
Dialektischer Materialismus (1966)
Siehe auch die Jahre 1953 1954 1956 1958 1959 1960 1962 1963 1965 1969 1975 1979
Pj. Diamat. Philosophie des Marxismus-Leninismus, beansprucht, wissenschaftliche Erkenntnis der allgemeinen Gesetzmäßigkeiten der Natur, der Gesellschaft und des Denkens zu sein. DM. und Historischer Materialismus bilden die „theoretische Grundlage“ des Marxismus-Leninismus und vermitteln als solche die Einheitlichkeit der marxistisch-leninistischen Einheitswissenschaft.
Die Lehren des DM. knüpfen vor allem an Ausführungen von Friedrich ➝Engels an, beanspruchen die einzige, von Lenin vermittelte Weiterentwicklung der philosophischen Lehren der Klassiker zu sein, die dem Geist des Marxismus gerecht wird. Der Anteil Stalins bei der Formung der obligatorischen Philosophie, einst überbewertet, ist erheblich.
Der DM. liefert in ständiger Auseinandersetzung mit dem Idealismus, der radikal abgelehnt wird, eine monistische Entwicklungslehre, die, materialistisch, das Geschehen in Natur und Gesellschaft als Prozeß der sich immer schon bewegenden Materie deutet. „Die wirkliche Einheit der Welt besteht in ihrer Materialität.“ Das Geistige sei Produkt der Materie auf einer hohen Stufe ihrer Entwicklung. Nach Lenin ist die Materie die objektive in der Empfindung gegebene Realität, die unabhängig vom Bewußtsein existiert. Die Entwicklung der Materie wird nicht als ein evolutionärer, sondern als ein dialektischer Prozeß gedeutet. Die Entwicklung führt gesetzmäßig von quantitativen Veränderungen durch einen sprunghaften Übergang (den dialektischen Sprung) zu qualitativen Veränderungen („Das Gesetz des Umschlagens quantitativer Veränderungen in qualitative“). Gleichwohl wird diese Dialektik als Prozeß mit aufsteigender, ständig fortschrittlicher Tendenz betrachtet, der praktisch im Anorganischen einsetzt und über die Entstehung des Lebens und der Gesellschaft hinweg durch die Dynamik des Widerspruchs zum Weltkommunismus als seinem Höhepunkt führt. Mit Hilfe des dialektischen Sprunges vermag sich der DM. vom älteren mechanischen Materialismus zu distanzieren; zwischen dem Anorganischen und Organischen bestehen ebenso qualitative Differenzen wie zwischen Tier und Mensch. Durch den Atheismus auf eine reine Diesseitseinstellung verpflichtet, sucht der DM. die Antriebe der Entwicklung in den Dingen und Prozessen selbst: in den Widersprüchen. „Im eigentlichen Sinn ist die Dialektik die Erforschung der Widersprüche im Wesen der Dinge selbst.“ (Lenin)
Zusammenfassend läßt sich behaupten: Der DM. ist eine auf das gesamte Welt[S. 110]geschehen ausgedehnte Verallgemeinerung der Deutung gesellschaftlicher Zusammenhänge vom Motiv der Revolution her.
Die materialistische Entwicklungslehre ist mit der von Lenin begründeten Erkenntnistheorie, die eine besondere Form einer Abbildtheorie darstellt, verbunden. In ihr ist die Wahrheitstheorie verankert, die jedoch durch die These von der Praxis als „Kriterium der Wahrheit“ und die Forderung der Parteilichkeit des Denkens einen besonderen Charakter erhält. Mit Hilfe dieser Modifikationen des alten aristotelischen Wahrheitsbegriffes versucht die Kommunistische Partei sich als Träger der Wahrheit zu legitimieren, wobei sie — mit dem DM. — nicht nur eine radikale Wissenschaftsgläubigkeit, sondern auch einen ungebrochenen Optimismus hinsichtlich der prinzipiellen Möglichkeiten der Erkenntnis vertritt. (Gesellschaftswissenschaften)
Literaturangaben
- Bochenski, Joseph M.: Der sowjetrussische dialektische Materialismus (Diamat). (Dalp-Taschenbücher 325). Bern 1960, A. Francke. 180 S.
- Fetscher, Iring: Von Marx zur Sowjetideologie. 8. Aufl., Frankfurt a. M. 1962, Moritz Diesterweg. 204 S.
- Lehmbruch, Gerhard: Kleiner Wegweiser zum Studium der Sowjetideologie. (BMG) 1959. 90 S.
- Stalin: Über dialektischen und historischen Materialismus (vollst. Text, m. krit. Kommentar von Iring Fetscher). Frankfurt a. M. 1956, Moritz Diesterweg. 126 S.
- Wetter, Gustav A.: Der dialektische Materialismus. Seine Geschichte und sein System in der Sowjetunion. 4., erw. Aufl., Freiburg 1958, Herder. 693 S.
- Wetter, Gustav A.: Philosophie und Naturwissenschaft in der Sowjetunion (Rowohlts deutsche Enzyklopädie, 67). Hamburg 1958, Rowohlt. 195 S.
Fundstelle: SBZ von A bis Z. Zehnte, überarbeitete und erweiterte Auflage, Bonn 1966: S. 109–110