DDR von A-Z, Band 1969

Nation (1969)

 

 

Siehe auch die Jahre 1958 1959 1960 1962 1963 1965 1966


 

Die definitorische Schwierigkeit des Begriffes N. besteht für die Kommunisten darin, daß einerseits nach der Lehre des Historischen Materialismus die N. Übergangscharakter hat, weil die Entwicklung auf den Internationalismus weist, und daß sie andrerseits für die Revolutionsstrategie in den nationalen Befreiungskämpfen eine unentbehrliche Rolle spielt. Gelöst wird diese Schwierigkeit dadurch, daß an die Stelle der alten, bürgerlichen N. die „sozialistische N.“ tritt, wie sie in der neuen Verfassung bezeichnet wird.

 

Bis zum Jahre 1956 hielt sich die SED an die Begriffsbestimmung, die Stalin im Jahre 1913 in seiner Schrift „Marxismus und nationale Frage“ gegeben hatte: „Eine N. ist eine historisch entstandene stabile Gemeinschaft von Menschen, entstanden auf der Grundlage der Gemeinschaft der Sprache, des Territoriums, des Wirtschaftslebens und der sich in der Gemeinschaft der Kultur offenbarenden psychischen Wesensart.“ Diese Definition wird ergänzt durch Stalins Auffassung, daß die „bürgerlichen Nationen … mit dem Sturz des Kapitalismus“ umgeschmolzen und abgelöst würden durch „sozialistische N. … Diese neuen N. entstanden und entwickelten sich auf der Grundlage der alten, bürgerlichen N. im Ergebnis der Liquidierung des Kapitalismus — auf dem Wege ihrer radikalen Umgestaltung im Geiste des Sozialismus“ („Der Marxismus und die nationale und koloniale Frage“, 2. Aufl. 1952, S. 327–329).

 

Auch nach 1956 galt diese Definition noch, meist ohne Erwähnung Stalins, doch wird ebenfalls festgestellt, Stalins Definition genüge nicht, denn sie zeige nicht „die Wandlung der N. unter Führung der Arbeiterklasse zur sozialistischen N.“ (A. Kosing in „Einheit“ 1962, Nr. 5, S. 15).

 

Aus den nuancierten Veröffentlichungen Kosings in der Folgezeit ragt jene im „Kleinen Politischen Wörterbuch“ aus dem Jahre 1967 heraus, weil sie nach dem VII. Parteitag der SED erschienen ist und die dort gefaßten Formeln zur Deutschlandpolitik widerspiegelt (Teilung Deutschlands und Wiedervereinigungspolitik): Danach ist die N. eine „Struktur- und Entwicklungsform der Gesellschaft, die gesetzmäßig im allgemeinen mit der Herausbildung des ökonomischen Gesellschaftsformation des Kapitalismus entsteht und in dem langen historischen Zeitraum bis zum vollen Sieg der ökonomischen Gesellschaftsformation des Kommunismus im Weltmaßstab die für den Fortschritt der Gesellschaft notwendige Funktion hat, die Menschen zu großen und beständigen Gemeinschaften zusammenzuschließen, in deren Rahmen sich Produktivkräfte, Kultur und Wissenschaft in hohem Grade entwickeln können. Die gemeinschaftsbildenden Faktoren im Entwicklungsprozeß der N. sind vor allem die Gemeinsamkeit des Wirtschaftslebens, des Territoriums, der Sprache, der Kultur und der sozialen Psychologie. Obwohl sich in Europa die meisten dieser Faktoren schon lange vor der kapitalistischen Gesellschaftsformation herausgebildet hatten, erlangten sie erst im Zusammenhang mit der sich entwickelnden kapitalistischen Produktionsweise ihre starke gemeinschaftsbildende Kraft und wurden zugleich zu wesentlichen Merkmalen der N.“

 

In dieser Fassung enthält die Definition [S. 438]mittelbar die Feststellung, daß die N. die durch Klassenkämpfe gekennzeichneten Geschichtsperioden überdauere, doch beruhe die bürgerliche N. „auf der kapitalistischen Produktionsweise“, weshalb sie in „antagonistische Klassen gespalten“ und „durch Klassenkämpfe erschüttert“ werde. Erst „die Arbeiterklasse, mit deren Kampf um die Beseitigung des Imperialismus und die Errichtung des Sozialismus die weitere Entwicklung der N. untrennbar verbunden ist, vertritt die wahren Interessen der N. Sie verbindet ihre soziale Aufgabe (die Befreiung der Werktätigen von Ausbeutung und Unterdrückung) mit der nationalen Aufgabe, die N. von der Bedrohung durch den Imperialismus zu befreien. So vollzieht die Arbeiterklasse die Schaffung „eines qualitativ höheren Typs der nationalen Gemeinschaft“. Die von ihr erkämpfte „sozialistische N. beruht auf der sozialistischen Produktionsweise, sie kennt keine Klassenantagonismen, sondern ist durch die wachsende politisch-moralische Einheit des ganzen Volkes gekennzeichnet, weshalb sie wesentlich stabiler als die bürgerliche N. ist. Ihre führende Kraft ist die Arbeiterklasse, die im Bündnis mit der Klasse der Genossenschaftsbauern, der Intelligenz und allen anderen Schichten unter Leitung der marxistisch-leninistischen Partei die sozialistische Gesellschaft auf baut.“

 

Dieses harmonische Modell einer „sozialistischen N.“ wird noch erweitert durch die Feststellung, daß eine neue, selbstlose Gemeinschaft im Kreise der „sozialistischen N.“ bestehe, weil im Gegensatz zu den feindseligen Beziehungen zwischen den bürgerlichen N. „die Beziehungen zwischen den sozialistischen N. durch solidarische Zusammenarbeit, gegenseitige Unterstützung, Freundschaft und zunehmende Annäherung bestimmt“ werden.

 

In dem zitierten Artikel fehlt ein Absatz aus einem Beitrag des gleichen Verfassers, der wenige Monate zuvor erschienen war („Kleines Wörterbuch der marxistischen Philosophie“, Anfang 1967), nach dem auch die „sozialistische N.“ „allmählich aufhört“, sobald im Kommunismus die „höhere, umfassendere Gemeinschaft der ganzen Menschheit“ entsteht. Daraus ist zu schließen, daß zu den Ergebnissen des VI. Parteitages der SED eine Vorstellung von der N. gehört, die dieser einen dauerhaften Platz in der Struktur auch der künftigen Geschichte zuweist.

 

Die revolutionsstrategische Bedeutung des N.-Begriffes wird in dem „Politischen Wörterbuch“ auch auf Deutschland bezogen: Die deutsche N. sei „durch die deutsche Großbourgeoisie und durch ausländische Imperialisten, insbesondere der USA, gespalten, um die fortschrittliche Entwicklung der ganzen N. zu verhindern“. Die deutsche N. bestehe gegenwärtig aus zwei Staatsvölkern: „Während in der DDR die Bedingungen für die freie Entfaltung der N. gemäß den Gesetzen des gesellschaftlichen Fortschritts geschaffen wurden, besteht in Westdeutschland nach wie vor der tiefe Gegensatz zwischen den Interessen der N. und denen des Monopolkapitals.“

 

Die Hauptgedanken dieser Lehre von der N. sind Bestandteil der neuen Verfassung, so im Vorspruch die „geschichtliche Tatsache, daß der Imperialismus unter Führung der USA … Deutschland gespalten hat“, und im Art. 8, in dem es u.a. heißt, die „DDR und ihre Bürger erstreben … die Überwindung der vom Imperialismus der deutschen N. aufgezwungenen Spaltung Deutschlands, die schrittweise Annäherung der beiden deutschen Staaten bis zu ihrer Vereinigung auf der Grundlage der Demokratie und des Sozialismus“.

 

In dem zitierten Artikel über die N. im „Politischen Wörterbuch“ wird die Lehre von der einen deutschen N., die derzeit in zwei Staaten lebe und deren Entwicklung für die Zukunft wie folgt formuliert: „Indem die DDR den Aufbau der sozialistischen Gesellschaft vollendet, vertritt sie die wahren Interessen der ganzen deutschen N., denn sie trägt durch ihre eigene Stärkung zur Veränderung des Kräfteverhältnisses in Deutschland maßgeblich bei und ebnet der ganzen N. den Weg in die sozialistische Zukunft. Mit der Vollendung des Sozialismus schaffen die Werktätigen der DDR das große Beispiel für die Arbeiter, die Bauern, die Intellektuellen, für alle friedliebenden Menschen in der westdeutschen Bundesrepublik. Die Vereinigung der deutschen N. kann nur in einem längeren, heute nicht fixierbaren Entwicklungsprozeß erreicht werden.“

 

Indem so einerseits der Fortbestand der einen deutschen N. und andrerseits die Beispielhaftigkeit der „DDR“ konstatiert wird, ist auch die ideologisierte Begriffsbestimmung der N. Bestandteil der Deutschlandpolitik der SED.


 

Fundstelle: A bis Z. Elfte, überarbeitete und erweiterte Auflage, Bonn 1969: S. 437–438


 

Information

Dieser Lexikoneintrag stammt aus einer Serie von Handbüchern, die zwischen 1953 und 1985 in Westdeutschland vom Bundesministerium für gesamtdeutsche Fragen (ab 1969 Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen) herausgegeben worden sind.

Der Lexikoneintrag spiegelt den westdeutschen Forschungsstand zum Thema sowie die offiziöse bundesdeutsche Sicht auf das Thema im Erscheinungszeitraum wider.

Ausführliche Informationen zu den Handbüchern finden Sie hier.