Verfassung (1965)
Siehe auch:
[S. 446]Die V. der „Deutschen Demokratischen Republik“ hat als Staatsgrundgesetz eine völlig andere Bedeutung als die Verfassungen demokratischer Staaten. Für die Würdigung ihres Rechtscharakters sind zu beachten 1. ihre Entstehungsgeschichte, 2. ihr Inhalt und 3. vor allem die kommun. Rechtsauffassung.
1. Entstehungsgeschichte
Die V. ist nicht aus einer gewählten verfassunggebenden Versammlung hervorgegangen. Diese Rolle maßte sich vielmehr ein aus dem „Zweiten Volkskongreß“ (17. u. 18. 3. 1948) hervorgegangener „Deutscher Volksrat“ an, dessen Mitgl. aus Delegierten der Parteien und Massenorganisationen bestanden. Er ließ durch einen Verfassungsausschuß den „Entwurf einer Verfassung für die Deutsche Demokratische Republik“ ausarbeiten, der am 22. 10. 1948 veröffentlicht wurde. Am 19. 3. 1949 wurde dieser Verfassungsentwurf von dem „Volksrat“ nach unbedeutenden Änderungen angenommen.
Am 15. und 16. 5. 1949 fand in der SBZ eine Abstimmung statt über eine willkürlich zusammengesetzte „Einheitsliste“ des „Blocks der antifaschistischen Parteien und Massenorganisationen“ (Blockpolitik), bei der nur mit „Ja“ oder „Nein“ gestimmt oder ein ungültiger Stimmzettel abgegeben werden konnte. Trotz der sehr intensiven, z. T. mit national gefärbten Parolen betriebenen Propaganda wurden insgesamt nur 61,8 v. H. „Ja“-Stimmen, in Ost-Berlin sogar nur 51,7 v. H. „Ja“-Stimmen gezählt. Dieses Abstimmungsergebnis reichte aber aus, um die „Einheitsliste“ als „gewählt“ zu erklären. So entstand der „Dritte Deutsche Volkskongreß“ (mit 1.523 Delegierten), der am 30. 5. 1949 die V. bestätigte und die Ernennung der 330 Abgeordneten des neuen „Deutschen Volksrates“ vornahm.
Wieder ohne Wahlen konstituierte sich dieser „Volksrat“ schließlich am 7. 10. 1949 auf Grund des der LDP und CDU aufgezwungenen verfassungsändernden Gesetzes vom 7. 10. 1949 (GBl. S. 1) als „Provisorische Volkskammer der DDR“. Zugleich wurden eine „Provisorische Regierung der DDR“ eingesetzt, eine „Provisorische Länderkammer der DDR“ gebildet und durch Gesetz vom 7. 10. 1949 die „Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik“ (GBl. S. 5) in Kraft gesetzt.
2. Inhalt
In der Präambel beansprucht die V. mit der Formulierung „… hat sich das deutsche Volk diese V. gegeben“ gesamtdeutsche Geltung. In Art. 1 Abs. 1 heißt es entsprechend: „Deutschland ist eine unteilbare demokratische Republik.“ Dieser Feststellung wie auch dem Abs. 4 des Art. 1: „Es gibt nur eine deutsche Staatsangehörigkeit“ widerspricht die politische Praxis (Spaltung und Wiedervereinigung Deutschlands, Republikflucht).
Die V. ist in ihrem Wortlaut weitgehend der Weimarer Reichsverfassung nachgebildet. So erscheint deren Art. 1 Abs. 2: „Die Staatsgewalt geht vom Volke aus“ in der Fassung: „Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus“ (Art. 3 Abs. 1). Auch das Bekenntnis zu dem Grundsatz freier Wahlen ist in der V. der „DDR“ in fast die gleichen Worte gekleidet wie in Art. 22 der Weimarer Reichsverfassung: „Die Abgeordneten werden in allgemeiner, gleicher, unmittelbarer und geheimer Wahl … gewählt.“ (Art. 51 Abs. 2)
Insbesondere haben den Vorschriften über die Grundrechte die Grundrechtsartikel der Weimarer Reichsverfassung als Vorbild gedient; sie stimmen z. T. fast wörtlich überein. Wie die entsprechenden Normen des Grundgesetzes sind diese Artikel unmittelbar geltendes Recht. Ihr Sinngehalt ist jedoch ein völlig anderer als der gleichlautender Formulierungen der V. rechtsstaatlicher Demokratien. Denn die volksdemokratische Ordnung kennt nur das Primat der Gemeinschaft, nicht dagegen die Freiheit des Einzelnen um des Einzelnen willen. So ist auch der Schutz der Grundrechte vor Maßnahmen der Staatsgewalt denkbar schwach ausgestaltet und jeder richterlichen Nachprüfung entzogen. Wesentlich ausgeprägter ist dagegen der Schutz der Grundrechte vor Mißbrauch durch den Einzelnen. Diese Tendenz wird besonders in Art. 6 Abs. 2 deutlich, der Boykotthetze gegen demokratische Einrichtungen und Organisationen, Mordhetze gegen demo[S. 447]kratische Politiker, Bekundung von Glaubens-, Rassen-, Völkerhaß, militaristische Propaganda sowie Kriegshetze und alle sonstigen Handlungen, die sich gegen die Gleichberechtigung richten“ zu „Verbrechen im Sinne des Strafgesetzbuches“ und damit zu unmittelbar geltendem Strafrecht erklärt (Strafgesetzbuch). Als wichtigstes politisches Recht nennt Art. 3 Abs. 2 das Recht jedes Bürgers „zur Mitgestaltung in seiner Gemeinde, seinem Kreis, seinem Lande und in der DDR“. Die V. kennt ihrem Wortlaut nach aber auch die herkömmlichen Menschenrechte: persönliche Freiheit, Unverletzlichkeit der Wohnung, Postgeheimnis und Freizügigkeitsrecht werden in Art. 8, freie Meinungsäußerung und Versammlungsfreiheit in Art. 9, Freiheit der Kunst, Wissenschaft und ihrer Lehre in Art. 34 garantiert. Art. 10 enthält Auslieferungsverbot, Asylrecht und Auswanderungsrecht. Vereinigungs- und Koalitionsrecht räumen Art. 12, 13, 53 bzw. 14 ein. Eigentum, Erbrecht und Urheberrechte werden in Art. 22–24 Abs. 1 gewährleistet. Die Freiheit der Religionsausübung garantiert Art. 41. Sämtliche Grundrechte stehen jedoch nur auf dem Papier und werden seit dem Inkrafttreten der V. ständig und bewußt verletzt und sogar durch die Gesetzgebung in verfassungsmäßig unzulässiger Weise eingeschränkt.
Den Grundrechten stellt die V. Grundpflichten gegenüber. Die zentrale Vorschrift ist Art. 4 Abs. 2, in dem es heißt: „Jeder Bürger ist verpflichtet, im Sinne der Verfassung zu handeln und sie gegen ihre Feinde zu verteidigen.“ Diese nach sowjet. Staatsdenken weit auszulegende Norm wird durch den mit Gesetz vom 26. 9. 1955 (GBl. I S. 653) geänderten Art. 5 dahin ergänzt, daß „der Dienst zum Schutze des Vaterlandes und der Errungenschaften der Werktätigen“ eine „ehrenvolle nationale Pflicht ist“.
Scheint die V. auf den ersten Blick wenigstens formal den Voraussetzungen eines demokratischen Staatsgrundgesetzes zu entsprechen, so genügt sie bei genauerer Betrachtung selbst diesen Anforderungen nicht. Der angeblich die völlige Volkssouveränität verkörpernden Volkskammer fehlt seit der Verwaltungsneugliederung auch das ohnehin bescheidene Regulativ der Länderkammer. Insbesondere aber ist die in allen Demokratien unumgängliche „dritte Gewalt“, die richterliche, schwach ausgebildet und effektiv wirkungslos. Es gibt neben der faktisch und gesetzlich nicht vorhandenen Unabhängigkeit der Richter nach dem Wortlaut der V. kein Verfassungsgericht.
Durch verfassungsänderndes Gesetz vom 12. 9. 1960 änderte die Volkskammer das Amt des Präsidenten der Republik, das durch den Tod von Pieck neu zu besetzen gewesen wäre. Der Staatsrat wurde geschaffen, dem unter dem Vorsitz von Ulbricht 24 Funktionäre angehören. Mit dieser Maßnahme wurde die ohnehin ihres Inhalts längst entleerte V. den Verhältnissen in der SU und den übrigen Volksdemokratien auch formal noch mehr angeglichen.
3. Kommunistische Rechtsauffassung
Entscheidend für die Wertung der V. und ihre Achtung bzw. Mißachtung durch das Regime der SED ist die Staatslehre des Marxismus-Leninismus. Danach hat das Staatsrecht wie alles Recht (Rechtswesen) keine absolute, sondern nur relative Gültigkeit. Es entwickelt sich mit den sozial-ökonomischen Verhältnissen, von denen es als ein Teil des „Überbaues“ abhängig ist. So wird auch die V., obwohl bisher nur in wenigen Teilen ergänzt oder geändert, je nach der Entwicklung der Verhältnisse der „Basis“ immer neu interpretiert, mithin nur als ein Durchgangsstadium angesehen. Da die Wandlung des Staates von einer zunächst noch parlamentarisch bestimmten Mehrparteien-Ordnung über die antifaschistisch-demokratische Ordnung zur Volksdemokratie kein einmaliger revolutionärer Akt, sondern ein andauernder Prozeß ist, wird auch die Gültigkeit der V. jeweils neu ausgelegt. So enthält die V. auch keine Unabänderlichkeitsgarantie wie etwa das Grundgesetz der BRD, in dem eine Gruppe von Artikeln von einer Änderung selbst durch eine qualifizierte Mehrheit ausgenommen ist. Bezeichnend ist in diesem Zusammenhang, daß bis jetzt in der SBZ kein Kommentar zur V. erschienen ist. Indessen würde eine Auffassung, nach der die V. in der SBZ überhaupt keinen Garantie-Charakter besäße, zu weit gehen und denen, die sie handhaben, mehr entgegenkommen, als dies gerechtfertigt ist. Zum Zeitpunkt der Ausarbeitung und [S. 448]der „Annahme“ der V. war die SED durchaus noch auf die Mitwirkung und die Zustimmung der „bürgerlichen“ Parteien angewiesen. Wenn es zwar damals schon nicht gelang, einen Verfassungsgerichtshof zur Überwachung der Regierungsmaßnahmen wie auch des Gesetzgebers (Volkskammer) einzurichten, so enthält doch Art. 4 Abs. 1 eine Verfassungsgarantie, an der die „Interpretation“ durch Staat und SED rechtlich eindeutig ihre Grenzen findet. Hier ist sogar ein Widerstandsrecht, wenn auch in den Grenzen, die praktisch wiederum durch die Volkskammer gezogen werden können, sanktioniert: „Alle Maßnahmen der Staatsgewalt müssen den Grundsätzen entsprechen, die in der V. zum Inhalt der Staatsgewalt erklärt sind. Über die Verfassungsmäßigkeit der Maßnahmen entscheidet die Volksvertretung gemäß Art. 66 dieser V. (Art. 66 sieht einen V.-Ausschuß der Volkskammer zur Überprüfung der Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen vor). Gegen Maßnahmen, die den Beschlüssen der Volksvertretung widersprechen, hat jedermann das Recht und die Pflicht zum Widerstand.“ Unterstellt man, daß zum Zeitpunkt des Erlasses der V. die damals noch demokratischen Parteien CDU und LDPD auf echte parlamentarische Rechte der Volkskammer hofften, so ist in dieser Bestimmung durchaus mindestens die Absicht einer gewissen Garantie zu sehen. Insbesondere aber ist der 1. Satz des Art. 4 Ausdruck einer V.-Rechtsnorm, deren Verletzung eindeutig dem Geist und dem Buchstaben der V. widerspricht.
Die Handhabung der V. in der Praxis wie ihre theoretische Grundlegung im Marxismus-Leninismus, den ihr das SED-Regime unterstellt, erweisen den dynamischen, auf Wandlung oder „Revolution“ abgestellten Charakter der V. Sie wird damit nicht ein großes Rahmengesetz, dessen Sinn und Zweck das Erhalten und Schützen unwandelbarer Rechtsnormen sowie eine letzte Verläßlichkeit für Bürger, Regierung und Parlament ist. Eine solche politische Zweckaufgabe einer V. aber entleert sie im rechtsstaatlichen Sinne ihres Gehaltes und pervertiert sie zu einer Theorie des permanenten Staatsstreiches.
Literaturangaben
- Weber, Werner: Die Frage der gesamtdeutschen Verfassung. München 1950, C. H. Beck. 28 S.
- Drath, Martin: Verfassungsrecht und Verfassungswirklichkeit in der sowjetischen Besatzungszone Deutschlands. 4., erw. Aufl. (BMG) 1956. 91 S.
- Mampel, Siegfried: Die Verfassung der sowjetischen Besatzungszone Deutschlands — Text und Kommentar. Frankfurt a. M. 1962, Alfred Metzner. 453 S.
- Die Wahlen in der Sowjetzone, Dokumente und Materialien. 6., erw. Aufl. (BMG) 1964. 216 S.
Fundstelle: SBZ von A bis Z. Neunte, überarbeitete und erweiterte Auflage, Bonn 1965: S. 446–448
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