
Karikatur (1969)
Siehe auch die Jahre 1960 1962 1963 1965 1966 1975 1979 1985
Nach dem Vorbild der KPdSU unterscheidet die SED 2 Arten von K.: 1. die „fortschrittlich-sozialistische“, 2. die „reaktionär-kapitalistische“. Eine Unzahl von sowjetischen offiziellen Verlautbarungen der Partei und des Staates bestimmen die „fortschrittliche“ K. als „eine scharfe Waffe der politischen Agitation“, die „mit der Flamme der Satire alles Negative, Vermoderte, Überlebte, all das, was die Vorwärtsbewegung hemmt, aus dem Loben ausbrennen“ müsse.
In seinem Buch „Über das Komische“ (deutsche Übersetzung 1960, Aufbauverlag Ostberlin) vergleicht Juri Borew den fortschrittlichen Karikaturisten mit einem „Chirurg am gesellschaftlichen Organismus, und er führt seine Operation ohne Narkose und ohne Besteck aus. Aber der Schmerz, der vom Chirurgen hervorgerufen wird, ist heilsam. Er ist der Beweis der mächtigen Kräfte des Organismus, die sich von innen her gegen die Krankheitserscheinungen wehren, gegen die der Satiriker die Schärfe seines Spottes richtet. Es könnte sein, daß im Kommunismus die einzige Art, das einzige Mittel der Bestrafung von Übertretungen der Gesetze der gesellschaftlichen Ordnung, die einzige Möglichkeit zur Unterbindung des Bösen die Satire sein wird. Und das wird ein sehr mächtiges und sehr wirksames Mittel sein. Wer möchte schon vor der ganzen Welt bloßgestellt und verspottet sein?“
Eine sowjetische K. ist niemals das Produkt subjektiven Künstlertums, sondern in allen zugelassenen und kontrollierten Publikationen eine konzentrierte, absolut linientreue politische Äußerung, die das Ziel verfolgt, sowohl dem Politiker wie dem Laien auf einen Blick — buchstäblich in einigen Sekunden — den derzeit offiziellen und damit einzig richtigen Standpunkt der Partei zu einem bestimmten Problem zu vermitteln. Da nach kommunistischer Auffassung alle menschlichen, politischen, wirtschaftlichen und sozialen Unzulänglichkeiten, Ungereimtheiten und Nichtswürdigkeiten vor allem beim Klassenfeind anzutreffen sind, ist allein die „fortschrittlich-sozialistische“ K. in der Lage, die Verworfenheit der Kapitalisten und Imperialisten täglich neu zu entlarven.
Was in der SU als verbindliche Erkenntnis und als Gebot verkündet wurde, übernahm Fred Oelßner für die DDR: „Unsere fortschrittliche K. hat die Aufgabe, die leidenschaftliche Auseinandersetzung mit den Bonner Spaltern, ihrem Gefolge und ihren überseeischen Hintermännern zu führen.“ — „Die Stärke unserer fortschrittlichen K. liegt in ihrer Unversöhnlichkeit, in der vernichtenden Schärfe ihres Witzes, in der Entlarvung der ihr feindlich Gesinnten. Sie ist nicht mehr bloß eine humorvolle Zeichnung, die amüsieren will, sondern sie ist eine furchtbare Waffe gegen alle antihumanistischen Bestrebungen der reaktionären Kräfte der Gesellschaft. Das Lachen, das sie hervorruft, leiht dem, der sich der Vergänglichkeit aller reaktionären Kräfte bewußt geworden ist, Kraft und Mut, wie sie andererseits den Feind des Fortschritts demaskiert, erschreckt und lähmt.“ — „Unsere fortschrittlichen Karikaturen sind ein leidenschaftliches Bekenntnis zum Frieden und Humanismus. Sie sind von Künstlern geschaffen, die das Ohr am Puls der Zeit haben und sich mit ihrem ganzen Können für den gesellschaftlichen Fortschritt einsetzen. Sie kämpfen für eine gute Sache.“ (J. Uhlitzsch in „Volkskunst“ H. 9/1953.)
In diesem Kampf um den gesellschaftlichen Fortschritt mußten die Karikaturisten, „die das Ohr am Puls der Zeit haben“, jedoch bald erkennen, daß die Angriffe auf den Klassenfeind — und vorzugsweise auf die BRD — allein nicht ausreichten, einer aktuellen und wirksamen „fortschrittlichen“ K. Geltung zu verschaffen. Die sich monoton wiederholenden Figurationen und Motivschemen der zu Popanzen versimpelten „Ausbeuter“, „Faschisten“, „Revanchisten“, „Militaristen“, „Kriegshetzer“ ließen trotz graphisch teilweise einfallsreicher Qualitäten das „tödlich unerbittliche Lachen“ zu einer grinsenden Grimasse erstarren. Anwürfe und Angriffe auf die Erscheinungen des kapitalistischen Systems allein vermochten es nicht, die Unzulänglichkeiten auch des sozialistischen Systems zu erklären, zu deuten und zu verbessern. Die „innere Satire der Personalisierung“ mußte herhalten, um Schuldvorwürfe auf einzelne Träger negativer Verhaltensweisen im eigenen Bereich abzuwälzen.
Peter Nelken, der langjährige Chefredakteur des „Eulenspiegel“, der wöchentlich in Ostberlin erscheinenden Zeitschrift für Satire und Humor — er starb 1966 — unterscheidet in seinem „Ernsthaften Buch über Humor und Satire“, das unter dem Titel erschien „Lachen will gelernt sein“, beim jeweiligen Sujet zwischen dem „alten Dreck der Vergangenheit“ und dem jeweiligen „neuen Staub, der sich aus Trägheit, Gedankenfaulheit bei manchem sonst recht fortschrittlichen Menschen angesammelt hat“.
Diese sozialistisch ungeratenen Träger und Verbreiter des „neuen Staubes“ werden angeklagt, geschurigelt und gehöhnt als „Meckerer“, „Säufer“, „Simulanten“, „Riashörer“, „Bummelanten“, „Pfuscher“, „Unpünktliche“, „Karrieristen“, „Wichtigmacher“, „Schönfärber“, „Bürokraten“, „Klatschtanten“ usf.
Derzeit — durch die SED zu neuer agitatorischer Koexistenz vereint — bemühen sich die Figurenbilder des „alten kapitalistischen Dreckes“ mit den Bildschemen des „neuen sozialistischen Staubes“ der „fortschrittlichen K.“ endlich zu Glaubwürdigkeit und politischer Wirkung zu verhelfen.
Dieser Sorgen ist die von den Kommunisten so benannte „reaktionär-kapitalistische“ K. (die immer wieder als eine „formalistische“, „sinnlose“, „antihumanistische Witzelei“ abqualifiziert wird) deshalb enthoben, weil sie auch heute noch willens und fähig ist, die Unzulänglichkeiten und Mißstände sowohl ihrer Gesellschaftsform als auch ihrer Parteien und Regierungen in schonungsloser Offenheit zu entlarven, zu verspotten, aufs Korn zu nehmen und anzugreifen.
Fundstelle: A bis Z. Elfte, überarbeitete und erweiterte Auflage, Bonn 1969: S. 324
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