DDR von A-Z, Band 1966

Gesundheitswesen (1966)

 

 

Siehe auch die Jahre 1953 1954 1956 1958 1959 1960 1962 1963 1965 1969 1975 1979 1985

 

[S. 171]Im G. sind von 1945 bis 1958 die Entwicklungsphasen des G. der SU in allen wesentlichen Punkten wiederholt worden: einer Anfangsperiode der Eindämmung von Seuchen, Tbc und Geschlechtskrankheiten folgte die Errichtung von Polikliniken und Ambulatorien; sie wurde 1947 den Land- und Stadtkreisen und den industriellen Großbetrieben aufgegeben. Von 1949 an wurden Vorbeugung („Prophylaxe“) und späterhin auch die nachgehende Überwachung („Metaphylaxe“) zur ausdrücklichen Aufgabe dieser „Staatlichen Behandlungseinrichtungen“ gemacht. 1950 begann der Aufbau von „Beratungs- und Behandlungsstellen“ (in der SU „Dispensaires“) für bestimmte Krankheiten oder Personengruppen. So entstanden mehrere Systeme mit sich überschneidenden Aufgaben: „Behandlungseinrichtungen“ regionaler Zuständigkeit und solche für Betriebsbelegschaften, die beide auch Vorbeugung betreiben sollten; neben ihnen „Beratungsstellen“, die — nach medizin. Fachgebieten gegliedert — auf Vorbeugung und nachgehende Überwachung orientiert waren, aber auch behandelten. 1952 wurde erstmals die Koordinierung versucht: die Poliklinik wurde „Leitorgan“ in ihrem Kreis, doch war das Betriebs-G. ausgenommen. Poliklinik und Krankenhaus jedes Kreises sollten gemeinsame ärztliche und Verwaltungsleitung haben („Einheit Krankenhaus-Poliklinik“), jeder Kranke innerhalb des Krankenhauses („stationär“) wie außerhalb („ambulant“) vom gleichen Arzt behandelt werden. Damit war im Programm der Stand der SU im wesentlichen erreicht. Die weitere Entwicklung vollzog sich gleichläufig.

 

1. Organisationsprinzipien

 

 

Seit 1954 wird versucht, die Organisation des G. an zwei Prinzipien auszurichten: Gliederung nach „Versorgungsbereichen“ und „Dispensaire-Methode“. Nach der „Rahmen-Krankenhausordnung“ vom 5. 11. 1954 (GBl. S. 957) soll in jeder regionalen Verwaltungseinheit (Land- und Stadtkreise, Stadtbezirke von Großstädten) das Krankenhaus als Gesundheitszentrum die gesamte ärztliche Versorgung der Bevölkerung in seinem „Versorgungsbereich“ leiten; dabei blieb wiederum das Betriebs-G. ausgenommen. Die Poliklinik als Einrichtung für die ambulante Behandlung und Überwachung wurde dem Krankenhaus des Versorgungsbereichs nachgeordnet (in Umkehrung des früheren Prinzips jetzt „Krankenhaus-Poliklinik-Einheit“). Aufgabe ist, „durch sinnvolles Ineinandergreifen der drei Aufgabenbereiche (nämlich Vorbeugung, Behandlung und nachgehende Überwachung) eine weitere Verbesserung der gesundheitlichen Betreuung der Bevölkerung zu erzielen“. Dem leitenden Arzt jedes Krankenhauses sind dafür die jeweils kleineren Krankenhäuser seines Bereichs und die Poliklinik (mindestens nominell) weisungsgebunden unterstellt, der Poliklinik ebenso Ambulatorien (anfangs mit nachgeordneten Außenstellen) und Staatlichen Praxen. In gleicher Weise ist auch den leitenden Fachärzten dieser Einrichtungen eine hierarchisch gestaffelte Fachaufsicht zugedacht. Die einheitliche Gliederung gibt die formalen Voraussetzungen, alle Behandlungen von Bezirks-Krankenhaus und -Poliklinik aus zu steuern. Damit sollen die Schwierigkeiten der fachlichen Koordinierung ärztlicher Behandlungen und der Weiterleitung der „schwierigen Fälle“ an die entsprechend qualifizierte Stelle mit den Mitteln des Kommandostaates gelöst werden.

 

Das Vorhandensein einer verhältnismäßig starken Schicht qualifizierter niedergelassener Ärzte zwang jedoch zu wesentlichen Modifikationen gegenüber dem Schema der SU. Denn der starke Widerstand dieser Ärzte und ihre zunehmende Abwanderung ließen durchgreifende Maßnahmen zu ihrer Einordnung in das Gefüge der „staatlichen Einrichtungen“ nicht zu. Auch stand die Tradition des praktischen Arztes einer extremen Spezialisierung nach dem Muster der SU entgegen. So sollte von 1958 an die Staatliche Praxis (für Ärzte und Zahnärzte, wie auch für Tierärzte), ähnlich wie früher in der CSSR, die größere Selbständigkeit und individuelle Entscheidungsbefugnis (gegenüber der straffen Steuerung in Kollektiven in der SU) ermöglichen, die der Tradition des freiberuflichen Arztes westlicher Prägung zugestanden werden mußten. Die Auflösung der freien Praxen oder ihre Umwandlung erwiesen sich dennoch als unmöglich. Daher wurden die „Ärzte in eigener Praxis“ in das Bereichsarztsystem einbezogen (Perspektivplan für die Entwicklung der Medizinischen Wissenschaften und des G., Juli 1959). Für den Großteil der [S. 173]Bevölkerung, mindestens außerhalb der Großstädte, ließ sich damit die freie Arztwahl wesentlich einschränken, ohne daß sie förmlich aufgehoben wurde.

 

Die Einrichtung der Staatlichen Praxen seit 1958 hat die Abwanderung von Ärzten und den Widerstand der verbleibenden stark gefördert. Extremer Mangel an Ärzten zwang 1960 zu weitgehenden Zugeständnissen, die selbst vor der inneren Organisation der „staatlichen Einrichtungen“ nicht Halt machen konnten (Kommuniqué des Politbüros zur Verbesserung der Lage der Ärzte, 20. 12. 1960). 1961 wurde in diesen die „Halbstaatliche Praxis“ eingeführt und damit den angestellten Ärzten und Zahnärzten größere Bewegungsfreiheit innerhalb der Institutionen gewährt. Mit der Unterbindung der Abwanderung (13. 8. 1961) begann die Zahl der Ärzte und Zahnärzte rasch anzusteigen. Als Haupthindernis trat nun das Fehlen berufserfahrener Ärzte in den Vordergrund. Die hohen Ausbildungszahlen können das zunächst nicht ausgleichen. Die Schwierigkeiten sind von der Quantität auf die Qualität verlagert worden.

 

2. „Einheit des Gesundheitswesens“

 

 

Für das Arbeitsprinzip der Einheit von Vorbeugung, Behandlung und nachgehender Überwachung, bei gleichzeitiger Einheit von ambulanter und stationärer ärztlicher Versorgung, hat sich eine praktikable Lösung bisher nicht entwickeln lassen. Der jahrelang propagierte Gedanke, die ambulante und stationäre Behandlung jedes Kranken in der Hand jeweils nur eines Arztes zusammenzufassen, hat sich als nicht realisierbar erwiesen. Die Ärzte des Versorgungsbereiches sind weiterhin (mit Ausnahme einzelner Fachgebiete) entweder im „stationären“ oder im „ambulanten Sektor“ tätig. Zusammengefaßt sind nur noch „Anleitung und Kontrolle“ mit dem Zweck, eine rationelle einheitliche Behandlung und Überwachung innerhalb der staatlichen Behandlungseinrichtungen zu erreichen und Mehrfachaufwand für Diagnostik zu vermeiden. Ebenso hat sich kein Weg gefunden, das Betriebsgesundheitswesen in die Organisation nach Versorgungsbereichen einzubeziehen. Seine Angliederung an das „Gesundheitszentrum“ blieb stets rein formal. Die starke Betonung der Arbeitshygiene, die gegenüber der Behandlungsaufgabe in den Vordergrund gestellt wurde, gab den Betriebsärzten eine Sonderstellung. Zwar wurde auch hier die regionale Gliederung eingeführt: die Betriebspoliklinik des größten Betriebs in jedem Kreis soll die Funktion einer „Leitstelle“ haben. Die Behandlungseinrichtungen aller kleineren Betriebe sind ihr formal nachgeordnet. Auch Klein- und Kleinstbetriebe sollen durch nebenamtliche Betriebsärzte arbeitshygienisch überwacht werden, unter Steuerung von der Leitpoliklinik aus. Diese „territoriale Organisation des Betriebsgesundheitsschutzes“ soll als Ganzes eine „Abteilung des Gesundheitszentrums“ des jeweiligen Kreises sein, um die Koordinierung der Behandlungsfunktionen zwischen betrieblichem und außerbetrieblich-regionalem System zu erreichen. Die zentrale arbeitsmedizinische Lenkung des Betriebsgesundheitswesens liegt bei der Arbeitssanitätsinspektion jedes Bezirks. Daneben aber wurde 1965 der Gedanke des „Perspektivplans“ wieder aufgegriffen, die Einrichtungen des Betriebsgesundheitswesens ergänzend nach Wirtschaftszweigen zu koordinieren, der innerhalb dieser jeweils gleichen arbeitsmedizinischen Probleme und Gefahren wegen: in jedem Wirtschaftszweig erhält eine große Poliklinik mit Arbeitshygienischer Abteilung die Aufgabe der Koordinierung und der Ausarbeitung und Festlegung des speziellen arbeitsmedizinischen Vorgehens.

 

 

3. Dispensaireprinzip

 

 

Gemeinsam ist diesen beiden Zweigen des G. die programmatische Vorrangstellung der „Prophylaxe“ und der nachgehenden Überwachung nach dem Prinzip des Dispensaire. Dessen Arbeit kann entweder auf Bevölkerungsgruppen, die gesundheitlich besonders gefährdet sind, gerichtet sein oder aber auf bestimmte Krankheiten, ihre Erfassung, Behandlungssicherung und Überwachung, wo immer sie auftreten. Die doppelte Ausrichtung im betrieblichen wie im regionalen System der „staatlichen Einrichtungen“ führt zu zahlreichen Überschneidungen. In regionaler Gliederung ist Dispensaire-Arbeit besonders auf Kinder, Jugendliche und Frauen gerichtet. Frauenberatungsstellen bieten Aufklärung und Hilfe in der Schwangerschaftsverhütung (zur Abwehr von Abtreibung und Schwangerschaftsunterbrechung, Schulung in der Säuglingspflege, Rechtsberatung usf.); Schwan[S. 174]gerenberatung hat eine praktisch vollzählige Erfassung und Überwachung aller Schwangeren bewirkt. Die Anstaltsentbindung ist systematisch gefördert worden (1964: 95,5 v. H. aller Entbindungen in Krankenhäusern und Heimen); „Frühgeburtendienst“, Frauenmilchsammelstellen und Milchküchen wurden eingerichtet, um die anhaltend ungünstige Säuglingssterblichkeit zu senken. Ähnlich ist die Jugendgesundheitspflege, die sich bis zum Ende des Berufsschulalters (also noch über die zehnklassige Oberschule hinaus) erstreckt, mitsamt Jugendzahnpflege zu einem System der Erfassung von Gesundheitsschäden und -schwächen in Reihenuntersuchungen und der Sicherung und Überwachung ihrer Behandlung ausgebaut. Auch die ärztliche Überwachung des Sports ist in „Sportärztlichen Beratungsstellen“ nach dem Dispensaireprinzip organisiert (Sportarzt). In der erwachsenen Bevölkerung sollen die Dispensaires einigen weitverbreiteten Krankheiten begegnen: Herz- und Kreislaufleiden, rheumatischen Leiden, Krankheiten der Atmungsorgane, Diabetes u.v.a. Solche Dispensaires bestehen zwar bei einzelnen großen Polikliniken, in der Hauptsache aber ist das Prinzip auf das Betriebs-G. beschränkt geblieben. Dort werden, wiederum mittels Reihenuntersuchungen, die Kranken frühzeitig „erfaßt“ und dann im Dispensaire „betreut“. Ebenso werden bestimmte Berufskrankheiten in einzelnen Industriezweigen und die vielfältigen Überlastungsgefahren der Frauen in Großbetrieben behandelt.

 

In den Betriebspolikliniken großer Industriebetriebe wird die gezielte Vorbeugung ergänzt durch nachgehende Maßnahmen, die sich besonders auf Rekonvaleszenten und auf Chronisch-Kranke richten: Nachtsanatorien sollen eine Kombination klinischer Behandlung mit Erwerbsarbeit ermöglichen, „Schonarbeitsplätze“ vor den hohen Anforderungen zeitweise bewahren, die die Arbeitsnormen auf normalen Arbeitsplätzen mit sich bringen (sog. Rehabilitation). Besondere Förderung erfährt, nach dem Muster der SU, seit einigen Jahren der „Gesundheitsschutz der Landbevölkerung“, d. h. das Betriebs-G. der Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften („LPG“) und die Hygiene der landwirtschaftlichen Wohngebiete, die beide „hinter der sozialistischen Umwälzung auf dem Lande zurückgeblieben“ sind (Perspektivplan, S. 22). Vorgefundene Struktur der medizinischen Versorgung und größere Siedlungsdichte im Vergleich zur SU haben die Nachahmung der dort entwickelten Organisationsschemata auf diesem Gebiete verzögert. In der Aufstellung der Bezirke nach dem Anteil der in der Landwirtschaft Tätigen an den Beschäftigten überhaupt (Tabelle) zeigen sich bei der ärztlichen und Krankenhausversorgung noch heute starke Ungleichmäßigkeiten; dagegen ist die Zahl der Beratungsstellen und Entbindungsbetten jetzt in den vorwiegend landwirtschaftlichen Bezirken relativ größer als in den industriellen. Die Säuglingssterblichkeit ist, soweit sie durch Anstaltsentbindung und Frühgeburtendienst gesenkt werden kann (Frühsterblichkeit), in jenen recht günstig.

 

4. Hygiene

 

 

Hygiene und Seuchenbekämpfung haben von Anfang an eine Sonderstellung gehabt und haben sie bewahrt. Zahlreiche Gesetze, Verordnungen und Verwaltungsvorschriften sollen einwandfreie Verhältnisse bei Trink- und Abwasser, im Lebensmittelverkehr, in den sehr verbreiteten Betriebsküchen u. dgl. herbeiführen. In der Lebensmittelhygiene hat das Lebensmittelgesetz von 1962 nebst Durchführungsbestimmungen die Entwicklung vorerst abgeschlossen; das in Vorbereitung befindliche „Gesetz zur Verhütung und Bekämpfung übertragbarer Krankheiten“ wird auf seinem Gebiet das Gleiche bewirken. Zur Durchsetzung aller dieser Rechtsvorschriften sind die Kontrollorgane unter Leitung der Hygiene-Inspektion mit weitreichenden Vollmachten ausgestattet. Die Eingliederung der Arbeitssanitätsinspektionen in die Bezirks-Hygiene-Institute (1959) soll die Koordination zwischen betrieblichen und allgemeinen Schutzmaßnahmen sichern und die häufigen Reibungen und Überschneidungen überwinden.

 

Die Bemühungen um Zusammenführung der Hygiene-Überwachung mit der (individuellen) „Prophylaxe, Therapie und Metaphylaxe“ ist über formale Regelungen nicht hinausgekommen, im wesentlichen darin sich erschöpfend, daß in jedem Bezirk und in jedem Kreis der Bezirkshygieniker (Kreishygieniker) als Leiter der Hygieneinspektion Stellvertreter des Bezirksarztes bzw. Kreisarztes ist, und daß dem [S. 175]Bereichsarzt die Verantwortung auch für die Hygiene in seinem ärztlichen Versorgungsbereich übertragen ist. Aber selbst dieses letzte ist von lediglich formaler Bedeutung, solange nicht epidemisches Auftreten von Krankheiten Notstände schafft. — Ähnlich hat auch das Apothekerwesen eine Sonderstellung: es steht in Bezirk und Kreis unter Leitung des Bezirks- bzw. Kreisapothekers, und dieser gehört der „Abteilung Gesundheitswesen des Rates des Bezirks“ (Kreises) an; er ist aber in der Führung eines großen Verwaltungskörpers, der auch das gesamte Rechnungswesen der Apotheken in sich schließt, fachlich selbständig.

 

5. Das Gesundheitszentrum

 

 

Eine einheitliche Körperschaft kann das G. schon eines Kreises, das derart vielfältige Institutionen zusammenfassen soll, nicht sein. Der Kreisarzt, fachlich-politisch verantwortliche Spitze, kann seine Funktion nur als Leiter des Kaderwesens und der Organisationszentrale erfüllen.

 

Die Doktrin einer „Einheit des G.“ gebietet gleichwohl, das Nebeneinander zu überwinden. Das ist der aktuelle Kern der Forderung, das „Gesundheitszentrum“ zu realisieren: in der Position des „Ärztlichen Direktors“ des Gesundheitszentrums soll der Leiter des Kreiskrankenhauses, soll vielleicht statt seiner der Kreisarzt im Krankenhaus residierend alle Funktionen des G. ebenso in Personalunion lenken, wie nach der Theorie der „Bereichsarzt“ in der untersten Versorgungseinheit. 1966 sollen in 15 Kreisen „Vereinigte Gesundheitseinrichtungen“ gebildet werden. Nun aber meldet der Widerstand angesehener Fachleute der „Organisation des Gesundheitsschutzes“ sich zu Wort gegen die Vorrangstellung der Krankenhausärzte (die ihrer Hauptaufgabe nach klinisch orientiert sein müssen), gegen die Beeinträchtigung der Krankenhausfunktionen durch die räumliche und organisatorische Nachbarschaft großer Verwaltungsstellen.

 

Immer neue Ansätze zur Realisierung der Prinzipien beweisen, daß es sich um wirklichkeitsfremde Konstruktionen handelt, nicht etwa um ein aus der Einsicht in funktionelle Zusammenhänge entwickeltes Konzept. Rationell war dabei die Schaffung von Institutionen, die unmittelbare Zusammenarbeit zahlreicher Ärzte ermöglichen. Polikliniken und Ambulatorien haben volle Entsprechungen in den angelsächsischen und skandinavischen Ländern, dort aus dem Streben nach rationeller Aufgabenerfüllung. Bewährt hat sich das Prinzip der Einheit von Vorbeugung, Behandlung und Nachsorge. Seine Wirkungen sind nicht zu verkennen: Senkung der Säuglings- und Müttersterblichkeit, Diabetesfrüherkennung, Krebsfrühbehandlung u. a.

 

6. Doktrin und Realität

 

 

Doch zeigt sich selbst in der „Prophylaxe“ das Unvermögen des Regimes, einfache und in der Praxis wirksame beständige Grundformen zu entwickeln, die den tatsächlichen Bedürfnissen der Bevölkerung gerecht werden und dabei Raum für die Entfaltung persönlicher Initiative der Mitarbeiter zur Anpassung an die jeweiligen Gegebenheiten lassen. Wirklichkeitsfern nach Doktrinen konstruierte Einrichtungen führen zu einem Übermaß von Verwaltung und „Kontrolle“. Kräfte und Mittel werden dadurch der effektiven Arbeit entzogen. Das gilt für den hohen Personalaufwand der Verwaltungs- und Überwachungsorganisation im G. (ein Viertel der Arbeitskraft der Ärzteschaft wird für diese Aufgaben verbraucht) wie für das ganze Sozial- und Wirtschaftsleben. Fehlleitung und Mißbrauch der vorhandenen Kräfte, rücksichtslose Konkurrenz der verschiedenen Teile des Staatsapparates, zumal der militärischen Verbände (Ministerium für G., Militärpolitik) haben wesentlich zu den bestehenden Schwierigkeiten beigetragen. Unter dem allgemeinen Ressortegoismus ist die Einheit des G. tatsächlich aufgelöst worden: „Nationale Volksarmee“, Verkehrswesen, Sport führen jeder einen eigenen „Medizinischen Dienst“, der dem Einfluß des Gesundheitsministeriums entzogen ist und diesem die knappen Fachkräfte in den Heilberufen streitig macht.

 

Auf ähnliche Weise werden dem G. Schwierigkeiten von der Organisation des Soziallebens künstlich bereitet: die Starre der Planwirtschaft mit ihren langfristig voraus festgelegten Stellenplänen, Arbeitskräfteplänen usf. bewirkt, daß Arbeitskräfte fixiert, auch wenn sie nicht gebraucht werden und nicht sinnvoll beschäftigt werden können. Überhöhter Krankenstand, der trotz ständiger Bemühung sich stets um [S. 176]mehr als ein Viertel über den Kennziffern hält, ist keineswegs nur Krankheitsgründen zuzuschreiben. Oft genug dient Arbeitsbefreiung unter Vorgabe von Krankheit lediglich der Tarnung von Wartezeiten, die durch Ausbleiben von Materiallieferungen u.ä. hervorgerufen werden. Pläne verhindern Rehabilitation der Behinderten und Beschäftigung vermindert leistungsfähiger älterer Menschen; denn auf den Plänen gibt es nur volle Arbeitskräfte. Nachtsanatorien könnten wertvolle Einrichtungen sein, um Erkenntnisse der Medizin in die Wirklichkeit des Arbeitslebens umzusetzen. Die planwirtschaftliche Starre läßt auch sie nicht zur Wirkung kommen. Ungünstigste Folge der Fehlleitung von Arbeitskräften ist die extreme Einspannung der Frauen in die außerhäusliche Arbeit: der Anteil der erwerbstätigen an der Gesamtzahl der Frauen „im erwerbstätigen Alter“ (von 15 bis 60 Jahren) betrug 1964 72 v. H.; er ist um fast die Hälfte höher als in der BRD mit 49,9 v. H. Der Anteil der Frauen an den Beschäftigten der Land- und Forstwirtschaft beläuft sich auf 46,2 v. H., unter den Arbeitern und Angestellten der Bauwirtschaft auf 10,2 v. H. Unverändert werden Frauen in Nacht- und Schwerarbeit beschäftigt, den elementaren Grundsätzen des Arbeitsschutzes zum Trotz. Gegen die resultierenden Gesundheitsschäden kommen die Bemühungen um „Gesundheitsschutz“, etwa in der Schwangerschaft, nicht an: der Anteil der Totgeburten ist zwar seit 1956 geringfügig gesunken, der Anteil der Frühgeburten an allen Lebendgeborenen dagegen ist um mehr als ein Viertel gestiegen. Die Entwicklung des (höchst aufwendigen) „Frühgeburtendienstes“ war notwendig, um die Schäden, die in der Säuglingssterblichkeit sichtbar werden, auszugleichen. In der hohen Sterblichkeit des späteren Säuglingslebens, in dem sie von den äußeren Lebensumständen abhängt, zeigen die Auswirkungen der überhöhten Frauenerwerbstätigkeit sich unverändert. Auch steigende Zahlen von Plätzen in Kinderkrippen kompensieren sie nicht. Kinder und Jugendliche werden durch verschleierte Kinderarbeit („Erntehilfe“ u.a.), durch Nacht- und Schwerarbeit vom 17. Lebensjahr an und selbst noch in der Schule durch die polytechnische Bildung und Erziehung überfordert. Alle Erwerbstätigen stehen unter ständiger nervlicher Belastung (Normen, Prämienwesen, politischer Druck); dazu kommt das Fehlen ausreichender Entspannung (ungenügende Freizeit durch Sonderschichten und -einsätze, durch staatspolitische Schulung usf.). Der „Gesundheitsschutz“ bleibt auf Früherfassung von Krankheiten beschränkt und erreicht selbst diese nur stellenweise. Lange durchschnittliche Dauer der Krankheitsfälle läßt vermuten, daß ernste Gesundheitsschäden eine beträchtliche Rolle spielen; die Lebenserwartung der Männer wie der Frauen bereits im 60. Lebensjahr und in jeder folgenden Fünfjahrgruppe liegt deutlich niedriger als in der BRD. Die Ursachen wird man auch in der Erschwerung der ärztlichen Behandlung durch lückenhafte Arzneimittelversorgung und im Mangel an erfahrenen Ärzten in der Krankheitsbehandlung zu suchen haben; beides führt oft zu behelfsmäßiger oder gar oberflächlicher Behandlung.

 

Andrerseits wird gesundheitliche Aufklärung und Belehrung intensiv und an vielerlei Stellen betrieben. Ärzte in Krankenhäusern und Polikliniken müssen einen festen Teil ihrer Arbeitszeit darauf verwenden. Das Deutsche Rote Kreuz ist mit seinen Hygiene-Aktivs auf diese Aufgabe ausgerichtet. Periodisch wechselnde Schwerpunkte geben dafür neue Anregungen. Das Hygiene-Museum in Dresden stellt Unterrichtsmaterial in hoher geistiger und technischer Qualität für die Breitenarbeit der Gesundheitserziehung in der Bevölkerung bereit.

 

Rasch ansteigende Zahlen der Mitarbeiter in den ärztlichen und nichtärztlichen Heilberufen (Ärzte, Mittleres ➝Medizinisches Personal) lassen eine allmähliche Intensivierung der Arbeit auf allen Gebieten des G. zu. Zugeständnisse in programmatischen Formulierungen („Perspektivplan“) und zeitweilig mildere Regelungen (Kommuniqué des Politbüros vom 20. 12. 1960) waren von vornherein nur als zeitweilig zu verstehen. Das Ziel der völligen Verstaatlichung und der einheitlich straffen Steuerung des G. hat nie in Frage gestanden. Es ist im wesentlichen erreicht. — Die medizinische Forschung wird nachdrücklich gefördert (Akademie der Wissenschaften). Ihr sind zwar die starren dogmatischen Bindungen (Pawlow) zum großen Teil genommen. Aber sie unterliegt zentraler Lenkung (Deutscher ➝Forschungsrat) und sie ist pragmatisch auf Schwerpunkte im Rahmen der (volkswirtschaftlichen) Gesamtplanung konzentriert.

 

Literaturangaben

  • Weiss, Wilhelm: Das Gesundheitswesen in der sowjetischen Besatzungszone. 3., erw., von Erwin Jahn völlig umgearb. Aufl. (BB) 1957. Teil I (Text) 98 S., Teil II (Anlagen) 189 S.

 

Fundstelle: SBZ von A bis Z. Zehnte, überarbeitete und erweiterte Auflage, Bonn 1966: S. 171–176


 

Information

Dieser Lexikoneintrag stammt aus einer Serie von Handbüchern, die zwischen 1953 und 1985 in Westdeutschland vom Bundesministerium für gesamtdeutsche Fragen (ab 1969 Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen) herausgegeben worden sind.

Der Lexikoneintrag spiegelt den westdeutschen Forschungsstand zum Thema sowie die offiziöse bundesdeutsche Sicht auf das Thema im Erscheinungszeitraum wider.

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