
Agrarpolitik (1966)
Siehe auch die Jahre 1962 1963 1965 1969 1975 1979 1985
[S. 14]Die Landwirtschaft in der SBZ steht seit 1945 im Zeichen der von der kommun. Doktrin bestimmten A. Danach sind die Beseitigung des selbständigen Bauernstandes und seine Kollektivierung unerläßliche Voraussetzungen für den Aufbau des Sozialismus. Unter Mißachtung der ganz anders gearteten historischen, kulturellen, sozialen und wirtschaftlichen Bedingungen in Mitteldeutschland kopiert die A. der SED das sowjetrussische Vorbild. Es liegt klar zutage, daß die agrarpolitischen Maßnahmen, die den Wandlungsprozeß der Landwirtschaft bewirkten, in den Grundzügen und in vielen Einzelheiten mit dem sowjet. Muster übereinstimmen. Dabei wurden jedoch die in der SU gesammelten Erfahrungen zur zeitlichen Abkürzung des Entwicklungsprozesses genutzt.
Im ersten Stadium des kommun. Regimes verzichteten die Machthaber auch in der SBZ darauf, mit einer allgemeinen Kollektivierung der Landwirtschaft zu beginnen. Aus praktischen und politischen Gründen wollte man eine Opposition der bäuerlichen Bevölkerung vermeiden; man versuchte, sich ihre Sympathien durch eine Bodenreform zu verschaffen, die zu einer entschädigungslosen Enteignung der Großgrundbesitzer und zur Aufteilung ihres Landes in eine Vielzahl kleiner einzelbäuerlicher Betriebseinheiten führte. Ein ansehnlicher Teil des aus dem enteigneten und aus öffentlichen Ländereien gebildeten „Bodenfonds“ bildete den Grundstock für die Errichtung volkseigener Güter. Im Gegensatz zu Rußland konnte allerdings in der SBZ von einer revolutionären Bewegung auf dem Lande keine Rede sein, und auch das bäuerliche Eigentumsrecht am Boden wurde formal nicht aufgehoben. Sonst aber entspricht die Agrarentwicklung von 1945 bis 1952 in der SBZ weitgehend der von 1917 bis 1928 in Sowjetrußland. Wie in der UdSSR hat sich auch in der SBZ in dieser ersten Phase die Entwicklung nicht zum „sozialistischen Großbetrieb“, sondern zum bäuerlichen Kleinbetrieb hin bewegt. Der durch die Bodenreform 1945 ausgelöste Prozeß der Vermehrung des Kleinbetriebes auf Kosten des Großbetriebes war jedoch nur der taktische Beginn einer „Revolution von oben“, denn die bei der Landverteilung zugrunde gelegte Betriebsgröße war so bemessen, daß man sich später auf das ökonomische Argument stützen konnte, die den modernen Bewirtschaftungstechniken weniger zugänglichen Kleinbetriebe in die „sozialistische Großbetriebsform“ überführen zu müssen. Das offensichtliche Nahziel war, die Bauernschaft zu neutralisieren, die Klassenspaltung im Dorf künstlich herbeizuführen und das neue Kleinbauerntum in eine vielfältige Abhängigkeit zu bringen, um es dem politischen Einfluß der kommun. Partei auszuliefern. Der Verwirklichung dieser Absichten diente von Anfang an das in der zentralen Befehlswirtschaft etablierte Plansystem sowjetischer Prägung, nach dem alle aus wirtschaftspolitischen Gründen erwünschten Maßnahmen dirigiert werden. Vor allem zeigte die Kollektivierung der größeren Landmaschinen und ihre Konzentration in Maschinen-Traktoren-Stationen die Absicht an, von vornherein eine private Eigentumsbildung an Produktionsmitteln bei den zahlreichen Neubauern auszuschließen und diese damit technisch und wirtschaftlich vom Monopol der MTS abhängig zu machen. Mit ihren politischen Abteilungen hatten die MTS zudem politische Aktivierungsarbeiten in der Bauernschaft zu übernehmen. Als Machtinstrument der komm. Partei auf dem Lande diente die als „Massenorganisation“ deklarierte Vereinigung der gegenseitigen Bauernhilfe (VdgB).
Schon bald nach einer gewissen Übergangszeit (1946 bis 1948), die etwa mit den von Lenin als „Atempause“ bezeichneten Jahren der „neuen ökonomischen Politik“ in Rußland (1921 bis 1928) vergleichbar ist, zeichnete sich eine zweite Etappe in dieser ersten — noch auf den Kleinbetrieb gerichteten — Entwicklungsphase ab. In Übereinstimmung mit dem sowjetischen Vorbild setzte der Klassenkampf auf dem Lande ein (1948/49 bzw. 1928/29). Systematisch wurde damit das Feld für den späteren Kurswechsel zur Kollektivierung weiter vorbereitet. Nächst den bereits völlig ausgeschalteten Großgrundbesitzern konzentrierte sich der neue Angriff auf die „reichen Bauern“ („Kulaken“), da der „revolutionäre Weg des Sozialismus“ vorschreibt, die Bauernschaft nicht als einheitliche Klasse zu behandeln. Der „Klassenkampf auf dem Lande“ verlagerte sich in der Kollektivierungsphase auf das Verhältnis zwischen Einzel- und Genossenschaftsbauer, und im heutigen Stadium [S. 15]der „Vollkollektivierung“ besteht er noch in gewisser Weise zwischen den LPG-Mitgliedern der Typen III und I.
Die Kampfmethoden gegen die Bauern mit größeren Wirtschaften (in der Regel über 20 ha landwirtschaftlicher Nutzfläche) waren vielfältig und zahlreich. Sie reichten von der hohen Einstufung im Tarif-, Ablieferungs- und Steuersystem einerseits und von der Benachteiligung in der Belieferung mit Betriebsmitteln aller Art und in den Erzeugerpreisen andererseits bis zur Verschärfung des Strafmaßes bei Nichterfüllung der auferlegten Verpflichtungen, bis zur gesellschaftlichen Diskriminierung und reinen Willkür. Der Klassenkampf auf dem Lande wurde vor allem von folgenden Organisationen getragen: Von den MTS, von den nach Auflösung der Raiffeisengenossenschaften reorganisierten VdgB, BHG, von den volkseigenen Erfassungs- und Aufkaufbetrieben mit dem Handelsmonopol für landwirtschaftliche Produkte und von der Deutschen Bauernbank, die als Finanzierungsinstitut die Geld- und Kreditpolitik der Landwirtschaft beherrscht. In enger Verbindung damit vervollständigten das Agrarpreissystem und die Ablieferungspflicht die Möglichkeiten, die Groß- und Mittelbauern stark zu benachteiligen. Die Maßnahmen des Klassenkampfes führten zu einem ständigen Absinken der durchschnittlichen Betriebsgröße, da die Zahl der größeren Bauernbetriebe laufend zurückging.
Mit dem von Ulbricht auf der II. Parteikonferenz der SED im Juli 1952 verkündeten „planmäßigen Aufbau des Sozialismus“ begann die zweite Phase der Wandlung der mitteldeutschen Agrarstruktur. Ihr Kernstück ist die „freiwillige“ Vorbereitung des Sozialismus auf dem Lande in Form der Gründung landwirtschaftlicher ➝Produktionsgenossenschaften (LPG), d.h. das Zusammenfassen der Bauernhöfe in Kollektivwirtschaften. Damit traten die Kollektivierungsabsichten, bis dahin von höchsten amtlichen Stellen immer wieder in Abrede gestellt, offen zutage. Bei diesem Prozeß beruft man sich auf die marxistisch-leninistische Theorie, nach welcher „der Kleinbetrieb die erstrebenswerte Entwicklung der gesellschaftlichen Produktivkräfte naturnotwendig ausschließt“. Der Kleinbetrieb müsse also notwendigerweise vom Großbetrieb verdrängt werden, allerdings nicht vom „kapitalistischen“, sondern vom „sozialistischen“.
Antriebskraft für den Zusammenschluß in LPG war nicht etwa Freiwilligkeit der Bauern, sondern es dienten als treibendes Moment wirtschaftspolitische Maßnahmen, die nach dem simplen Prinzip funktionierten: Benachteiligung der Einzelbauern — Begünstigung der LPG-Mitglieder. Durch mehrere Ministerratsbeschlüsse wurden als Begünstigungen für die LPG u.a. festgelegt: Bevorzugte Bedienung durch die MTS beim billigsten Tarif, bevorzugte Kreditgewährung, Steuerermäßigungen, Senkung des Ablieferungssolls, bessere Versorgung mit mineralischen Düngemitteln, Futtermitteln, Saatgut, Zuchtvieh und Geräten sowie Befreiung von Schulden, die aus der Übernahme von Land im Zuge der Bodenreform herrührten. Alle Agrarinstitutionen in der SBZ wurden aufgerufen, an der Förderung der LPG mitzuwirken. Durch die offizielle politische und zentralbürokratische Förderung der LPG wurden alle außerhalb stehenden landwirtschaftlichen Privatbetriebe so benachteiligt, daß auf sie ein zunächst indirekter, aber nachhaltiger Druck zur Aufgabe der Individualbewirtschaftung ausgeübt wurde.
Die Zwangskollektivierung lief mit zeitweise unterschiedlichem Tempo vom Juli 1952 bis April 1960 ab (vgl. Schaubild). Stagnationen zeigten sich im Jahre 1953 und dann besonders 1956 und 1957: Die Auswirkungen des Juni-Aufstandes, der Unruhen in Polen und des Aufstandes in Ungarn treten deutlich hervor. Der Anstieg in den Jahren 1954 und 1955 ist fast ausschließlich eine Folge der Umwandlung von örtlichen Landwirtschaftsbetrieben. Anfang 1960 setzte eine systematische Kampagne der SED ein, dazu bestimmt, den Widerstand der letzten Bauern zu brechen. SED- und FDGB-Funktionäre, Aktivisten, Organe der Polizei, der Staatsanwaltschaften, des SSD überschwemmten die Dörfer und erpreßten mit dem Beitritt zur LPG oft auch noch die Erklärung, daß er „freiwillig“ erfolgt sei. In den ersten 3½ Monaten des Jahres 1960 ist ein annähernd gleich großer Nutzflächenanteil kollektiviert worden wie in den 7 Jahren von 1952 bis 1959. Am 14. April 1960 meldete der letzte Bezirk die „Vollsozialisierung“. Da[S. 16]mit ist das Endziel der kommunistischen A., das darin besteht, Selbständigkeit und individuelle Freiheit des traditionsverbundenen Bauerntums durch die Vergesellschaftung des Bodens und der Produktionsmittel sowie durch die Einordnung der Bauern als Arbeitskräfte in „sozialistische Großbetriebe“ aufzuheben, also den ländlichen Mittelstand zu überwinden und die Unterschiede in der Arbeitsweise und Arbeitsgesinnung zwischen Industrie und Landwirtschaft auszugleichen, damit beide Wirtschaftszweige gleichermaßen der zentralen Lenkung und Kontrolle zugänglich gemacht werden, noch nicht erreicht.
Die bedingungslose Kopie des sowjetrussischen Modells gestattet, einige Rückschlüsse auf die künftigen Entwicklungsabsichten auch in der SBZ zu ziehen. In der SU, wo sich die beiden Arten des „sozialistischen“ Großbetriebes, Kolchos u. Sowchos, entwickelt haben, besteht die Tendenz, die Kolchose mehr und mehr in Staatsbetriebe zu verwandeln. Dies Leitbild wird auch die A. der SBZ bestimmen, obwohl faktisch noch keine Umwandlungen von LPG III in VEG vorliegen. Sind erst alle LPG in den Typ III überführt, könnte diese Lösung auch den LPG-Mitgliedern durch die Gewährung eines Mindestlohnes als eine materielle Verbesserung ihrer Lage erscheinen. Mit der Umwandlung der LPG in VEG könnten auch die letzten Reste bäuerlichen Privateigentums, nämlich die persönliche ➝Hauswirtschaft, der Verstaatlichung zum Opfer fallen. Die Überführung des persönlichen Eigentums an Grund und Boden und an Produktionsmitteln — über die Stufe des „genossenschaftlichen Eigentums“ — in „Staatseigentum“ wäre dann vollzogen und vollkommen.
Literaturangaben
- Kramer, Matthias: Die Bolschewisierung der Landwirtschaft in Sowjetrußland, in den Satellitenstaaten und in der Sowjetzone (Rote Weißbücher 3). Köln 1951, Kiepenheuer und Witsch. 144 S.
- Kramer, Matthias: Die Landwirtschaft in der sowjetischen Besatzungszone. 4. Aufl. (unter Mitarb. v. Gerhard Heyn und Konrad Merkel). (BB) 1957. Teil I (Text) 159 S., Teil II (Anlagen) 224 S.
- Merkel, Konrad, und Eduard Schuhans: Die Agrarwirtschaft in Mitteldeutschland — Sozialisierung und Produktionsergebnisse. (BB) 2., erw. Aufl. 1963. 200 S. m. 53 Tab. (Führt M. Kramers Schrift fort.)
- *: Die Zwangskollektivierung des selbständigen Bauernstandes in Mitteldeutschland, Denkschrift. (BMG) 1960. 142 S. m. zahlr. Faks.
Fundstelle: SBZ von A bis Z. Zehnte, überarbeitete und erweiterte Auflage, Bonn 1966: S. 14–16
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