DDR von A-Z, Band 1969

Jugendkriminalität (1969)

 

 

Siehe auch die Jahre 1966 1975 1979


 

Die J. konnte bisher nicht wesentlich eingedämmt werden. Sie ist im Gegensatz zur Erwachsenen-Kriminalität in den letzten Jahren in bestimmten Altersgruppen und bei verschiedenen Delikten sogar gewachsen. Der Anteil der Jugendlichen an der Gesamtkriminalität übertrifft ihren Anteil an der Bevölkerung um ein Vielfaches, 1962 bei den Vierzehn- bis Sechszehnjährigen um das Doppelte, bei den Sechszehn- bis Achtzehnjährigen um das Fünffache und bei der Gruppe 18 bis 21 Jahre um das Vierfache. Etwa 50 v. H. aller Straftaten sind in den letzten Jahren von Tätern im Alter bis zu 25 Jahren begangen worden. Die Kriminalitätsbelastung je 100.000 der Bevölkerung der gleichen Altersstufe ist bei den Gruppen 16 bis 18 Jahre (1965: 2.026) und 18 bis 21 Jahre (2.476) weitaus am höchsten. Schon bei der nächsten Gruppe der 21 bis 25 Jahre fällt die Kurve der Belastungsziffer erheblich (auf 1.681) und erreicht schon bei der Altersstufe 25 bis 35 Jahre den Stand von 993. In der BRD verläuft diese Kurve der Kriminalitätsbelastung wesentlich flacher. Der Unterschied in der J. in beiden Teilen Deutschlands ist daher wesentlich geringer als bei der allgemeinen Kriminalität.

 

Die Tatsache, daß die ausschließlich in der sozialistischen Gesellschaftsordnung aufgewachsenen Jugendlichen in besonders hohem Maße straffällig sind, ist mit der auf der kommunistischen Ideologie beruhenden These von der allmählichen Überwindung der Kriminalität mit der gesellschaftlichen Entwicklung zum Sozialismus-Kommunismus nicht zu vereinbaren. Das zeigen auch die Versuche, das Ansteigen der J. zu verschleiern oder gar den relativ hohen Stand der J. als Beweis für die Richtigkeit der kommunistischen Ideologie anzuführen:

 

[S. 315]Die altersstrukturelle Verteilung der Kriminalität in der „DDR“, deren Belastungskurve bei den Jugendlichen zwar steil ansteige, aber schon bei den Zwanzig- bis Fünfundzwanzigjährigen wieder allmählich und später sehr steil abfalle, „um sich bei Menschen über 40 Jahre so gut wie fast völlig zu verlaufen“, bestätigte das „objektive Gesetz, daß die Kriminalität in der sozialistischen Gesellschaft dort am häufigsten zu finden sein müsse, wo die mögliche und notwendige bewußtseinsmäßige gesellschaftliche Reife noch nicht oder nicht genügend ausgeprägt worden sei“, dagegen sei die „Blütezeit der Aktivität des Menschen zugleich die Zeit, in der er sich der Kriminalität entledigt“. Hieraus ergebe sich die Feststellung, daß die „Menschen in der sozialistischen Gesellschaft mit zunehmender persönlicher Reife, mit zunehmendem geistigen Heranwachsen in die sozialistische Gesellschaft, mit der wachsenden bewußten Kollektivität auch die Kriminalität immer von sich abstreifen“. Diese merkwürdige Argumentation widerspricht den sonstigen Propagandaparolen der SED, in denen stets versucht wird, die Jugend mit dem „Arbeiter-und-Bauern-Staat“ zu identifizieren. Besonders die von Kindheit an der sozialistischen Bewußtseinsbildung ausgesetzte Jugend, die im Gegensatz zu den noch mit „Resten egoistischen und menschenfeindlichen Denkens der bürgerlichen Klassengesellschaft behafteten“ älteren Menschen weder durch nationalsozialistisches Ideengut noch durch bürgerlich-kapitalistische Lebensgewohnheiten beeinflußt sein kann, wird sonst als Garant auf dem Wege zum Sozialismus-Kommunismus angesehen.

 

Der Wirklichkeit entspricht eher die resignierende Feststellung des stellvertretenden „Generalstaatsanwalts der DDR“ Harrland: „Es ist ein Faktum, daß wir mit der bestgemeinten Tätigkeit der Rechtspflege allein nicht aus der Welt schaffen können, daß Jahr für Jahr eine neue Kriminalitätsreserve in ziemlich konstanter Größe in das Strafmündigkeitsalter hineinwächst“ („Neue Justiz“ 1966, S. 617). Als Ursachen der hohen J. werden genannt:

 

1. Negative Einflüsse aus dem Westen, besonders durch westliche Fernseh- und Rundfunksendungen.

 

2. Mängel in den Beziehungen der Erwachsenen zu den Jugendlichen, die den Prozeß der Entwicklung des gesellschaftlichen Bewußtseins junger Menschen hemmen.

 

3. Das Vorhandensein spontaner Elemente unter der Jugend, die durch Kontakte der verschiedenen Altersgruppen immer weiter „vererbt“ werden und zum Entstehen eines fehlerhaften Weltbildes und spontananarchischer Ausbrüche aus den Regeln des gesellschaftlichen Zusammenlebens führen.

 

4. Mangelhafte Entwicklung eines freien sozialistischen Jugendlebens mit der Folge spontaner Gruppenbildung mit der Gefahr der Entwicklung gesellschaftswidriger Tendenzen.

 

5. Gestörte Bildung und Erziehung sowie mangelhafte Einstellung zur Arbeit. Untersuchungen haben ergeben, daß 49 v. H. der jugendlichen Täter die Schule ohne Abschluß verlassen, 31,5 v. H. keine Berufsausbildung, 29,3 v. H. schon als Kinder Erziehungsschwierigkeiten in der Schule und im Elternhaus bereitet haben.

 

6. Alkoholmißbrauch, der besonders durch überlebte Traditionen übermäßigen Alkoholgenusses und durch verbotene Abgabe alkoholischer Getränke an Jugendliche gefördert werde (Jugendschutz). Wie schon diese Erklärungen zeigen, hat es die SED im wesentlichen mit denselben Problemen und Erscheinungsformen der J. zu tun, wie die Justiz der BRD und anderer westlicher Länder. Das beweisen u. a. zahlreiche Berichte über Rowdytum sowie über Verkehrs- und Eigentumsdelikte, Körperverletzungen und Sexualverbrechen Jugendlicher. In einer Untersuchung über die Kriminalität weiblicher Jugendlicher mußte zugegeben werden, daß sich die Straftaten von Mädchen auf Eigentumsdelikte, meist einfache Diebstähle konzentrieren und sich damit kaum von der Mädchenkriminalität in Westdeutschland und der Weimarer Republik unterscheiden.

 

Durch einen Beschluß des Plenums des Obersten Gerichts vom 7. 7. 1965 sind den Gerichten Anweisungen bei der weiteren Bekämpfung der J. gegeben worden. Die gesellschaftliche Wirksamkeit des Jugendstrafverfahrens soll vor allem durch verstärkte Einbeziehung der Bevölkerung und der gesellschaftlichen Organe erhöht werden. (Jugendstrafrecht)

 

Zur Bekämpfung der J. sind seitdem zahlreiche Maßnahmen getroffen worden. Seit Ende 1966 haben volkseigene Betriebe „Programme zum Kampf gegen die J.“ aufgestellt. Auch die nach Errichtung der Mauer gegründeten FDJ-Ordnungsgruppen sind verstärkt „für Ordnung und Sicherheit sowie zur Einhaltung der sozialistischen Gesetzlichkeit unter der Jugend“ eingesetzt worden. In Ostberlin ist im Sept. 1963 ein Magistratsbeschluß zur „weiteren komplexen Bekämpfung und Verhütung der Jugendgefährdung und J.“ ergangen. Spezielle Arbeitsgruppen zum Kampf gegen die J. wurden gebildet. Vorwürfe wurden in diesem Zusammenhang besonders gegen die mangelnde Erziehungsarbeit vieler Eltern erhoben, denen aus dem Kreis geeigneter Bürger Erziehungshelfer zur Seite gestellt werden sollen. Auch der Beschluß des Staatsrates „Jugend und Sozialismus“ vom 10. 4. 1967 (GBl. I, S. 31) befaßt sich mit der J. Er fordert, „ein System aufeinander abgestimmter staatlicher Maßnahmen zu entwickeln, um die J. wirkungsvoll zu bekämpfen und weitgehend zu verhüten“. Dabei sollen die „guten Erfahrungen der Aktive zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit der FDJ und der vielen Tausenden jungen Helfer der Volkspolizei“ genutzt werden. Wesentliche Erfolge dieses Kampfes gegen die J. konnten bisher aber nicht gemeldet werden.


 

Fundstelle: A bis Z. Elfte, überarbeitete und erweiterte Auflage, Bonn 1969: S. 314–315


 

Information

Dieser Lexikoneintrag stammt aus einer Serie von Handbüchern, die zwischen 1953 und 1985 in Westdeutschland vom Bundesministerium für gesamtdeutsche Fragen (ab 1969 Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen) herausgegeben worden sind.

Der Lexikoneintrag spiegelt den westdeutschen Forschungsstand zum Thema sowie die offiziöse bundesdeutsche Sicht auf das Thema im Erscheinungszeitraum wider.

Ausführliche Informationen zu den Handbüchern finden Sie hier.