Marxismus-Leninismus (1969)
Siehe auch:
I. Grundlagen des Marxismus-Leninismus
Der ML. ist ein — dem Anspruch nach — geschlossenes und homogenes theoretisches System, das auf den Lehren von Marx, Engels und Lenin aufbaut. Er versteht sich bewußt als Ideologie der Arbeiterklasse. Da jene die historisch letzte und fortschrittlichste Klasse darstellt, ist ihre Ideologie im Gegensatz zu früheren wissenschaftlich und kann somit Allgemeingültigkeit und Verbindlichkeit beanspruchen.
Gegenstand der marxistisch-leninistischen Ideologie ist das Verhältnis des Menschen zur Welt, von hier ausgehend das Verhältnis von Materiellem und Ideellem, die allgemeinen Gesetzmäßigkeiten der Natur, der Gesellschaft und des Denkens sowie der Strategie und Taktik der sozialen Revolution.
Der ML. gliedert sich in den dialektischen (Diamat) und historischen (Histomat) Materialismus (= Philosophie des ML.), die Politische Ökonomie sowie den wissenschaftlichen Sozialismus und Kommunismus.
Als Weltanschauung der Arbeiterklasse ist der ML. auf das Ziel des Sozialismus bzw. Kommunismus ausgerichtet und hat demnach ganz bestimmte Funktionen zu erfüllen: eine wissenschaftlich-theoretische Funktion, d.h. Analyse und Verallgemeinerung der wichtigsten Resultate der Wissenschaften und der gesellschaftlichen Praxis; eine politisch-ideologische Funktion, d.h. Umsetzung der theoretischen Erkenntnisse in politische Praxis; eine ethisch-erzieherische Funktion, d.h. Bildung bzw. Verstärkung des richtigen sozialistischen ➝Bewußtseins.
Als Grundwerke des ML. gelten heute neben den Klassikern die „Grundlagen des Marxismus-Leninismus“, Lehrbuch, Berlin 1963, 7. Aufl. (nach der 2., überarb. u. erg. russ. Ausg., Autorenkollektiv, 1962); „Grundlagen der marxistischen Philosophie“, Lehrbuch, Berlin 1966, 7. Aufl. (nach der 2., überarb. u. erg. Aufl., russ. Autorenkollektiv, 1962); „Marxistische Philosophie“, Lehrbuch, Berlin 1967 (Autorenkollektiv: Buhr, Eichhorn I, Heyden, Klaus, Kosing, Kröber, Stoljarow).
II. Philosophie des Marxismus-Leninismus
a) Der dialektische Materialismus (DM.)
1. Grundlagen des DM.
Der DM. gibt eine philosophische Deutung des Wesens der Welt, untersucht das Verhältnis des Bewußtseins zur objektiven Realität (= Grundfrage der Philosophie), die allgemeinen Gesetzmäßigkeiten der Natur, der Gesellschaft und des Denkens (Erkennens) sowie die Stellung des Menschen in der Welt („Philosophisches Wörterbuch“, hrsg. v. G. Klaus u. M. Buhr, Leipzig 1964, S. 330). Er stützt sich vor allem auf die Ausführungen Engels' („Anti-Dühring“, 1878, und „Dialektik der Natur“, 1873 ff., Marx/Engels, Werke, Bd. 20), Lenins („Materialismus und Empiriokritizismus“, 1909, Lenin, Werke, Bd. 14) und Stalins (Aufsatz: „Über dialektischen und historischen Materialismus“, 1938 — wird heute verschwiegen).
Der DM. hat aber in der jüngsten Zeit insbesondere durch die Rezeption der Ergebnisse der allgemeinen Systemtheorie, der Informationstheorie und der Kybernetik wesentliche Erweiterungen erfahren, wenn nicht zum Teil gar eine Umfunktionierung. Das wird besonders deutlich im Lehrbuch „Marxistische Philosophie“ (1967), in dem der DM. allein schon begrifflich sich stark z. B. von den „Grundlagen der marxistischen Philosophie“ (2. Aufl. 1962) unterscheidet.
Die grundlegende Unterscheidung der dialektisch-materialistischen von der traditionellen Philosophie liegt in ihrem Verhältnis von Theorie und Praxis. Der DM. versteht sich nicht nur als eine Erklärung der Welt, sondern vor allem als eine Anleitung zu deren Veränderung. In der 11. Feuerbachthese hat Marx diesen Unterschied auf die klassische Formel gebracht: „Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert, es kommt darauf an, sie zu verändern“ (Marx/Engels, Werke, Bd. 3, S. 7).
Theorie und Praxis bilden eine „organische Einheit“, d.h. sie bedingen und beein[S. 391]flussen sich gegenseitig; eine „parteilose“ Welthaltung ist demnach Ideologie im Sinne von falschem Bewußtsein, Parteilichkeit erste Voraussetzung der marxistischen Philosophie.
2. Der Begriff der Materie und die Grundfrage der Philosophie
Die einzige Eigenschaft der Materie, sagt Lenin, an deren Anerkennung der philosophische Materialismus gebunden ist, ist die Eigenschaft, objektive Realität zu sein (Lenin, Werke, Bd. 14, S. 124), das bedeutet, außerhalb des Bewußtseins existierend. Der philosophische Materiebegriff würde damit nichts über die qualitative und quantitative Beschaffenheit der Bewegungs-, Struktur- und Entwicklungsformen der Materie aussagen; er enthielte nur eine weltanschauliche und erkenntnistheoretische Aussage über das Verhältnis von Materie und Bewußtsein, und zwar dergestalt, daß die Materie primär, das Bewußtsein sekundär ist. Bewußtsein ist demnach nur die höchste Bewegungsform der Materie; der DM. also im Gegensatz zum Idealismus eine monistische Entwicklungslehre.
3. Ontologische Thesen
Die allgemeine Daseinsweise der Materie ist Bewegung, deren Wesen in der Veränderung überhaupt besteht. Nun wäre auch noch damit keine ontologische Qualifizierung der Materie bzw. der Bewegung verbunden; eine derartige „Wesens“- oder „Substanz“-Bestimmung lehnen die marxistischen Philosophen im Abwehrkampf gegen den Idealismus ausdrücklich ab. Andererseits wird behauptet, die Entwicklung der modernen Naturwissenschaft habe den „zutiefst dialektischen Charakter“ der Materie bzw. die „innere Widersprüchlichkeit“ der Bewegung erwiesen („Marxist. Ph.“ 1967, S. 156; „Grundlagen der marxistischen Ph.“, 2. Aufl. 1962, S. 102). Als Standardbeweise für das dialektische bzw. Widerspruchsprinzip gelten der Korpuskel- und Wellencharakter der Elementarteilchen sowie die Existenz von Anti-Teilchen.
Eine weitere verschleierte ontologische Bestimmung ist die These, daß sich die Materie von niederen zu höheren Formen bewege (Fortschrittsprinzip), modifiziert neuerdings durch die Hinzufügung, diese Höherentwicklung gelte nur innerhalb des Weltalls, nicht für das Weltall als solches. Damit soll jeder Eschatologiekritik vorgebeugt werden.
4. Die Hauptkategorien der Dialektik
Unter Wechselwirkung wird ein Wirkungszusammenhang verstanden, bei dem Dinge, Systeme usw. nicht nur Einwirkungen der verschiedensten Art von anderen Dingen, Systemen usw. erleiden, sondern auch auf diese zurückwirken. Der DM. betrachtet das Universum als ein Netz von Wechselwirkungen. Methodologisch ergäbe sich daraus die Forderung, bei der Analyse eines Sachverhaltes alle Wechselwirkungszusammenhänge zu berücksichtigen. Da dies die menschliche Erkenntnisfähigkeit übersteigt, ist es im besten Falle nur möglich, die wesentlichen Wechselwirkungen zu untersuchen. Die Rückkopplungen, die positiven (systemzerstörend) wie die negativen (systemerhaltend) sind Spezialfälle der Wechselwirkung. Dem philosophischen Begriff des „Netzes von Wechselwirkungen“ entspricht in der Kybernetik das Prinzip der verschachtelten Regelkreise. Die Wechselwirkung zwischen den Teilsystemen eines kybernetischen Gesamtsystems entspricht den sog. inneren dialektischen Widersprüchen, die Wechselwirkung zwischen kybernetischen Systemen und ihrer Umwelt entspricht den sog. äußeren dialektischen Widersprüchen. Die Kausalbeziehung (Ursache und Wirkung) ist ein Spezialfall der Wechselwirkung. Hier wirkt x auf y ein, während die Rückwirkung von y auf x praktisch null ist und darum vernachlässigt werden kann. Umstritten in der gegenwärtigen Diskussion des DM. ist die Frage, ob x y zeitlich vorangeht („Marxist. Ph.“ 1967, S. 279) oder ob die Wirkung gleichzeitig mit dem Vergehen der Ursache entsteht (DZfPh, 15. Jg., H. 8, 1967, S. 994). Das Kausalprinzip des DM. besagt, daß jedes Geschehen in der Welt seine materielle Ursache hat; die Kausalität trägt also absoluten und universellen Charakter. Eine wichtige Unterscheidung ist die zwischen inneren und äußeren Ursachen; sie bilden eine dialektische Einheit, d.h. die inneren Ursachen werden nur wirksam durch die Einwirkungen der äußeren Ursachen und umgekehrt. In den höheren Bewegungsformen der Materie kommt den inneren Ursachen eine immer größere Bedeutung zu. Organische und gesellschaftliche Regelsysteme verändern und [S. 392]entwickeln sich vor allem auf Grund ihrer inneren Systembedingungen. Die Entwicklung der menschlichen Gesellschaft wird ausschließlich durch innergesellschaftliche Ursachen, nämlich durch die Entwicklung der Produktivkräfte, vorangetrieben.
Im Gegensatz zum mechanischen Materialismus, der Kausalität nur im Sinne von linearer Kausalität versteht, die materielle Welt also als eine einzige ununterbrochene Kette von Ursachen und Wirkungen begreift, verläuft beim DM. die Entwicklung in einem dialektischen Prozeß von Notwendigkeit und Zufall. Das bestimmende Moment ist freilich die Notwendigkeit. Zufällig sind nur jene Ereignisse, die außerhalb des gesteckten Rahmens der Bedingungen auftreten. Notwendigkeit und Zufall sind insofern relativ, als ihr Gegensatz nur für ein gegebenes Feld von Bedingungen besteht. Entscheidend ist nun, daß z. B. im gesellschaftlichen Bereich die Absteckung dieses Bedingungsfeldes und damit dessen, was notwendig und was zufällig ist, mehr oder weniger von der Entscheidungselite der Partei abhängt. Insofern ist dieses Kategorienpaar von großer politischer Bedeutung. Neuerdings wird der Zufall mit dem identifiziert, was man in der kybernetischen Systemtheorie als Störung bezeichnet. Da Störungen für kybernetische Systeme konstitutiv sind, bedeutet das z. B. für die Planung, daß sie, um effizient zu sein, die Bedingungen nicht bis ins einzelne, sondern nur ihren Rahmen festlegen kann.
Mit diesem Problembereich hängt eng zusammen die Dialektik von Möglichkeit und Wirklichkeit. Möglich im Sinne des DM. ist ein Ereignis dann, wenn es — bezogen auf einen bestimmten Rahmen von Bedingungen — sowohl eintreten als auch nicht eintreten kann. Was zufällig ist, muß möglich sein, während das Umgekehrte nicht gilt. Auch hier dient dem heutigen DM. die Kybernetik als willkommenes Illustrations- und Anwendungsfeld. Kybernetische Systeme zeichnen sich dadurch aus, mit Zufällen verschiedenster Art fertig zu werden. Die Umgebung eines solchen Systems ist mögliche Quelle zufälliger Einwirkungen, die für das System günstig oder ungünstig sein können. Kybernetische Systeme sind in der Lage, dem Feld von Möglichkeiten der Umgebung ein Feld von Reaktionsmöglichkeiten entgegenzusetzen und zwar so, daß die lebenswichtigen Parameter des Systems in den Grenzen der Regelstrecke bleiben. Im Prozeß der Auseinandersetzung mit der Umwelt strukturieren sich derartige Systeme so, daß ihre Möglichkeiten ständig größer werden. Von besonderer Bedeutung ist die Art und Weise, wie sich in der Gesellschaft Möglichkeiten in Wirklichkeiten umwandeln. Dies kann bewußt und spontan geschehen. Dem DM. stellt sich das Problem so dar: Damit eine gesellschaftliche Möglichkeit Wirklichkeit wird, muß ein bestimmter Schwellenwert individueller spontaner Handlungen erreicht werden. Die Aufgabe der marxistisch-leninistischen Partei ist nicht, spontane Handlungen zu eliminieren, sondern bestimmte — und nicht beliebige — Schwellenwerte zu steuern. Damit ist auch annähernd die Dialektik von Bewußtheit und Spontaneität definiert.
Engels' Definition der Dialektik von Notwendigkeit und Freiheit ist für den DM. noch immer unübertroffen: „Nicht in der erträumten Unabhängigkeit von den Naturgesetzen liegt die Freiheit, sondern in der Erkenntnis dieser Gesetze, und in der damit gegebenen Möglichkeit, sie planmäßig zu bestimmten Zwecken wirken zu lassen Freiheit des Willens heißt daher nichts anderes als die Fähigkeit, mit Sachkenntnis entscheiden zu können“ (Marx/Engels, Werke, Bd. 20, S. 106). Freiheit als Möglichkeit, zwischen verschiedenen Alternativen wählen zu können, ist für den DM. zwar ebenfalls eine wesentliche Bestimmung der Freiheit, insofern aber nur eine negative, als sie von den objektiven Natur- bzw. Gesellschaftsgesetzen abstrahiert. Die Erkenntnis dieser „objektiven“ Gesetze ist im wesentlichen noch der Parteiführung vorbehalten.
5. Dialektische Entwicklungsgesetze
Zur Erklärung der qualitativ verschiedenen Erscheinungsformen der Materie dient dem DM. das Gesetz vom Umschlagen quantitativer Veränderungen in qualitative. Qualität ist die wesentliche bzw. invariante Eigenschaft von Dingen, Systemen usw.; Quantität erfaßt Mengen (Größe, Anzahl, Gewicht, Intensität) dieser Qualitäten. Das Maß gibt die Grenze an, bis zu der sich eine gegebene Qualität quantitativ ändern kann, ohne aufzuhören, eben diese Qualität zu sein. Das Gesetz besagt, daß [S. 393]Qualitätsänderungen sprunghaft (revolutionär) erfolgen einmal durch stoffliche quantitative Veränderungen, also z. B. durch kontinuierliche (evolutionär) Zu- oder Abnahme der Anzahl der Elemente eines materiellen Systems, Qualitätsänderungen aber auch dann eintreten können, wenn die Zahl der Elemente des Systems gleich bleibt und sich nur deren Anordnung oder Kopplung ändert. Heute ist dieses Gesetz für den DM. vor allem politisch bedeutsam im Kampf gegen Reformismus und Revisionismus, gegen die er die Notwendigkeit der revolutionären, qualitativen Veränderungen hervorhebt, sowie im Kampf gegen Sektierertum und linksradikale Strömungen, gegen die er die Notwendigkeit der allmählichen, quantitativen Vorbereitung jeder revolutionären Umwälzung hervorhebt.
Den Umschlag von einer Qualität in eine andere heißt dialektischer Sprung. Eine für die Gesellschaft besonders wichtige Form des dialektischen Sprungs ist die soziale Revolution, d.h. der Umschlag von einer Gesellschaftsformation in eine andere. Neu in der Diskussion des DM. ist die systemtheoretische Variante des dialektischen Sprungs; ihre Bedeutung liegt vor allem darin, daß sie — infolge ihres höheren Abstraktionsgrades — ohne Schwierigkeiten auf alle möglichen Erscheinungen übertragen werden kann, dafür aber an Informationsgehalt verliert. Die dialektisch-materialistische Systemtheorie unterscheidet systemzerstörende von systemerhaltenden Sprüngen. Beispielsweise ist die proletarische Revolution ein solcher systemzerstörender Qualitätsumschlag; da das kapitalistische System nur ein historisch bedingtes Teilsystem des Gesamtsystems „menschliche Gesellschaft“ ist, die Diktatur des Proletariats aber eine höhere Entwicklungsstufe darstellt, ist der systemzerstörende Qualitätsumschlag bezüglich eines Teilsystems ein systemerhaltender für das Gesamtsystem. Daraus folgt, daß Entwicklung letztlich nur über solche Qualitätssprünge erfolgen kann, die systemerhaltenden Charakter tragen. Ein systemerhaltender Qualitätsumschlag ist identisch mit der dialektischen Negation. Im Gegensatz zur Negation der formalen Logik treten also zwei positive Momente in der dialektischen Negation auf: 1. Das Negativum „Nicht-A“ stellt in bezug zur Entwicklung des Gesamtsystems etwas Positives dar; 2. das Gesamtsystem wird nicht negiert, sondern nur eine wesentliche Eigenschaft davon, während andere wesentliche Eigenschaften „aufgehoben“ bzw. bewahrt werden.
Das Gesetz der Negation der Negation besagt, daß die Entwicklung nicht auf dem Stand der Qualität „Nicht-A“ stehen bleibt, sondern auf eine Rückkehr zur Qualität „A“ drängt; freilich auf einer höheren Stufe. Lenin gebrauchte dafür das Bild der Spirale. Mit der Negation der Negation ist der Entwicklungszyklus abgeschlossen, aber nur insofern, als die ihm entsprechende Qualität ihre Variationsmöglichkeiten im Stadium der Negation ausgeschöpft hat und im Stadium der Negation der Negation eine weitere Entwicklung nur noch hinsichtlich anderer Qualitäten möglich ist.
So ist mit dem Übergang zum Sozialismus der Entwicklungszyklus der menschlichen Gesellschaft abgeschlossen, den Marx als die „Vorgeschichte der Menschheit“ bezeichnete.
6. Marxistisch-leninistische Erkenntnistheorie
Der zweite Aspekt der „großen Grundfrage“ der marxistisch-leninistischen Philosophie ist die Frage, inwieweit das Bewußtsein die Wirklichkeit richtig widerspiegelt; dies ist Gegenstand der marx.-len. Erkenntnistheorie. Die Grundprinzipien sind:
- Die allgemeinen Gesetze der Dialektik sind mit denen der Logik und Erkenntnistheorie identisch; insofern gibt es keine marxistische Erkenntnistheorie.
- Die Erkenntnistheorie ist nur insofern eine relativ selbständige Disziplin, als der Erkenntnisprozeß spezifische Besonderheiten zeigt.
- Da Real- und Erkenntnisdialektik übereinstimmen, hält es der DM. für unzulässig, bei der Analyse von Denkformen und Denkgesetzen von den Denkinhalten zu abstrahieren (im Gegensatz z. B. zu Kant).
- Erkenntnissubjekt ist nicht das Individuum, sondern die Gesamtmenschheit und zwar als Subjekt eines in der Geschichte sich entfaltenden Denkprozesses. Erkenntnisobjekt ist die vom Bewußtsein unabhängige objektiv-reale Existenz der Außenwelt, die aber keineswegs unabhängig vom Subjekt gedacht werden darf. Die materielle Welt wird erst dann zum Erkenntnisobjekt, wenn sie vom Subjekt verändert, beeinflußt, beobachtet wird, also dadurch, daß das Subjekt sie in die [S. 394]gesellschaftliche Lebenstätigkeit einbezieht und seine Wesenskräfte in ihr vergegenständlicht (Subjekt-Objekt-Dialektik).
- Die gesellschaftliche Praxis ist ein konstitutives Element im Erkenntnisprozeß, d.h. nicht nur ein äußerliches Kontrollorgan der Erkenntnis, sondern sowohl Grundlage und Ziel der Erkenntnis als auch Kriterium der Wahrheit.
- Erkenntnis ist Prozeß bzw. Resultat der sinnlichen und rationalen Widerspiegelung der objektiven Realität im Bewußtsein.
Mit der Rezeption der allgemeinen System- und Informationstheorie sowie der Kybernetik hat die marx.-len. Erkenntnistheorie ein Ausmaß erreicht, das — schon am Umfang der Darstellung gemessen — der Bedeutung des Histomat bzw. Diamat gleichkommt. Damit verbunden ist aber auch ein Auflösungsprozeß des geschlossenen Gedankengebäudes, der vor allem im Bereich der Abbildtheorie sichtbar wird: An die Stelle des Begriffs „Widerspiegelung“ tritt der kybernetische Begriff „inneres Modell der Außenwelt“. Dieses besteht aus einem dynamischen System von Informationen, dessen Struktur „bestimmte Übereinstimmungen mit der Struktur der Außenwelt aufweist“ („Marxist. Ph.“ 1967, S. 505). Isomorphie, also eindeutige Zuordnung der Elemente des inneren Modells an die der Außenwelt, ist ein anzustrebendes Ideal. Tatsächlich wird nur Homomorphie erreicht, d.h. eine „mehreindeutige Zuordnung“ der Elemente (ebd., S. 571). Insbesondere der semantische Aspekt der Information läßt subjektiven Deutungen größeren Spielraum, als es die traditionelle Abbildtheorie zugestehen wollte. Weiter ist umstritten, welchen Formen des kognitiven Abbildes Wahrheit zukommt. G. Klaus steht z. B. auf dem Standpunkt, daß nur den Aussagen Wahrheit zukommt, während andere Theoretiker allen Formen des kognitiven Abbildes, also auch sinnlichen Abbildern, Wahrheit zuschreiben wollen (ebd., S. 595).
b) Der historische Materialismus (Histomat)
Das Lehrbuch „Marxistische Philosophie“ legt auf die untrennbare Einheit des dialektischen und historischen Materialismus besonders großen Wert und bricht mit der Tradition, die beiden Bereiche in der Darstellung methodisch zu trennen. Bisher wurde behauptet, der Histomat sei die Anwendung des Diamat auf die Gesellschaft. Diese These war sowohl wissenschaftsgeschichtlich wie sachlich schwer aufrechtzuerhalten. Der Histomat als Theorie der allgemeinen Bewegungs- und Entwicklungsgesetze der Gesellschaft wurde von Marx ohne Hinzuziehung bzw. Kenntnis der „Naturdialektik“ begründet. Aus historischen und didaktischen Gründen wird hier daher die methodische Trennung beibehalten.
Die Aufhebung der methodischen Trennung von Histomat und Diamat hat freilich eine handfeste politische Bedeutung: sie soll die Kluft zwischen dem System der marx. Philosophie, insbesondere des Histomat, und dem realen gesellschaftlichen Prozeß überwinden. Dies geschieht allerdings, wie schon im Diamat gezeigt werden konnte, auf Kosten des Informationsgehalts. Das Kerndogma wird, um seine Allgemeingültigkeit und Verbindlichkeit zu bewahren, auf eine höhere Abstraktionsstufe gestellt, d.h. die dialektische Methode wird gegenüber dem Inhalt der dialektischen Bewegungsgesetze hervorgehoben. Dafür gewinnen die jeweiligen politischen Aktionsprogramme mehr Bewegungsfreiheit; sie werden offener und schichtenspezifisch variabel und damit für die Entwicklung der Ideologie bedeutungsvoller, da sie auf das Kerndogma zurückwirken.
1. Die dialektisch-materialistische Geschichtsauffassung
Im Vorwort „Zur Kritik der Politischen Ökonomie“ hat Marx die wichtigsten Grundthesen des Histomat entwickelt: „In der gesellschaftlichen Produktion ihres Lebens gehen die Menschen bestimmte, notwendige, von ihrem Willen unabhängige Verhältnisse ein, Produktionsverhältnisse, die einer bestimmten Entwicklungsstufe ihrer materiellen Produktivkräfte entsprechen. Die Gesamtheit dieser Produktionsverhältnisse bildet die ökonomische Struktur der Gesellschaft, die reale Basis, woraus sich ein juristischer und politischer Überbau erhebt, und der bestimmte gesellschaftliche Bewußtseinsformen entsprechen. Die Produktionsweise des materiellen Lebens bedingt den sozialen, politischen und geistigen Lebensprozeß überhaupt. Es ist nicht das Bewußtsein der Menschen, das ihr Sein, sondern umgekehrt [S. 395]ihr gesellschaftliches Sein, das ihr Bewußtsein bestimmt“ (Marx/Engels, Werke, Bd. 13, S. 8 f.).
Marx gelangte zu diesem Schluß auf Grund einer spezifischen Beurteilung der Arbeit, die er nicht wie Hegel nur geistig, sondern auch materiell-gegenständlich begriff. Die Arbeit erzeugt jene Güter, die der Mensch für die Befriedigung seiner Bedürfnisse nötig hat. Der ursprüngliche Arbeitsvorgang vereint „Kopf- und Handarbeit“. Im Produkt der Arbeit vergegenständlicht sich menschliche Energie, der Mensch entäußert bzw. entfremdet sich selbst (Entfremdung). Da diese Gegenstände nicht Selbstzweck sind, sondern Mittel der Lebenserhaltung sein sollen, erfüllen sie ihre Bestimmung erst, wenn sie wieder „aufgehoben“ bzw. vernichtet werden, indem sie dem Menschen zum Genuß bzw. zu seiner Reproduktion dienen. Arbeit befriedigt und erzeugt die Bedürfnisse in einem.
Durch die Arbeitsteilung wird aber der „natürliche“ Kreislauf des Arbeitsprozesses durchbrochen. Geschichtlich gesehen ist die Arbeitsteilung unvermeidlich; sie ergibt sich aus der widersprüchlichen Eigenbewegung der Produktionsmittel. Wenn jene soweit entwickelt sind, daß die Produktion über die unmittelbare Existenzsicherung hinausgeht, kann sich Privateigentum (Eigentum) an Produktionsmitteln bilden, das die Teilung von Kopf- und Handarbeit ermöglicht, die nun zur natürlichen Arbeitsteilung als bestimmender Faktor hinzukommt. Das hat aber zwei folgenschwere Konsequenzen: Die Trennung von Kopf- und Handarbeit bewirkt, daß das Bewußtsein sich ein eigenes Objekt schafft, eine Welt von geistigen Wesenheiten, von Ideen, die es für die bewegenden Kräfte und Ziele der Geschichte ausgibt: Die Arbeitsteilung schafft mit dem Idealismus also eine Ideologie im Sinne von falschem Bewußtsein. Andererseits wird durch die Bildung von Privateigentum der Dreitakt Mensch — Entäußerung — Genuß bzw. Wiederaneignung gestört, die produzierten Gegenstände werden einem Großteil von Menschen vorenthalten, und/oder sie werden ihnen zu einer fremden Macht (Entfremdung vom Produkt bzw. Entfremdung der Produktion).
2. Die Dialektik von Produktivkräften und Produktionsverhältnissen und der Klassenkampf als Triebkräfte der Geschichte
Entscheidend für die gesellschaftliche Entwicklung ist also, wie die Menschen die zur Befriedigung ihrer Bedürfnisse notwendigen Güter produzieren. Produzieren bedeutet ein Zweifaches: ein bestimmtes Verhältnis der Menschen zur Natur und ein bestimmtes Verhältnis der Menschen zueinander. Das Verhältnis der Menschen zur Natur ist bedingt durch seine Produktivkräfte, das gegenseitige Verhältnis der Menschen durch die Produktionsverhältnisse. Die Produktion wird verstanden als dialektischer Prozeß, und zwar als eine dialektische Einheit von Produktivkräften und Produktionsverhältnissen, in der beide in Wechselwirkung stehen und einander gegenseitig bedingen, aber so, daß die Produktivkräfte die führende Rolle in der Entwicklung spielen. Wichtig ist, daß die Faktoren der Entwicklung nicht außerhalb der Produktion gesucht werden, etwa in geographischen und klimatischen Bedingungen oder etwa im Anwachsen der Bedürfnisse durch das Wachstum der Bevölkerung. Quelle der Entwicklung ist vielmehr die „Selbstbewegung“, die dialektische Wechselwirkung der Elemente der Produktion, insbesondere der Elemente der Produktivkräfte, ihre inneren Widersprüche und hauptsächlich die Wechselwirkung zwischen den Produktivkräften und den Produktionsverhältnissen.
„Auf einer gewissen Stufe ihrer Entwicklung geraten die materiellen Produktivkräfte der Gesellschaft in Widerspruch mit den vorhandenen Produktionsverhältnissen oder, was nur ein juristischer Ausdruck dafür ist, mit den Eigentumsverhältnissen, innerhalb deren sie sich bisher bewegt hatten. Aus Entwicklungsformen der Produktivkräfte schlagen diese Verhältnisse in Fesseln derselben um. Es tritt dann eine Epoche sozialer Revolution ein“ (Marx/Engels, Werke, Bd. 13, S. 9). So bewirkt z. B. die Entwicklung der Technik, die zunehmende Mechanisierung der Produktion im Kapitalismus, daß die Weise der Gütererzeugung sich immer mehr vergesellschaftet. Dies wird in Großbetrieben, Großorganisationen und in der Massenproduktion deutlich sichtbar. Aber die Aneignung des Ertrages, und daher die Bestimmung des Produktionszwecks, bleibt eine private. Zur Überwindung dieses Widerspruchs [S. 396]muß das Privateigentum an Produktionsmitteln überhaupt abgeschafft werden. Dies geschieht durch die sozialistische Revolution.
Die sozialistische Revolution ist die höchste und damit letzte Form der sozialen Revolutionen. Als soziale Revolution werden solche gesellschaftlichen Umwälzungen verstanden, bei denen die eine herrschende Klasse durch eine neue herrschende Klasse abgelöst wird. Das wesentliche Unterscheidungsmerkmal einer Klasse ist ihr Verhältnis zu den Produktionsmitteln, das wiederum im wesentlichen ein Eigentumsverhältnis ist. Alle anderen Verhältnisse, etwa schichtenspezifische, lassen sich daraus ableiten. So gesehen stellt sich für den ML. die Geschichte als eine „Geschichte von Klassenkämpfen“ dar, die identisch ist mit der Entwicklung der Formen des Privateigentums an Produktionsmitteln.
3. Die fünf Gesellschaftsformationen
Die Entwicklung erfolgt im Rahmen der dialektischen Bewegungsgesetze (s.o.) in fünf Stufen: Urgesellschaft: kein Privateigentum an Produktionsmitteln, da noch keine nennenswerten vorhanden; Sklavenhaltergesellschaft: Privateigentum an Werkzeugen sowie den unmittelbaren Produzenten, den Sklaven; Feudalismus: Privateigentum vor allem an Boden, Rohstoffen sowie den Leibeigenen; Kapitalismus: Privateigentum an Kapital in Form von Geld, Maschinen und menschlicher Arbeitskraft. Äußerste Zuspitzung des Klassenantagonismus in Gestalt der Bourgeoisie (Ausbeuterklasse, den Mehrwert der Lohnarbeiter zurückhaltend) und des Proletariats, der „Klasse mit radikalen Ketten“, an der das „Unrecht schlechthin“ verübt wird; Kommunismus (Vorstufe Sozialismus): Aufhebung des Privateigentums an Produktionsmitteln durch deren Vergesellschaftung, und damit Negation der Negation, d.h. Rückkehr zum Urzustand auf höherer Ebene, auf welcher der Kreislauf des Arbeitsprozesses wieder geschlossen ist, und damit auch Abschluß der „Vorgeschichte der Menschheit“.
c) Wissenschaftlicher Sozialismus und Kommunismus
1. Sozialismus oder die Diktatur des Proletariats
Hauptfrage des wissenschaftlichen Sozialismus und Kommunismus ist die Frage nach der Gesetzmäßigkeit des Übergangs vom Kapitalismus zum Kommunismus. In dieser Frage vor allem unterscheiden sich Marxismus und Leninismus. Der verbindende Grundgedanke ist aber folgender: Aus den antagonistischen Klassengegensätzen zwischen Bourgeoisie und Proletariat ergibt sich, daß die sozialistische Revolution nur gewaltsam sein kann. Denn die herrschenden Klassen setzen der Veränderung der Produktionsverhältnisse Widerstand entgegen und benutzen dazu vor allem den Zwangsapparat des Staates. In der Übergangsphase muß daher das Proletariat den Staatsapparat erobern und gegen die noch vorhandenen Reste der Bourgeoisie, und zwar sowohl gegen deren ökonomische, politische als auch ideologische Erscheinungsformen (Revisionismus), als Instrument der Macht einsetzen. Diese Diktatur des Proletariats unterscheidet sich dem Anspruch nach insofern von bisherigen Diktaturen, als sie eine Herrschaft der Mehrheit über eine Minderheit bedeutet.
Marx selbst wollte über taktische Einzelheiten dieser Diktatur keine verbindlichen Aussagen für die Zukunft machen. Er glaubte, daß diese Übergangsphase ohnehin sehr kurz sei. In der Schrift „Klassenkämpfe in Frankreich“ empfahl er das Modell der Pariser Kommune: Die Länder sollten sich föderativ auf freiwilliger Basis organisieren; abgestufte Organe der direkten Demokratie nehmen zugleich legislative wie exekutive Aufgaben wahr; die Beamten sind abhängige Organe des organisierten Volkes und sollen nicht besser als Facharbeiter bezahlt werden; wie auch die Vertreter der Polizei unterliegen sie der ständigen Kontrolle der Kommunen und sind jederzeit absetzbar; die Delegierten der Kommunen werden in Urwählerversammlungen gewählt und sind ebenfalls jederzeit ab wählbar. Das zeigt, daß Marx — wie übrigens auch Engels (vgl. „Kritik des Erfurter Programms“, 1891) — Diktatur gegenüber der Bourgeoisie und Demokratie innerhalb der proletarischen Organisationen für vereinbar hielt.
Anders Lenin: Unter den Bedingungen des zaristischen Rußlands, in dem soziologisch von einer Mehrheit des Proletariats nicht die Rede sein konnte, entwickelte er vor allem in der Schrift „Staat und Revolution“ (1917) die Diktatur des Proletariats [S. 397]zu einer geschlossenen Revolutionstheorie. Darin wird der Diktaturbegriff in seiner traditionellen machttechnischen Bedeutung verstanden, d.h. in Praxis Diktatur einer Minderheit über eine Mehrheit, wobei die Minderheit sich als potentielle Mehrheit versteht. Mit dieser inhaltlichen Änderung des Diktaturbegriffs hängt eng zusammen die ebenfalls von Lenin entwickelte Theorie der „Partei neuen Typs“ („Was tun?“, 1902). Deren Hauptmerkmale sind: 1) Die Partei ist der „bewußte Vortrupp der Arbeiterklasse“. Sie rekrutiert sich infolgedessen historisch gesehen zunächst aus der sozialen Schicht der Intelligenz, die einerseits das richtige proletarische Bewußtsein entwickeln, bewahren und verbreiten soll, andererseits die Organisation der proletarischen Bewegung zu übernehmen hat. 2) Die Partei ist der „organisierte Vortrupp der Arbeiterklasse“, d.h. sie ist einheitlich bis in die kleinsten sozialen Grundeinheiten („Zellen“) organisiert. 3) Das organisatorische Grundprinzip ist der demokratische Zentralismus.
Auf Grund der spezifischen historischen und nationalen Bedingungen unterscheidet der ML. heute zwei Typen der Diktatur des Proletariats: die Sowjetmacht und die Volksdemokratie.
2. Die Entwicklungsphasen des Sozialismus
Angesichts der relativ ungebrochenen Kraft des „imperialistischen Monopolkapitalismus“ nach dem ersten Weltkrieg sah sich der ML. zu einer weiteren Modifizierung der marxschen Lehre gezwungen: Im Unterschied zu der Annahme von Marx und Engels, daß die entwickelten Länder zur gleichen Zeit zum Sozialismus übergehen würden, wurde die These vom sozialistischen Sieg in einem Staat entwickelt; das imperialistische Weltsystem soll nach und nach an seinen schwächsten Gliedern durchbrochen werden. Diese These wird zwar Lenin zugesprochen, tatsächlich wurde sie aber besonders von Stalin propagiert. Heute wird aus dem noch immer währenden „erbitterten Kampf gegen den staatsmonopolistischen Kapitalismus“ der Schluß gezogen, daß der Sozialismus nicht eine kurzfristige Übergangsphase in der Entwicklung der Gesellschaft sei, sondern eine relativ selbständige sozialökonomische Formation, die sich auf ihren „eigenen Grundlagen“ entwickle. Die führende Rolle der marxistisch-leninistischen Partei beschränke sich darum nicht auf die Negation des Kapitalismus, vielmehr sei infolge ihrer wachsenden „sozialpolitischen Funktion“ im gesamtgesellschaftlichen Erkenntnis-, Planungs- und Leitungsprozeß ihre Verstärkung erforderlich. Dasselbe gelte für den Staat: „Die Gestaltung der entwickelten sozialistischen Gesellschaft ist nicht durch „Entstaatlichung“ oder „Absterben des Staates“ zu verwirklichen. Der sozialistische Staat wird vielmehr neue Aufgaben übernehmen und durchführen müssen, um alle Teilbereiche und damit das Gesamtsystem so zu gestalten, daß die materielle und geistige Überlegenheit des Sozialismus nachgewiesen wird“ (DZfPh, 16. Jg., II. 6, 1968, S. 57).
Die erste Aufbauphase ist gekennzeichnet durch das Klassenbündnis zwischen Industriearbeiterschaft und Bauern. Der Existenz von mehreren Klassen entsprechend gibt es hier noch mehrere Formen des gesellschaftlichen Eigentums: das gesamtgesellschaftliche, das genossenschaftliche sowie Reste privatwirtschaftlichen Eigentums. Da das Entwicklungsniveau der Produktivkräfte noch relativ gering ist, überwiegt die materielle Interessiertheit als Anreiz vor dem gesellschaftlich-moralischen, und die Verteilung der Güter erfolgt nach dem Prinzip: „Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Leistungen.“ Ebenso findet in dieser Phase das Wertgesetz seine volle Anwendung. Die erste Aufbauphase vollzieht sich in zwei Etappen: 1) Aufbau und Behauptung des Sozialismus in der Sowjetunion im Kampfe gegen den Imperialismus (etwa 1917–1945); 2) Herausbildung des sozialistischen Weltsystems und Umschlag des Kräfteverhältnisses zugunsten des Sozialismus (1945–1956).
Die zweite Phase, „der umfassende Aufbau des Sozialismus“, wird im wesentlichen durch folgende Faktoren bestimmt: „Sieg der sozialistischen Produktionsverhältnisse“, militärische Überlegenheit des sozialistischen Lagers, technische Revolution. Daraus ergeben sich für die marx.-len. Partei die Aufgaben: 1) international: Politik der „friedlichen Koexistenz“ bei Verschärfung des internationalen Klassenkampfes auf den Gebieten der Ökonomie, der Ideologie und der Kultur. Weiter erfordert der internationale Charakter der technischen Revolution eine qualitativ [S. 398]höhere Form der internationalen Arbeitsteilung. 2) im Innern: Schutz des sozialistischen Eigentums und Entwicklung der Verteidigungsbereitschaft gegen mögliche imperialistische Überfälle. Volle Entfaltung der Wissenschaft als Produktivkraft; Einholen bzw. Überflügeln des wissenschaftlich-technischen Vorlaufs des Imperialismus; allseitige Entwicklung der sozialistischen Gesellschaft, insbesondere die Entwicklung des sozialistischen ➝Bewußtseins.
Der „Sieg der sozialistischen Produktionsverhältnisse“ und damit der Beginn der zweiten Phase wurde in der DDR auf dem VI. Parteitag der SED im Januar 1963 in Verbindung mit dem Neuen Ökonomischen System der Planung und Leitung verkündet. „Das komplizierteste und wichtigste Entwicklungsproblem der sozialistischen Demokratie ist die Herstellung der Einheit von zentraler staatlicher Planung grundsätzlicher gesamtgesellschaftlicher Aufgaben und selbständiger, eigenverantwortlicher Planung und Leitung durch die sozialistischen Warenproduzenten“ (DZfPh, ebd., S. 657).
3. Der wissenschaftliche Kommunismus
Nach der Vollendung des Aufbaus des Sozialismus beginnt erst die eigentliche Geschichte der Menschheit, der Kommunismus. Während Marx diese Epoche noch mehr philosophisch charakterisierte als eine Vernichtung der „Fremdheit“, mit der sich die Menschen zu ihrem eigenen Produkt sowie gegenseitig verhalten (Marx/Engels, Werke, Bd. 3, S. 35), sind es heute mehr pragmatische Kriterien, die zu ihrer Bestimmung genannt werden. Das Verteilungsprinzip lautet jetzt: „Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen“; es gibt keine Klassen mehr; die Produktionsmittel sind einheitliches Volkseigentum; die Unterschiede zwischen Stadt und Land sind aufgehoben; körperliche und geistige Arbeit sind verschmolzen, die Intelligenz hört auf, eine besondere soziale Schicht zu sein; der Charakter der Arbeit ist nun ein ganz anderer: Der Mensch tritt mit der Vollendung der Automation aus dem naturwüchsigen Produktionsprozeß heraus und leitet diesen nur noch nach seinen Zielvorstellungen an; die Arbeit ist nur noch schöpferische und wird zum „hauptsächlichen Lebensbedürfnis des Menschen“.
Nach dem Selbstverständnis des ML. hat der Aufbau des Kommunismus in der SU seit dem XXII. Parteitag der KPdSU schon begonnen. Freilich ist auch in dem dort entwickelten Programm für die Jahre 1961 bis 1980 von einem „Absterben des Staates“, wie es sich Marx und Engels vorstellten, nicht die Rede.
Literaturangaben
- Bochenski, Joseph M.: Der sowjetrussische dialektische Materialismus (Diamat). (Dalp-Taschenbücher 325). Bern 1960, A. Francke. 180 S.
- Fetscher, Iring: Von Marx zur Sowjetideologie. 8. Aufl., Frankfurt a. M. 1962, Moritz Diesterweg. 204 S.
- Lange, Max Gustav: Marxismus — Leninismus — Stalinismus. Stuttgart 1955, Ernst Klett. 210 S.
- Lehmbruch, Gerhard: Kleiner Wegweiser zum Studium der Sowjetideologie. (BMG) 1959. 90 S.
- Lemberg, Eugen: Ideologische Wandlungen im Marxismus-Leninismus Osteuropas. Stuttgart 1967, Klett. 112 S.
- Leonhard, Wolfgang: Sowjetideologie heute, Bd. II — Die politischen Lehren (Fischer-Bücherei, 461). Frankfurt a. M., 1962. 328 S.
- Lieber, Hans-Joachim: Die Philosophie des Bolschewismus in den Grundzügen ihrer Entwicklung (Staat u. Gesellschaft, Bd. 3) Frankfurt a. M. 1957, Moritz Diesterweg. 107 S.
- Löwenthal, Fritz: Das kommunistische Experiment — Theorie und Praxis des Marxismus-Leninismus. Köln 1957, Markus-Verlag. 280 S.
- Marxismusstudien, Sammelband, hrsg. v. E. Metzke (Schr. d. ev. Studiengemeinsch. Nr. 3). Tübingen 1954, Mohr. 243 S.
- Marxismusstudien, 2. F., Sammelband, hrsg. von I. Fetscher (Schr. d. ev. Studiengemeinsch. Nr. 5). Tübingen 1957, Mohr. 265 S.
- Marxismusstudien, 3. F., Sammelband, hrsg. von I. Fetscher (Schr. d. ev. Studiengemeinsch. Nr. 6). Tübingen 1960, Mohr. 221 S.
- Milosz, Czeslaw: Verführtes Denken (mit Vorw. von Karl Jaspers). Köln 1955, Kiepenheuer und Witsch. 239 S.
- Stalin: Über dialektischen und historischen Materialismus (vollst. Text, m. krit. Kommentar von Iring Fetscher). Frankfurt a. M. 1956, Moritz Diesterweg. 126 S.
- Wetter, Gustav A.: Der dialektische Materialismus. Seine Geschichte und sein System in der Sowjetunion. 4., erw. Aufl., Freiburg 1958, Herder. 693 S.
- Wetter, Gustav A.: Philosophie und Naturwissenschaft in der Sowjetunion (Rowohlts deutsche Enzyklopädie, 67). Hamburg 1958, Rowohlt. 195 S.
- Karisch, Rudolf: Christ und Diamat — Der Christ und der Dialektische Materialismus. 3., erw. Aufl., Berlin 1958, Morus-Verlag. 206 S.
- Brzezinski, Zbigniew K.: Der Sowjetblock — Einheit und Konflikt (a. d. Amerik.). Köln 1962, Kiepenheuer und Witsch. 581 S.
- Djilas, Milovan: Die neue Klasse — eine Analyse des kommunistischen Systems. München 1958, Kindler. 284 S.
- Leonhard, Wolfgang: Kreml ohne Stalin. Köln 1959, Verlag für Politik und Wirtschaft. 648 S. u. 25 Abb.
- Meissner, Boris: Sowjetdemokratie und bolschewistische Parteidiktatur. Berlin 1963, Colloquium-Verlag. 192 S.
- Nollau, Günther: Zerfall des Weltkommunismus — Einheit oder Polyzentrismus. Köln 1963, Kiepenheuer und Witsch. 154 S.
- Stern, Carola: Porträt einer bolschewistischen Partei — Entwicklung, Funktion und Situation der SED. Köln 1957, Verlag für Politik und Wirtschaft. 372 S.
- Unrecht als System — Dokumente über planmäßige Rechtsverletzungen im sowjetischen Besatzungsgebiet. (BMG) 1952. 239 S.
- Unrecht als System, Bd. II — Dokumente über planmäßige Rechtsverletzungen im sowjetischen Besatzungsgebiet 1952 bis 1954. (BMG) 1955. 293 S. Eine englische, eine französische und eine spanische Ausgabe bringen die in Bd. I zusammengestellten Dokumente.
- Unrecht als System, Bd. III… 1954 bis 1958. (BMG) 1958. 248 S.
- Unrecht als System, Bd. IV … 1958 bis 1961 (BMG) 1962. 291 S.
- Stolz, Otto: Sozialistische Errungenschaften für den Arbeiter? 4., erw. Aufl. (BMG) 1960. 79 S.
- Bochenski, Joseph M., und Gerhart Niemeyer: Handbuch des Weltkommunismus. Freiburg i. Br. 1958, Karl Alber. 771 S.
Fundstelle: A bis Z. Elfte, überarbeitete und erweiterte Auflage, Bonn 1969: S. 390–398
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