
Rentnerreisen (1966)
Siehe auch die Jahre 1965 1969 1975 1979
Am 9. 9. 1964 gab der Ministerrat bekannt, daß in Kürze für Rentner Reisen in die BRD und nach West- Berlin möglich sein werden. Damit ist erstmals seit Errichtung der Mauer und der darauffolgenden Drosselung des Interzonenverkehrs für eine bestimmte Personengruppe wieder die Möglichkeit zu Besuchsreisen in den Westen geschaffen worden. Insgesamt sind davon 3,1 Mill. Menschen (Frauen über 60 und Männer über 65 Jahre) von 17,0 Mill. Einwohnern betroffen. Jährlich wird eine Besuchsreise in die BRD oder nach West-Berlin mit einer Aufenthaltsdauer von höchstens vier Wochen bewilligt. Bei Todesfall oder schwerer Erkrankung von Angehörigen kann eine weitere Reise genehmigt werden. Reiseantritt war ab 2. 11. 1964 möglich, Anträge wurden ab 21. 9. 1964 entgegengenommen. Wie behauptet wird, ist der Kreis der Rentner weniger der „Befragung durch westliche Kontaktstellen und Spionageorganisationen“ ausgesetzt. Offiziell werden die R. als Folge eines Gespräches zwischen Ulbricht und dem thüringischen Landesbischof Mitzenheim vom 18. 8. 1964 gesehen. Mitzenheim bezeichnete die Reiseerlaubnis für Rentner als „großzügige Vorleistung des Vertrauens und des guten Willens von unserer Regierung“. Der Ministerrat wertete sie als Ausdruck seiner Bereitschaft, „die durch die Politik der revanchistischen und militaristischen Kreise in Westdeutschland entstandenen Schwierigkeiten und Härten im Interesse der Bürger beider deutscher Staaten und West-Berlins zu mildern“. Finanzielle Schwierigkeiten entstanden den Rentnern zunächst insofern, als die Fahrkarten für Hin- und Rückfahrt bei Antritt der Reise in der SBZ gelöst werden mußten. Diese Forderung verstieß gegen ein Abkommen zwischen der Bundesbahn und der sowjetzonalen Reichsbahn, das auf Grund von Bestimmungen des Alliierten Kontrollrates zustande gekommen ist. Ab März 1963 wurden keine Rückfahrkarten mehr ausgegeben. Bei R. hat das Reisebüro der SBZ empfohlen, nur für die Rückfahrt ab „Grenzbahnhof der DDR“ bis zum Heimatort eine Rückfahrkarte zu lösen. Den Rentnern ist auf Grund sowjetzonaler Devisenbestimmungen die Mitnahme von Zahlungsmitteln untersagt, mit Ausnahme eines Betrages von 100 DM Ost, der zur Bestreitung der ersten Ausgaben nach der Wiedereinreise dienen soll. Er wird bei der Ausreise registriert und muß bei der Wiedereinreise nachgewiesen werden. Den Rentnern wird vor Antritt ihrer Reise nur ein Betrag von 5 DM Ost gegen 5 DM West von sowjetzonalen Stellen umgetauscht. Sie kommen daher so gut wie mittellos in die BRD und sind auf die Unterstützung von Freunden und Verwandten angewiesen. Aus Bundesmitteln werden von den Betreuungsstellen der Städte und Landkreise für jeden Besucher eine Barbeihilfe in Höhe von 30 DM West sowie eine weitere Unterstützung von 20 DM West aus Landesmitteln gewährt Vielerorts werden aus örtlichen Mitteln weitere Beträge in unterschiedlicher Höhe gezahlt. Außerdem erhalten die Rentner kostenlose Krankenhilfe im Falle einer Erkrankung während des Aufenthalts. Für die Kosten der Rückreise werden Gutscheine der Deutschen Bundesbahn ausgegeben.
Während saisonbedingter Spitzenzeiten des sowjetzonalen Reiseverkehrs werden bei [S. 400]Anträgen auf R. in der Regel örtliche Schikanen angewandt, um von einem Besuch in der BRD abzuhalten. Trotzdem sind nach vorläufigen Angaben in der Zeit vom 1. 11. 1964 bis zum 31. 12. 1965 rd. 1,9 Mill. Rentner aus der SBZ und dem Berliner Sowjetsektor in den freien Teil Deutschlands gekommen. Davon entfallen rd. 470.000 Rentnerbesuche auf Berlin (West).
Nach Pressemeldungen beschwerten sich schon ab Januar 1965 sowjetzonale Stellen über Behörden der BRD, weil an Rentner aus der SBZ „Personaldokumente“ für Reisen in das benachbarte westliche Ausland ausgegeben worden seien. Damit würden die Rentner zum Verstoß gegen das sowjetzonale Paßwesen verleitet. Schließlich wurde sogar mit einem Abbruch der R. gedroht. Einige Monate später nutzte das Regime die gleiche Angelegenheit auf eigene Weise aus. Nach einem Beschluß des Staatsrates vom 15. 10. 1965 dürfen Einwohner der SBZ im Rentenalter jährlich bis zu vier Wochen in europäische Länder und bis zu drei Monate in außereuropäische Länder reisen. Eine Reise in die BRD schließt jedoch eine Reise in das westliche Ausland im selben Jahr aus. Dieser Beschluß ist mit der Auflage verbunden, daß die Zonen-Reisepässe durch NATO-Länder nicht „diskriminiert“ werden dürfen. Dabei handelt es sich erneut um einen Versuch der SBZ, auf Kosten der Menschlichkeit zu internationaler Anerkennung zu kommen. Jedes westliche Konsulat in Berlin (West) kann jetzt Reiseanträge aus der SBZ entgegennehmen und nach Zustimmung des Allied Travel Board von sich aus entscheiden. Die Pässe der SBZ finden aber nach wie vor keine Anerkennung. Das Konsulat erteilt das Visum auf einem besonderen Formular. R. in das westliche Ausland dürfen jedoch nur unter Umgehung des Bundesgebietes einschl. Berlin (West) unternommen werden.
Fundstelle: SBZ von A bis Z. Zehnte, überarbeitete und erweiterte Auflage, Bonn 1966: S. 399–400
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