
Jugend (1969)
Siehe auch die Jahre 1962 1963 1965 1966 1975 1979 1985
[S. 309]Die SED muß — wie jede politische Führungsgruppe — aus Gründen der Kontinuität ihrer Herrschaft die junge Generation innerhalb ihres Machtbereiches durch Vermittlung systemstabilisierender Normen in das politische System integrieren. Diese Normen sind u.a.: Staatsbürgerbewußtsein (Patriotismus, „Verteidigungsbereitschaft“), sozialistisches ➝Bewußtsein (Marxismus-Leninismus, „proletarischer Internationalismus“), Liebe zur Arbeit („sozialistische Arbeitsmoral“), Lernbereitschaft (Streben nach beruflichem Aufstieg) sowie „sauberes moralisches Verhalten“ (sozialistische ➝Moral).
Die SED postuliert zwischen Partei und J. — in ihrem Selbstverständnis getreu marxistisch-leninistischen Grundsätzen — ein „unverbrüchliches Vertrauensverhältnis“, das die Übertragung „hoher Verantwortung“ bei der Vollendung des Sozialismus und der Meisterung der wissenschaftlich-technischen Revolution rechtfertige. Indem sie die J. als „Hausherrn von morgen“ und als „Schrittmacher für das Neue“ bezeichnet, bemüht sie sich, den Willen der Jugendlichen zur Identifizierung mit der sozialistischen Gesellschaftsordnung zu wecken und ihre Einsatzbereitschaft zu aktivieren. Die formalen Voraussetzungen für die Wahrnehmung der künftigen Hausherrenfunktion sind durch Art. 20, Abs. 3 der Verfassung vom 6. 4. 1968 gegeben. Dort heißt es: „Die J. wird in ihrer gesellschaftlichen und beruflichen Entwicklung besonders gefördert. Sie hat alle Möglichkeiten, an der Entwicklung der sozialistischen Ordnung verantwortungsbewußt teilzunehmen.“
Den bürgerlichen Individualismus ablehnend, wird der „sozialistische Kollektivismus“ zum Erziehungsideal erklärt, der einerseits die Selbsterziehung der J. zum normgemäßen, d.h. sozialistischen Verhalten impliziert, andererseits aber die Bindung an die politisch und gesellschaftlich aktive Lern- und Arbeitsgruppe (z. B. an die FDJ-Grundorganisation, an das J.-Kollektiv bzw. die J.-Brigade im Betrieb) für unerläßlich erachtet. Um schwer kontrollierbare negative Einflüsse (z. B. durch westliche Funk- und Fernsehsendungen und westliche Literatur) auszuschalten, soll der Erziehungsprozeß, der im Zusammenwirken von Elternhaus, Schule und J.-Organisation zu erfolgen hat, nicht dem Selbstlauf überlassen bleiben.
Jugendpolitik
Allgemeine Voraussetzung für die Teilnahme der J. am öffentlichen Loben bildet das durch die Festlegung des Mündigkeits- bzw. Wahlberechtigungsalters auf 18 bzw. 21 Jahre formal, vorwiegend über die FDJ in gewisser Weise auch materiell gesicherte Kontroll-, Mitsprache- und Vertretungsrecht im politisch-staatlichen und wirtschaftlichen Bereich. Schwerpunkt der J.-Politik der SED war und ist der schul- und bildungspolitische Sektor. So gehörten 1967 32.380 junge Menschen den Volksvertretungen an. Von den Werksdirektoren waren 8,7 v. H., von den technischen Direktoren 34,5 v. H. und von den ökonomischen Direktoren 25 v. H. unter 35 Jahre alt. („Junge Generation“, 4/1967). Als auf diesem Gebiet bereits erreichte Erfolge gelten a) die Beseitigung des Bildungsprivilegs durch die „antifaschistisch-demokratische Schulreform“ (Schaffung der Einheitsschule und Einrichtung vollausgebauter Zentralschulen auf dem Lande), b) die Verbesserung und Neugestaltung des Schul- und Ausbildungssystems vor allem durch die Einführung des polytechnischen Unterrichts und die Verlängerung der allgemeinen Schulpflicht auf zehn Jahre (Erziehungs- und Bildungswesen).
Auf arbeitsrechtlichem Gebiet konkretisierte sich die J.-Politik der SED zunächst in dem bereits im Arbeitsgesetz vom 19. 4. 1950 (GBl. S. 349) niedergelegten und in Art. 24 der Verfassung von 1968 ebenfalls enthaltenen Prinzip, daß Jugendliche daß Recht auf gleichen Lohn bei gleicher Arbeitsleistung haben. Ferner gelten für Jugendliche besondere Arbeitsschutzanordnungen und Arbeitszeitregelungen (Jugendarbeit). Bedeutsamer sind die über die erwähnten Maßnahmen hinausgehenden Bestimmungen zur beruflichen Ausbildung und vor allem die spezifischen Förderungsmaßnahmen, die im Gesetzbuch der Arbeit (GBA) angeordnet werden. In jährlich zwischen Betriebsgewerkschaftsleitung (BGL) und Betriebsleiter unter aktiver Beteiligung der FDJ im Rahmen des Betriebskollektivvertrages abzuschließenden Jugendförderungsplänen soll die J. befähigt werden, ihren Beitrag zur Steigerung der Arbeitsproduktivität zu leisten. Dieser Beitrag besteht etwa in der Übernahme von Ju[S. 310]gendobjekten (z. B. Einrichtung neuer Produktionsanlagen, Entwicklung und Erprobung neuer Produktionsmethoden, im Wert exakt abrechenbar nach den allgemeinen Prinzipien der Kostenrechnung), in der Austragung von Leistungswettbewerben zwischen J.-Brigaden („Schrittmacherbewegung“, Messe der Meister von morgen; im Hochschulbereich: Studentenwettstreite und Leistungsschauen) oder in der Unterstützung der Qualifizierungspropaganda der SED. Weiterhin sollen Jugendliche in Leitungsfunktionen eingesetzt und bei vorhandener Begabung vom Betrieb zum Hoch- oder Fachschulstudium delegiert werden.
Seit dem VI. Parteitag ist die J.-Politik der SED spürbar intensiviert worden, da die Einführung des NÖS eine Orientierung auf neue, die Effektivität des Systems im allgemeinen und die Arbeitsproduktivität im besonderen steigernden Wissenschaftsgebiete (z. B. Kybernetik, Operationsforschung) eine Neubestimmung des Ausbildungsinhalts und eine Neustrukturierung der herkömmlichen Ausbildungsorganisation erforderte. Dementsprechend konzentriert sich seitdem die Aktivität der Partei vorwiegend auf die Rolle, die die J. in dem Umwandlungsprozeß übernehmen soll, und auf die Maßnahmen, sie bewußtseinsmäßig und fachlich darauf vorzubereiten. Zunächst im Jugendkommuniqué vom 21. 9. 1963 programmatisch formuliert, erfuhren die jugendpolitischen Vorstellungen der SED eine Spezifizierung im Jugendgesetz und im Gesetz über das einheitliche sozialistische Bildungssystem, das folgerichtig die im GBA im grundsätzlichen enthaltenen Bestimmungen zur Berufsausbildung aufnimmt und sowohl Ausbildungswege wie Verantwortlichkeiten präzisiert. Gegenüber dem J.-Kommuniqué, das „die Stunde der … jungen Facharbeiter, Genossenschaftsbäuerinnen, Techniker, Lehrerinnen, Ingenieure“ und weiterer Spezialisten für gekommen erklärt, weisen jüngere Verlautbarungen der SED wieder in stärkerem Maße auf die Notwendigkeit der politisch-ideologischen Erziehung der J. hin, die das Fachwissen einschließen und nicht neben diesem stehen soll, um eine politisch konsequenzenreiche Verselbständigung des Sachverstandes zu verhindern. Dabei wird auf die Verantwortung der Grundorganisationen und Parteileitungen der SED für die klassenmäßige Erziehung der J. hingewiesen. Sie sollen sich vor allem um die Rolle und Wirksamkeit der FDJ und deren praktische Arbeit mit der J. kümmern.
Im Beschluß des Staatsrates vom 31. 3. 1967 („Neues Deutschland“ v. 1. 4. 1967, S. 3 ff.) formulierte die SED in zehn Grundsätzen ihre J.-Politik und die Maßnahmen zu ihrer Verwirklichung. Der Staatsratsbeschluß ist als Erweiterung des J.- und des Bildungsgesetzes um aktuelle bildungspolitische und allgemeinpolitische Erfordernisse anzusehen. Er soll den Eltern wie den Staats- und Wirtschaftsorganen, den Arbeits- und Erzieherkollektiven, den gesellschaftlichen Organisationen — darunter vor allem der FDJ — „die lebendige Maxime ihres täglichen Handelns“ sein.
Die zehn Grundsätze beziehen sich im wesentlichen auf: 1. die sozialistische Erziehung der J.; 2. den produktionswirksamen Einsatz der J. vor allem im sozialistischen Massenwettbewerb zur Erfüllung der Volkswirtschaftspläne; ihre Beteiligung an der Verwirklichung des NÖS und Einbeziehung in staatliche Kontrollgremien (Produktionskomitees, Gesellschaftl. Räte); 3. die Mitwirkung der J. beim Aufbau einer leistungsfähigen, nach neuen Organisations- und Produktionsprinzipien arbeitenden Landwirtschaft durch entsprechende Berufswahl; 4. die Erziehung zur kollektiven Arbeitsform und kollektiven Freizeitgestaltung; 5. die Erhöhung des Bildungs- und Ausbildungsniveaus unter besonderer Berücksichtigung der politisch-ideologischen Erziehung, die Hinlenkung der Jugendlichen auf volkswirtschaftlich wichtige Berufe und die praxisbezogene Gestaltung des Studiums; 6. die geistig-kulturelle und sportliche Erziehung insbesondere der jungen Arbeiter; 7. die Förderung der jungen Frauen und Mädchen und ihre Orientierung auf technische und naturwissenschaftliche Berufe sowie auf Leitungsfunktionen; 8. die Erziehung der J. zur Einhaltung der Normen der sozialistischen ➝Moral und der sozialistischen Gesetzlichkeit; die Entwicklung von Maßnahmen zur Verhütung und Bekämpfung der J.-Kriminalität; 9. die Beteiligung der J. an der Leitung des Staates durch Übernahme von Funktionen bei den Räten der Bezirke, Kreise und in den Gemeinden, durch Mitarbeit in gesellschaftlichen Organisationen, in den ständigen Kommissionen der örtlichen Volksvertretungen, durch Ausübung von Kontrollfunktionen als Kontrollposten der FDJ [S. 311]in den Arbeiter-und-Bauern-Inspektionen; 10. die ideologische und fachliche Qualifizierung der Erzieher in Schule, Betrieb und Universitäten und die Einwirkung gesellschaftlicher Organisationen auf die Familienerziehung (Familie, Elternbeiräte).
Eine der jüngsten jugendpolitischen Maßnahmen auf bildungspolitischem Gebiet ist die Neukonzeption der beruflichen Ausbildung durch die Einführung von Grundberufen (Berufsausbildung).
In dem Bericht des Politbüros an die 11. Tagung des ZK der SED vom 15.–18. 12. 1963 konstatierte E. ➝Honecker, daß bei einer „im großen und ganzen guten Entwicklung der J.“ bestimmte „Erscheinungen der Zersetzung und der Verletzung der Moral und des Anstandes“ festzustellen seien und daß auf dem Gebiet der ideologischen Erziehung der Kampf vor allem gegen zwei Probleme aufgenommen werden müsse, gegen die „Ideologie des Zweifels“ und gegen „anarchistische Tendenzen“. Die offensichtliche Betonung der Notwendigkeit auch im Staatsratsbeschluß von 1967, die ideologische Erziehung der J. zu intensivieren, und die Forderung, wirkungsvollere Maßnahmen zur Bekämpfung der J.-Kriminalität zu entwickeln, machen deutlich, auf welohe — vorwiegend ideologische — Schwierigkeiten die SED bei der Durchsetzung wesentlicher Aspekte ihrer J.-Politik stößt.
Nach wie vor wird der angeblich destruktive Einfluß des Westens bevorzugt für Fälle „unsozialistischen Verhaltens“ Jugendlicher verantwortlich gemacht. Unabhängig davon ist man in den letzten Jahren jedoch dazu bereit, altersspezifische Verhaltensbesonderheiten Jugendlicher anzuerkennen, und man bemüht sich verstärkt darum, deren Bedingungen aufzudecken und mit Hilfe der Jugendforschung jugendpsychologisch angemessene Lösungen für auftretende Probleme zu suchen. (Bevölkerung, Sozialstruktur)
Literaturangaben
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- Dübel, Siegfried: Die Situation der Jugend im kommunistischen Herrschaftssystem der sowjetischen Besatzungszone Deutschlands. 2., erw. Aufl. (BB) 1960. 115 S.
- Dübel, Siegfried: Dokumente zur Jugendpolitik der SED. München 1964, Juventa-Verlag. 192 S.
- Herz, Hanns-Peter: Freie Deutsche Jugend. 2., erw. Aufl., München 1965, Juventa-Verlag. 159 S.
- Lange, Max Gustav: Totalitäre Erziehung — Das Erziehungssystem der Sowjetzone Deutschlands. Mit einer Einl. v. A. R. L. Gurland (Schr. d. Inst. f. pol. Wissenschaft, Berlin, Bd. 3). Frankfurt a. M. 1954, Verlag Frankfurter Hefte. 432 S.
- Säuberlich, Erwin: Vom Humanismus zum demokratischen Patriotismus. — Schule und Jugenderziehung in der sowjetischen Besatzungszone (Rote Weißbücher 13). Köln 1954, Kiepenheuer und Witsch. 170 S.
Fundstelle: A bis Z. Elfte, überarbeitete und erweiterte Auflage, Bonn 1969: S. 309–311