
Staatslehre (1969)
Siehe auch die Jahre 1975 1979 1985
Staatsrecht und Staatspraxis werden von der marxistisch-leninistischen St. bestimmt. Diese ist eine Machtlehre. Was sie interessiert, ist nicht so sehr die rechtliche Regelung der Verfassungsordnung, sondern, wer reale Macht über die Menschen ausübt.
Die marxistisch-leninistische St. findet ihr Vorverständnis im Marxismus-Leninismus. Danach ist der Staat in erster Linie Ausdruck der Klassenherrschaft. Im „kapitalistischen Staat“ übe die Klasse der Kapitalisten, gegebenenfalls im Bündnis mit den Großgrundbesitzern, die politische Macht aus. Die anderen Klassen und Schichten, die Kleinbürger, kleinen und mittleren Bauern und vor allem die Arbeiterklasse, seien der politischen Macht der Kapitalisten und Großgrundbesitzer unterworfen. Bürgerlich-demokratische Verfassungen verschleierten indessen die wahren Machtverhältnisse. Zwischen Verfassungsrecht und Verfassungswirklichkeit bestände im „kapitalistischen Staat“ ein Gegensatz. Gegen den „kapitalistischen Staat“ müsse sich die Arbeiterklasse unter Führung ihrer marxistisch-leninistischen Partei wenden, um über seinen Sturz zur Umgestaltung der politischen, ökonomischen und sozialen Verhältnisse zu gelangen. Dabei habe die Arbeiterklasse sich um ein Bündnis mit den anderen unterdrückten Klassen und Schichten zu bemühen. Sei der „kapitalistische Staat“ gestürzt und habe die Arbeiterklasse unter Führung ihrer marxistisch-leninistischen Partei und im Bündnis mit den anderen zuvor unterdrückten Klassen und Schichten die Macht erobert, so baue sie einen sozialistischen Staat auf. Dieser wird gekennzeichnet durch a) die führende Rolle der Arbeiterklasse mit der marxistisch-leninistischen Partei als Avantgarde (Suprematie der Partei), b) das sozialistische Eigentum an den Produktionsmitteln, c) die Planung und Leitung der gesamtgesellschaftlichen Entwicklung unter Führung der Partei auf der Grundlage der sozialistischen Produktionsverhältnisse. Der sozialistische Staat ist auf dem Prinzip der Gewaltenkonzentration aufgebaut, da das Prinzip der Gewaltenteilung mit dem Prinzip der Volkssouveränität, die als Souveränität des werktätigen Volkes unter Führung der Arbeiterklasse mit der marxistisch-leninistischen Partei als Avantgarde aufgefaßt wird, im Widerspruch stehe. Der Organisationsgrundsatz des sozialistischen Staates ist das Prinzip des demokratischen Zentralismus. Der Staat werde nunmehr im Gegensatz zum „kapitalistischen Staat“, der ein Hemmnis für die Weiterentwicklung sei, ein Instrument des Fortschritts.
Die Verfassung eines sozialistischen Staates baut sich auf den genannten Grundsätzen auf (Strukturelemente und -prinzipien).
Da im sozialistischen Staat die antagonistischen Klassen der Kapitalisten und Großgrundbesitzer ausgeschaltet seien und die anderen Klassen (Kleinbürger, werktätige Bauern) und die Intelligenz der Führung der Arbeiterklasse folgten, wird in der neueren marxistisch-leninistischen St. der sozialistische Staat als Volksstaat aufgefaßt, der jedoch seinen Charakter als Instrument zur Weiterentwicklung der gesamtgesellschaftlichen Entwicklung nicht verliert.
Fundstelle: A bis Z. Elfte, überarbeitete und erweiterte Auflage, Bonn 1969: S. 604