediglich in der Wirtschaftspolitik (Neues ökonomisches System) ist seit dem VI. SED-Parteitag vom Januar 1963 ein Umschwung zu dogmenfreierem, pragmatischerem Vorgehen zu verzeichnen. (Widerstand, Opposition)
Literaturangaben
- Kersten, Heinz: Aufstand der Intellektuellen — Wandlungen in der kommunistischen Welt. Stuttgart 1957, Seewald. 189 S.
- Brzezinski, Zbigniew K.: Der Sowjetblock — Einheit und Konflikt (a. d. Amerik.). Köln 1962, Kiepenheuer und Witsch. 581 S.
- Jänicke, Martin: Der dritte Weg — Die antistalinistische Opposition gegen Ulbricht seit 1953. Köln 1964, Neuer Deutscher Verlag. 267 S.
- Dies.: Ulbricht — eine politische Biographie. Köln 1964, Kiepenheuer und Witsch. 352 S. m. Abb.
Fundstelle: SBZ von A bis Z. Neunte, überarbeitete und erweiterte Auflage, Bonn 1965: S. 429