DDR von A-Z, Band 1969

Gesellschaftsgefährlichkeit (1969)

 

 

Siehe auch die Jahre 1956 1958 1959 1960 1962 1963 1965 1966 1975 1979


 

Schon der erste Justizminister, Max Fechner, hatte ausgeführt, daß eine Handlung oder Unterlassung immer dann mit Strafe zu ahnden sei, wenn sie das „Element der G.“ enthalte, daß aber eine Bestrafung trotz Erfüllung eines strafrechtlichen Tatbestandes nicht erforderlich sei, wenn dieses Element fehle. Hilde ➝Benjamin brachte dies noch schärfer zum Ausdruck („Neue Justiz“ 1954, S. 453 ff.) und berief sich dabei auf den „materiellen Verbrechensbegriff“ in dem Art. 8 des Strafkodex der RSFSR. Das Strafrechtsergänzungsgesetz vom 11. 12. 1957 (GBl. S. 643) führte entsprechend diesen Meinungsäußerungen führender Justizfunktionäre und nach dem sowjet. Vorbild den „materiellen Verbrechensbegriff“ in das Strafrecht ein. Nach § 8 des Gesetzes lag eine Straftat nicht vor, „wenn die Handlung zwar dem Wortlaut eines gesetzlichen Tatbestandes entspricht, aber wegen ihrer Geringfügigkeit und mangels schädlicher Folgen für die DDR, den sozialistischen Aufbau, die Interessen des werktätigen Volkes sowie des einzelnen Bürgers nicht gefährlich ist“. § 9 bestimmte, daß Bestrafung unterbleibt, „wenn zur Zeit der Durchführung des Strafverfahrens die Tat nicht mehr als gesellschaftsgefährlich anzusehen ist, oder wenn nach der Tat im gesamten Verhalten des Täters eine grundlegende Wandlung eingetreten ist, die erwarten läßt, daß er die sozialistische Gesetzlichkeit achten wird“. Körperverletzung gegenüber einem „Provokateur“ ist „mangels schädlicher Folgen für die DDR, den sozialistischen Aufbau und die Interessen der Werktätigen“ keine strafbare Handlung (OG in „Neue Justiz“ 1960, S. 68).

 

Mit der Richtlinie Nr. 13 vom 14. 4. 1962 (GBl. II, S. 303) wollte das Oberste Gericht Klarheit über die Voraussetzungen der §§ 8 und 9 StEG schaffen und den Gerichten eine „richtige Orientierung“ auf den Staatsratsbeschluß vom 30. 1. 1961 (Strafpolitik) geben: Eine Handlung ohne schädliche Auswirkung für die sozialistische Staats- und Gesellschaftsordnung und die Rechte der Bürger sei nicht gesellschaftsgefährlich, also auch nicht tatbestandsmäßig. Das entscheidende Kriterium für den Anwendungsbereich des § 9 StEG — das Merkmal der „grundlegenden Wandlung“ — liege in der Entwicklung der Persönlichkeit des Täters. Ein erster Versuch, zu einer Definition der G. zu gelangen, lautete: „Gefährlich für die weitere gesellschaftliche Entwicklung, gefährlich für die weitere Einigung der menschlichen Gesellschaft auf der Basis der gesellschaftlichen [S. 245]Entwicklung, gefährlich für die weitere Festigung der neuen Beziehungen der Menschen, gefährlich für die sich immer stärker herausbildenden sozialistischen Verhältnisse“ („Neue Justiz“ 1961, S. 739).

 

Die Richtlinie Nr. 13, die den Gerichten eine richtige „Einschätzung“ der G. ermöglichen sollte, wurde durch Beschluß des Plenums des OG vom 6. 5. 1964 (GBl. II, S. 423) aufgehoben, weil sie in ihrem Wortlaut und mit ihren Beispielen nicht mehr den neuen gesellschaftlichen Bedingungen entsprochen habe. An der grundsätzlichen Bedeutung des Begriffs der G. für die strafrechtliche Beurteilung einer Tat änderte sich durch diesen Beschluß nichts. Mehr und mehr wurde allerdings in der Strafrechtswissenschaft die Auffassung vertreten, daß die G. nicht mehr als allgemeingültiges Kriterium einer Straftat angesehen werden sollte.

 

Das neue Strafgesetzbuch löste diese Streitfrage, indem es, was zunächst abgelehnt worden war, bei der Definition der Straftaten wieder in „Verbrechen“ und „Vergehen“ differenzierte. Damit wurde die Auffassung, daß einheitliches Wesensmerkmal aller Straftaten ihre G. sei, überwunden (H. Benjamin in „Neue Justiz“ 1967, S. 100). Die G. wird nun nur noch den als „Verbrechen“ bezeichneten Straftaten als bestimmende materielle Eigenschaft beigemessen, während die „Vergehen“ nicht mehr „gesellschaftsgefährlich“ sind, sondern definiert werden als „vorsätzlich oder fahrlässig begangene gesellschaftswidrige Straftaten, welche die Rechte und Interessen der Bürger, das sozialistische Eigentum, die gesellschaftliche und staatliche Ordnung oder andere Rechte und Interessen der Gesellschaft schädigen“ (§ 1, Abs. 2 StGB). Diese Unterscheidung in „Verbrechen“ und „Vergehen“ sowie die Abgrenzung dieser Straftaten von den Verfehlungen entspricht der seit 1961 entwickelten These von der antagonistischen und nichtantagonistischen Kriminalität. Entsprechend dieser Auffassung bringt § 3 StGB, in Abweichung von der in § 8 StE G enthaltenen Regelung und unter Vermeidung des Begriffs „gefährlich“, zum Ausdruck: „Eine Straftat liegt nicht vor, wenn die Handlung zwar dem Wortlaut eines gesetzlichen Tatbestandes entspricht, jedoch die Auswirkungen der Tat auf die Rechte und Interessen der Bürger oder der Gesellschaft und die Schuld des Täters unbedeutend sind.“ Nach § 25 StGB ist von Bestrafung u.a. abzusehen, „wenn die Straftat infolge der Entwicklung der sozialistischen Gesellschaftsverhältnisse keine schädlichen Auswirkungen hat“. (Rechtswesen, Strafrecht)


 

Fundstelle: A bis Z. Elfte, überarbeitete und erweiterte Auflage, Bonn 1969: S. 244–245


 

Information

Dieser Lexikoneintrag stammt aus einer Serie von Handbüchern, die zwischen 1953 und 1985 in Westdeutschland vom Bundesministerium für gesamtdeutsche Fragen (ab 1969 Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen) herausgegeben worden sind.

Der Lexikoneintrag spiegelt den westdeutschen Forschungsstand zum Thema sowie die offiziöse bundesdeutsche Sicht auf das Thema im Erscheinungszeitraum wider.

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