DDR von A-Z, Band 1966

Wirtschaftswissenschaft (1966)

 

 

Siehe auch:


 

In der SBZ hat die W. die Aufgabe, die Politik des Ulbricht-Regimes „wissenschaftlich“ abzustützen. Erkenntnisse und Vorschläge von Wirtschaftswissenschaftlern, auch wenn sie SED-Genossen sind und im Grundsatz die marxistische Lehre von der Politischen Ökonomie (Politökonomie) anerkennen, werden als „unwissenschaftlich“ und „klassenfeindlich“ unterdrückt, wenn sie nicht mit der von Ulbricht und seinen Anhängern vertretenen Politik übereinstimmen. Methoden und Inhalt der sowjetzonalen W. sind in keiner Weise mit denen in der BRD vergleichbar. Die von westlichen Gepflogenheiten völlig abweichenden Begriffsbildungen erschweren die Gegenüberstellung wirtschaftswissenschaftlicher Kategorien in Ost und West. — Ideologisch weisunggebend ist das Gesellschaftswissenschaftliche Institut beim ZK der SED, Lehrstuhl für Politökonomie; Schwerpunkt der wirtschaftswissenschaftlichen Tätigkeit ist die Sektion W. bei der Deutschen Akademie der Wissenschaften in Ostberlin.

 

In der BRD und im gesamten Ausland fanden seit 1957/58 Auseinandersetzungen zwischen wichtigen Mitgliedern der Sektion W. einerseits und den Anhängern des Ulbricht-Kurses in der SED besondere Aufmerksamkeit. Auf der 30. Tagung des ZK der SED (Jan. 1957) mußten die Wirtschaftswissenschaftler Prof. Fritz ➝Behrens und sein Mitarbeiter Dr. Arne ➝Benary heftige Kritik hinnehmen. Ein von Prof. Behrens veröffentlichter Artikel mit einem Vergleich des Reallohns in der BRD und der SBZ — bei dem die BRD günstig abschnitt —, ferner andere Äußerungen von Prof. Bohrens, in denen er die Meinung vertrat, daß in der SBZ nunmehr die Zeit vorüber sein müsse, in der die Wirtschaft unmittelbar durch den Staatsapparat angeleitet wird, zogen ihm den Zorn der SED-Führung zu.

 

In ähnlicher Richtung lagen Äußerungen von Prof. Kohlmey, damals Direktor des Instituts für W. der Akademie und Professor mit Lehrauftrag an der Ostberliner Universität, der das System der Planwirtschaft kritisiert hatte, und sogar der damalige Parteiideologe Fred ➝Oelßner hatte sich wiederholt kritisch zum System der sowjetzonalen Wirtschaftsplanung geäußert, indem er offen die Meinung vertrat, daß ökonomische Fragen ökonomisch, nicht ideologisch gelöst werden müßten.

 

Die genannten Wirtschaftswissenschaftler wurden 1958 gemaßregelt und aus allen Funktionen entfernt, von denen aus sie in die Öffentlichkeit wirken konnten; sie wurden als „Revisionisten“ bezeichnet, deren Anschauungen „der kapitalistischen Ideologie weit die Tore öffnet“ (Revisionismus). Nur in der Sektion W. der Akademie durften sie unter Kontrolle der SED-Führung verbleiben. Seit vielen Jahren werden von Wirtschaftswissenschaftlern der SBZ u.a. folgende Themen bearbeitet: „Ausarbeitung der wissenschaftl. Grundlagen der Planung“, „Entwicklung einer Theorie der Wirtschaftsleitung“, „Entwicklung der Wirtschaftszweige“, „Erarbeitung von Methoden und Kennziffern für die Messung der Arbeitsproduktivität“, „Untersuchung der Ursachen für die Entstehung von Überplanbeständen; Formen und Methoden der Planung und Leitung der Produktion zur Versorgung der Bevölkerung mit Konsumgütern und Dienstleistungen“; „Ausarbeitung von Vorschlägen zur Verbesserung der Funktion und Wirkungsweise der Preise“ usw. Alle diese Forschungsaufträge konnten bisher nicht abgeschlossen werden, weil die ideologischen Forderungen der Partei an die Wirtschaftswissenschaftler exaktes wissenschaftliches Arbeiten ausschließen. Nicht zuletzt deshalb hat das Wirtschaftssystem der SBZ kein wissenschaftliches Fundament.

 

Die in der Richtlinie für das Neue ökonomische System der Planung und Leitung der Volkswirtschaft proklamierte „Wissen[S. 544]schaftlichkeit der Planung“ wird noch auf lange Sicht ein Programm ohne Realisierung bleiben, da Erkenntnisse der wirtschaftswissenschaftlichen Forschung von den kommun. Politikern nur insoweit beachtet und berücksichtigt werden, als sie den Machtanspruch der Parteiführung nicht gefährden. — Die Aufsicht über die wirtschaftswissenschaftliche Forschungstätigkeit übt das ökonomische Forschungsinstitut bei der Staatlichen Plankommission aus, das seinerseits nach den Weisungen des ZK der SED zu arbeiten hat.


 

Fundstelle: SBZ von A bis Z. Zehnte, überarbeitete und erweiterte Auflage, Bonn 1966: S. 543–544


 

Information

Dieser Lexikoneintrag stammt aus einer Serie von Handbüchern, die zwischen 1953 und 1985 in Westdeutschland vom Bundesministerium für gesamtdeutsche Fragen (ab 1969 Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen) herausgegeben worden sind.

Der Lexikoneintrag spiegelt den westdeutschen Forschungsstand zum Thema sowie die offiziöse bundesdeutsche Sicht auf das Thema im Erscheinungszeitraum wider.

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