
Teilung Deutschlands und Wiedervereinigungspolitik (1969)
Siehe auch:
- Spaltung Deutschlands: 1960
Die Einzelheiten der Vorgänge, die zur TD. führten, werden erst durch die Veröffentlichung wenigstens einos Teiles der Akten des amerikanischen Außenministeriums bekannt. Die bisherigen unvollständigen und ungenauen Vorstellungen beruhen auf politisch orientierten amtlichen Veröffentlichungen und Mitteilungen von daran Beteiligten.
Die Wiedervereinigungspolitik der SED nimmt gegenüber der TD. ein differenziertes Verhältnis ein, ist doch die SED selbst eine Erscheinung der TD. Der SU als Besatzungsmacht in Deutschland stand zunächst eine Gruppe von Emigranten, die die KPD wiederbegründeten, und seit 1946 die SED zur Verfügung. Die weltanschauliche und politische Übereinstimmung ist bekannt, die Interdependenz zwischen der SU als Besatzungsmacht und der SED nur vermutbar. Der Einfluß der deutschen Partner auf die SU hatte zunächst beratenden und schließlich bestimmenden Charakter.
Die Deutschlandpolitik aller Mächte der Anti-Hitler-Koalition ist vielschichtig. In ihr lassen sich Tendenzen und Aussagen sowohl für die T. als auch für die Beibehaltung der Einheit Deutschlands nachweisen. Es ist eine Unsicherheit und Mißtrauen offenbarende Politik des als ob, — als ob es zur TD. käme, als ob die Einheit Deutschlands unversehrt erhalten bleibe. Der permanente Pendelschlag zwischen den Extremen dieser Haltung verwirrt bei der Betrachtung der Deutschlandpolitik sowohl einer als auch aller Mächte. Das antithetische Denken der drei ursprünglichen Besatzungsmächte — Großbritannien, die SU und die Vereinigten Staaten von Amerika — in bezug auf Deutschland ist nicht das Ergebnis diplomatischer Kurzsichtigkeit oder politischer Euphorie, sondern das Ergebnis der Unfähigkeit der Großmächte, sich über eine anwendbare Form der gemeinsamen Regierung Deutschlands, eines Kondominiums über eine Industrienation von 65 Millionen, zu verständigen. Diese Grundtatsache der internationalen Deutschlandpolitik ist der Ausgangspunkt der unmittelbar nach der Doppelkapitulation einsetzenden Entwicklung. Vertreter aller Besatzungsmächte hielten vom Herbst 1941 an eine juristische oder [S. 631]faktische TD. nach dessen Besiegung für möglich, ja für wahrscheinlich. Keine Besatzungsmacht kam mit der Absicht nach Deutschland, unter allen Umständen den am 18. 1. 1871 proklamierten deutschen Nationalstaat, das Deutsche Reich, zu erhalten oder wiederherzustellen. Die Vorstellungen der einzelnen Besatzungsmächte waren, soweit sie bereits eindeutig bezeichnet werden können, sehr verschieden. Ihre Politik in Deutschland und gegenüber Deutschland ist an die 1945 entstandene Situation gebunden.
In bezug auf die TD. sind folgende Zeitspannen zu unterscheiden:
- Die Phase der Vorbereitung 1941–1945, in der Möglichkeiten erwogen und Entscheidungen vorbereitet wurden.
- Die verdeckte Teilung 1945–1948/49, in der durch den Alliierten Kontrollrat für Deutschland die Entfremdung zwischen den westlichen Besatzungszonen einerseits und der sowjetischen Besatzungszone andererseits getarnt wurde.
- Die „provisorische“ Zeitspanne von BRD und DDR 1949–1955, in der durch Vorschläge und Verhandlungen die noch vorhandenen Möglichkeiten einer Wiedervereinigung Deutschlands erörtert wurden.
- Die Propagierung der sowjetischen Zwei-Staaten-Theorie 1955–1961, in der durch die Integrierung der BRD in die NATO und der DDR in den Warschauer Pakt neue Verhältnisse entstanden, die die SU veranlaßten, auf die Anerkennung von zwei deutschen Staaten zu dringen. Durch ihren am 10. 11. 1958 ausgelösten Vorstoß auf Berlin akzentuierte sie diese Zielsetzung.
- Die durch gewaltsame Isolierung erzwungene Konsolidierung der DDR seit 1961, in der die Sowjetunion zunächst bestrebt war, einen Friedensvertrag mit Deutschland als Ganzes oder den „deutschen Teilstaaten“ abzuschließen und danach mit der Unterzeichnung eines Separatvertrages drohte; aus nur vermutbaren Gründen gab sie diese Absichten auf. Durch den Bau der Mauer am 13. 8. 1961 versperrte die DDR mit Billigung der SU die Abwanderungsmöglichkeiten und erzwang eine Konsolidierung. Durch den Vertrag mit der SU vom 12. 6. 1964 verstärkte sie ihre Beziehungen zu der SU in der Absicht, durch politische und militärische Bindungen, weltanschauliche Übereinstimmungen und wirtschaftliche Interdependenzen Einfluß auf die Politik der SU in Mitteleuropa zu gewinnen.
Da sich die drei Westmächte in der Deutschlandpolitik defensiv verhielten, da sie auf Grund der bestehenden territorialen, rechtlichen und politischen Verhältnisse keine Anlässe und Möglichkeiten zu Aktionen sahen, bestimmten die politischen Offensiven der SU den Ablauf der Deutschlandpolitik.
1. Die Phase der Vorbereitung 1941--1945
Die innere Problematik des durch den Angriff Hitlers auf die SU (22. 6. 1941) provozierten Bündnisses zwischen der SU, Großbritannien und den USA schlägt sich bis zum gegenwärtigen Augenblick in ihrer Deutschlandpolitik nieder. Die drei Mächte gaben zwischen 1941 und 1945 übereinstimmende oder angenäherte Erklärungen über die gemeinsame Behandlung Deutschlands ab. Sie trafen in der in London 1944/45 tagenden Europäischen Beratenden Kommission technische Vereinbarungen über die Besetzung und Kontrolle Deutschlands während einer zeitlich nicht festgelegten Besatzungszeit, sie waren jedoch weder in der Lage noch willens, zwischen ihren Kriegszieldeklamationen und den technischen Vereinbarungen durch die Verabschiedung praktikabler Grundsätze über die gemeinsame Regierung und Verwaltung Deutschlands eine Verbindung herzustellen.
Die britische Politik war zu sehr mit eigenen Problemen der Nachkriegsentwicklung beschäftigt, um sich ausschließlich oder überwiegend mit Deutschland zu befassen. Premierminister W. S. Churchill verfolgte, offensichtlich nicht einmal selbst von der Chance der Verwirklichung überzeugt, die Idee einer TD. an der Mainlinie. Er sprach sich für die Bildung zweier deutscher Staaten, eines Nordstaates und eines Südstaates, einer Donau-Föderation vom Rheintal bis zur ungarischen Tiefebene, aus.
Zahllose Politiker, Diplomaten und Publizisten der USA beteiligten sich an den Überlegungen über Deutschland. Eine Harmonisierung der Ansichten unterblieb, doch sprachen sich Außen- und Kriegsministerium gegen den Plan des Finanzministers Henry Morgenthau jr., Deutschland aufzuteilen und zu entindustrialisieren, aus.
Die sowjetische Deutschlandpolitik zeigte sehr unterschiedliche Tendenzen. Marschall [S. 632]Stalin versicherte in seiner Rundfunkrede am 3. 7. 1941, der aufgezwungene Krieg sei ein Kampf auf Leben und Tod gegen den schlimmsten und heimtückischsten Feind der Sowjetunion, gegen den deutschen Faschismus. Er verkündete, die Formel vom „Großen Vaterländischen Krieg“ vorwegnehmend, die Erhebung des ganzen Sowjetvolkes zur Verteidigung seiner Heimat; am 3. 10. 1941 versicherte er: „Gegen diesen grausamen, bestialischen, tierischen Gegner haben unsere Soldaten ihre gewaltigen Siege erkämpft.“ Im Dezember 1941 entwickelte er in ausführlichen Unterredungen mit dem britischen Außenminister A. Eden erste Vorstellungen über die Behandlung Deutschlands nach seiner Besiegung, indem er eine Aufteilung Deutschlands in mehrere Staaten und die Annahme der Curzon-Linie als Grenze zwischen der SU und dem wiedererrichteten polnischen Staat befürwortete. Am 23. 2. 1942 äußerte er sich im Tagesbefehl zum 24. Jahrestag der Gründung der Roten Armee, indem er an deren Kampf gegen die Truppen der Entente zwischen 1919 und 1921 erinnerte, über die sowjetische Zielsetzung gegenüber Deutschland: „In der ausländischen Presse wird manchmal darüber geschwätzt, daß die Rote Armee das Ziel habe, das deutsche Volk auszurotten und den deutschen Staat zu vernichten. Das ist natürlich eine dumme Lüge und eine törichte Verleumdung der Roten Armee. Solche idiotischen Ziele hat die Rote Armee nicht und kann sie nicht haben. Die Rote Armee setzt sich das Ziel, die deutschen Okkupanten von unserem Territorium zu vertreiben und das Sowjetland von den faschistischen deutschen Eindringlingen zu befreien. Es ist sehr wahrscheinlich, daß der Krieg für die Befreiung des Sowjetlandes zur Vertreibung und Vernichtung der Hitler-Clique führen wird. Wir würden einen solchen Ausgang begrüßen. Es wäre aber lächerlich, die Hitler-Clique mit dem deutschen Volke, mit dem deutschen Staate, gleichzusetzen. Die Erfahrungen der Geschichte besagen, daß die Hitler kommen und gehen, aber das deutsche Volk, der deutsche Staat, bleibt.“
Diese drei Einlassungen Stalins bezeichnen die Dreiteilung der sowjetischen Deutschlandpolitik: 1. Voran steht die Propaganda gegen die faschistischen Eindringlinge, von denen Stalin in seiner Rede vom 6. 11. 1941 sagte, es seien Menschen, die jedes Menschenantlitz verloren hätten und auf das Niveau wilder Tiere herabgesunken seien; 2. hinter dieser Haßwelle führte die Partei- und Staatsführung der SU, im wesentlichen der innerste Kreis des Kremls, bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt nur fragmentarisch bekannte Überlegungen, Erörterungen und Gespräche über die Behandlung Deutschlands nach seiner Niederwerfung. Soweit Teilnehmer dieser Diskussion sich darüber mit Staatsmännern, Diplomaten und Publizisten der verbündeten Westmächte unterhielten, wurden ihre Vorstellungen und Auffassungen durch Veröffentlichungen ihrer westlichen Gesprächspartner bekannt. Diese zeigen von der ersten Stunde an, d.h. von der Eröffnung Stalins gegenüber Eden im Dezember 1941, eine intensive Beschäftigung mit der Frage, in welcher Weise die äußeren und vor allem auch die inneren Verhältnisse Deutschlands geordnet worden sollten, um dem Sicherheitsbedürfnis vornehmlich der Sowjetunion Rechnung zu tragen; 3. die Partei- und Staatsführung der SU verfolgte daneben auch von Anfang an bis zum Ende des Krieges eigene Absichten, wofür die Gründe nur vermutbar sind. Die SU mißtraute, zumindest bis zur Konferenz der „Großen Drei“ in Teheran, der rechtlich niemals multilateral fixierten Allianz mit Großbritannien und den USA. Sie befürchtete, wie Formulierungen Stalins bezeugen, den Fortbestand eines militanten Antikommunismus auch in diesen Ländern, von dem sie annahm, er werde spätestens im Zeitpunkt der Niederwerfung Hitlers der britischen und amerikanischen Politik gegenüber der SU. unüberwindbare Schwierigkeiten bereiten. Sie sah aber auch Einwände und Widerstände gegen die Verwirklichung ihrer zunächst unausgesprochenen Pläne in Ost- und Südosteuropa voraus.
Diese drei Punkte geben der sowjetischen Deutschlandpolitik eine eigentümliche Widersprüchlichkeit und Beweglichkeit; darin unterscheidet sie sich grundlegend von der britischen und vor allem der amerikanischen Deutschlandpolitik. Sie erklären aber auch, warum sich die SU bis in das Jahr 1945 hinein die Möglichkeit einer einseitigen Beilegung des Krieges mit Deutschland offenhielt. Die sowjetische Partei- und Staatsführung berücksichtigte aus eigenem Antrieb und ohne Zweifel mehr auf Ersuchen als auf Druck der in Moskau befindlichen Funktionäre ehemaliger kommunistischer Parteien, auch der KPD, ideologische und politische [S. 633]Fernziele, die offen auszusprechen sie während des Krieges vermied. Bis zu der durch die Schlacht von Stalingrad im Winter 1942/43 bezeichneten militärischen politischen und psychologischen Wende übte Stalin Zurückhaltung in Äußerungen über den militärischen und politischen Ausgang des Krieges. Erst in seiner Rede vom 1. 5. 1943 polemisierte er gegen das „Friedensgerede im Lager der Faschisten“, wobei er folgende Alternative ansprach: „Urteilt man nach den Meldungen der Auslandspresse, so kann man den Schluß ziehen, die Deutschen möchten zum Frieden mit England und den Vereinigten Staaten von Amerika kommen, vorausgesetzt, daß diese sich von der Sowjetunion trennen, oder umgekehrt, sie möchten zum Frieden mit der Sowjetunion kommen, vorausgesetzt, daß diese sich von England und den Vereinigten Staaten von Amerika trennt.“ Stalin benutzte in dieser Rede zum erstenmal die Formel von der bedingungslosen Kapitulation, die kurz vorher Präsident Roosevelt und Premierminister Churchill auf der Konferenz von Casablanca (14. bis 26. 1. 1943) als unabdingbare Forderung der Mächte der Anti-Hitler-Koalition geprägt und verkündet hatten. Stalin bekannte sich dazu durch einen rhetorischen Kunstgriff: „Ist es denn nicht klar, daß einzig und allein die völlige Zerschmetterung der Hitler-Armeen und die bedingungslose Kapitulation Hitler-Deutschland und Europa zum Frieden führen können?“
Durch die Gründung des Nationalkomitees Freies Deutschland und des Bundes Deutscher Offiziere im Sommer 1943 brachte die sowjetische Partei- und Staatsführung in der SU lebende kommunistische Emigranten und in Kriegsgefangenschaft geratene Offiziere und Soldaten zusammen, um durch ihre Propaganda die deutsche Wehrmacht und das deutsche Volk zu gewinnen. Indem die SU beide Organisationen zuließ, erinnerte sie ihre Verbündeten an die Möglichkeit, sich mit einer Vertretung Deutschlands arrangieren zu können.
Bei ihrer ersten Zusammenkunft in Teheran (28. 11.–1. 12. 1943) erörterten die „Großen Drei“ — Churchill, Roosevelt und Stalin — ausführlich Maßnahmen, die sie gegenüber und in Deutschland ergreifen wollten. Sie erörterten die Möglichkeiten einer TD. und die „Westverlagerung Polens“, faßten jedoch keine bindenden Beschlüsse.
In den Verhandlungen der von der Außenministerkonferenz in Moskau (18.–30. 10. 1943) beschlossenen Europäischen Beratenden Kommission, die 1944/45 in London tagte, schlug der britische Vertreter eine Einteilung Deutschlands in zunächst drei Besatzungszonen vor. 40 Prozent des Gebietsstandes des Deutschen Reiches wurden der SU als Besatzungsgebiet eingeräumt, 60 Prozent zunächst Großbritannien und den USA, die auf Kosten ihres Besatzungsgebietes Frankreich eine Besatzungszone zugestanden. Vorschläge, Deutschland durch gemischte Truppenkontingente zu besetzen, lehnte die SU ab. Sie bestand auf der Besetzung der Zonen nur durch die jeweilige Besatzungsmacht.
Die SU versagte sich im Winter 1944/45 allen amerikanischen Vorschlägen, gemeinsame Grundsätze und Richtlinien für die Behandlung und Regierung Deutschlands, zum Beispiel über die in Deutschland durchzuführende Entnazifizierung, zu verabschieden. Sie erklärte, sie würde das Problem der Entnazifizierung und der Entmilitarisierung durch Veränderung der ökonomischen Gegebenheiten in Deutschland lösen. Die Diplomaten der USA waren nicht in der Lage, die in dieser Bemerkung enthaltene Ankündigung über den Charakter der sowjetischen Besatzungspolitik zu erkennen.
Auf der Konferenz von Jalta (4.–11. 2. 1945) versuchte die SU eine verbindliche Entscheidung über die auf der Konferenz von Teheran diskutierte TD. herbeizuführen. Churchill und auch Roosevelt lehnten es ab, innerhalb weniger Stunden oder Tage über eine neue territoriale und politische Struktur Deutschlands zu befinden.
Im Anschluß an die Konferenz vollzogen die sowjetische Politik und auch die sowjetische Propaganda eine Wende gegenüber Deutschland. Während sich Stalin zur Erhaltung der Einheit Deutschlands bekannte und damit eine der von ihm stets angesprochenen Möglichkeiten betonte, wandte sich S. Alexandrow in der „Prawda“ gegen die von Ilja Ehrenburg vertretene Kriegspropaganda. Die britische Sonntagszeitung „The Observer“ vertrat am 20. 5. 1945 die Ansicht: „Offensichtlich hat sich die russische Politik gegenüber den Deutschen seit den Tagen, als sowjetische Rund[S. 634]funksprecher die grimmige Sprache der Rache führten, beträchtlich gewandelt. Wahrscheinlich markierte der Tadel, der Ilja Ehrenburg für sein Beharren auf einer Gesamtschuld des deutschen Volkes erteilt wurde, den Moment der Wende.“ Den „verwirrenden neuen Linien“ der sowjetischen Besatzungspolitik, der Herausstellung einer der Richtungen der sowjetischen Deutschlandpolitik, standen Großbritannien und die USA verwundert gegenüber. Ihre Überraschung vergrößerte sich, als die SU daran ging, unterstützt von kommunistischen Remigranten, der Gruppe Ulbricht und der „Gruppe Pieck“, ihre Besatzungszone zu organisieren.
Da die Mächte der Anti-Hitler-Koalition nicht in der Lage waren, sich über unzweideutige und anwendbare Richtlinien und Vereinbarungen über die gemeinsame Verwaltung Deutschlands zu verständigen, begann jede der vier Mächte die ihr zugesprochene Besatzungszone nach ihren Bindungen, Vorstellungen und Gepflogenheiten zu organisieren und umzugestalten. Sie verzichteten zwar auf die Durchsetzung und Verabschiedung der erörterten Pläne zur TD., führten jedoch eine De-facto-Teilung durch die Separierung der einzelnen Besatzungszonen durch: „Die Spaltung Deutschlands ist“, wie Wilhelm G. Grewe versichert, „nicht das Ergebnis der Uneinigkeit der Alliierten über einen Teilungsplan, sondern das Ergebnis ihrer Uneinigkeit über einen Plan zur Wiederherstellung einer einheitlichen deutschen Staatsgewalt. Mit anderen Worten: Daß die wirkliche Teilung in dem Augenblick begann, in dem alle Besatzungsmächte den Teilungsplan aufgegeben hatten und davon überzeugt waren, daß letzten Endes doch die Wiederaufrichtung eines einheitlichen deutschen Staates die beste Lösung sein werde.“ Kurt Schumacher erklärte im Januar 1947: „Die Sieger kamen ohne einen Plan in dieses Land, ohne zu wissen, was sie von Deutschland wollten oder mit Deutschland anfangen wollten.“ Lediglich die SU war auf diese Situation vorbereitet und zog aus ihr am raschesten Konsequenzen.
2. Die verdeckte Teilung 1945--1948/49
Während sich Politiker und Diplomaten Großbritanniens und der USA noch in Erörterungen über die Behandlung des besiegten und besetzten Deutschlands ergingen, nahm die SU in ihrer Besatzungszone erste weitgreifende Maßnahmen vor. Ihre Truppen schlugen bei ihrem Vormarsch nach Berlin Plakate mit dem Wort Stalins vom 23. 2. 1942 an: „Die Hitler kommen und gehen, aber das deutsche Volk, der deutsche Staat, bleibt.“ Die SU übergab, ohne ihre westlichen Verbündeten zu befragen, Teile des von ihr besetzten östlichen Deutschlands dem in Umwandlung zu einer provisorischen polnischen Regierung befindlichen „Lubliner Komitee“. Sie schickte bereits während der Kampfhandlungen in der Reichshauptstadt die „Gruppe Ulbricht“ mit dem Auftrag nach Berlin, noch vor der bedingungslosen Kapitulation Deutschlands die kommunistische Einflußnahme auf die zukünftige Entwicklung Deutschlands sicherzustellen. Ohne auf eine Verständigung mit ihren westlichen Verbündeten zu warten, ja selbst ohne diese zu unterrichten, ließ die am 9. 6. 1945 errichtete Sowjetische Militäradministration in Deutschland am 10. 6. 1945 Parteien und eine Einheitsgewerkschaft zu, dabei offensichtlich von der Absicht geleitet, durch die Beschleunigung der Entwicklung in der deutschen Hauptstadt Berlin die Richtung der politischen Entwicklung in Deutschland präjudizieren zu können. Am 11. 6. 1945 wandte sich das ZK der KPD mit einem Aufruf an das deutsche Volk. Das Manifest, das „die Gruppe Pieck, bis zum letzten Komma formuliert, aus Moskau mitgebracht hatte“ (C. Stern in „Porträt einer bolschewistischen Partei“, S. 13), sprach sich für die Beendigung der 1848 eingeleiteten bürgerlich-demokratischen Umbildung und gegen den Versuch, Deutschland das Sowjetsystem aufzuzwingen, aus. Die zugelassenen Parteien, KPD, SPD, CDU und LDP, schlossen sich am 14. 7. 1945 zu einem antifaschistischen Block zusammen. Als Unterschied zwischen Koalitionspolitik und Blockpolitik nannte Ulbricht die Tatsache, daß bei der Blockpolitik die Macht der Kriegsverbrecher, Konzerne, Großbanken und Großgrundbesitzer beseitigt werde und die Arbeiterschaft die führende Rolle in der demokratischen Entwicklung übernehme.
Auf der Konferenz von Potsdam (17. 7.–2. 8. 1945) lehnte Stalin jede Diskussion über die von ihm geschaffenen territorialen Verhältnisse ab. Zu einer Diskussion über die in der sowjetischen Besatzungszone bereits eingeleitete politische und ökonomische Entwicklung kam es nicht, da die auf der Konferenz anwesenden Vertreter [S. 635]Großbritanniens und der USA deren Initialcharakter nicht erkannten. Diese Entwicklung ging sehr rasch vor sich.
Die Entwicklung Deutschlands zwischen 1945 und 1949 vollzog sich auf drei Ebenen, auf der Ebene der internationalen Beziehungen, auf der Ebene des Alliierten Kontrollrats und in den einzelnen Besatzungszonen. Das Kennzeichen der Lage Deutschlands war der Umstand, daß es keine deutsche Zentralgewalt gab. Deutschland hörte auf, Subjekt der Weltpolitik zu sein. Es war nur noch Objekt. Internationale Entwicklungen beeinflußten die Situation in Deutschland, wie andererseits Vorgänge in Deutschland sich auf die internationalen Beziehungen auswirkten. Ersatz einer deutschen Zentralgewalt war der Alliierte Kontrollrat, der jedoch nicht in der Lage war, Deutschland als Ganzes zu verwalten, weshalb die neuen Entwicklungen in den einzelnen Besatzungszonen ihren Anfang nahmen.
Die größte Aktivität entfaltete dabei die SU, die unter Berufung auf ihre Interpretation der Erklärungen von Jalta und Potsdam entscheidende Veränderungen in der überkommenen politischen und wirtschaftlichen Struktur ihrer Besatzungszone vornahm. Die Sowjetische Militäradministration nahm eine verwaltungsmäßige Gliederung ihrer Besatzungszone vor, bestellte zentrale Verwaltungen, Leitstellen der Landesverwaltungen, und leitete eine wirtschaftliche und gesellschaftliche Umgestaltung ein. Sie ordnete die Durchführung einer umfassenden Bodenreform an und befahl die Enteignung des Besitzes des Reiches, des Staates, der NSDAP und der großen und wichtigen Industrie-, Bergbau- und Handelsfirmen.
Nur vermutbare Gründe veranlaßten im Herbst 1945 das ZK der KPD, unter der Parole der Herstellung der Einheit der Arbeiterklasse sich für ein organisches Zusammengehen von KPD und SPD auszusprechen. Dabei kam es zu intensiven politischen Auseinandersetzungen. Unter dem bestimmenden Einfluß von Kurt Schumacher erklärten die SPD-Organisationen der westlichen Besatzungszonen, daß sie sich nicht an die Vereinigungsbeschlüsse, die der Berliner Zentralausschuß gefaßt hatte, gebunden betrachteten. Schumacher erklärte, die SPD lehne es ab, den „Blutspender für den schwachen Körper der KPD“ abzugeben. Die KPD versuchte die Bereitschaft der SPD-Mitglieder für einen Zusammenschluß zu gewinnen, indem sie sich zu einem besonderen deutschen Weg zum Sozialismus bekannte. Anton Ackermann versicherte, daß „es einen besonderen deutschen Weg zum Sozialismus geben“ könne. Die Hoffnung, daß die Fusion der beiden Parteien in ganz Berlin erfolge, scheiterte am Beschluß des SPD-Bezirksverbandes Groß-Berlin, der eine von oben bestimmte Vereinigung ablehnte und eine Urabstimmung forderte. Diese fand mit Billigung der westlichen Besatzungsmächte am 30. 3. 1946 in den drei Westsektoren Berlins statt. 82 Prozent der stimmberechtigten SPD-Mitglieder sprachen sich gegen eine sofortige Verschmelzung aus, 12,4 Prozent erklärten sich damit einverstanden. Die Sozialdemokraten der Westsektoren schufen daraufhin eine eigene Parteiorganisation. Nachdem SPD und KPD der SBZ eigene Parteitage durchgeführt hatten, traten sie am 21./22. 4. 1946 zu einem Vereinigungsparteitag zusammen und beschlossen einmütig die Fusion ihrer Parteien zur Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED). Die politischen und wirtschaftlichen Veränderungen in der sowjetischen Besatzungszone illustrierten nicht nur die sowjetische Besatzungspolitik — einzelne Maßnahmen, wie die erzwungene Fusion von KPD und SPD, versuchten die Wiedervereinigung Deutschlands zu präjudizieren. Da diese Absicht erkennbar war, kam es zu einer weiteren Verfremdung zwischen den Besatzungsmächten. In der SED bildete sich eine politisch und propagandistisch aktive Kraft, die zunächst neben und später vor der sowjetischen Besatzungsmacht eine mit dieser weitgehend übereinstimmende Wiedervereinigungspolitik vertrat und betrieb.
Die Funktion der 1945 in die sowjetische Besatzungszone zurückgekehrten Remigranten und Mitglieder des Nationalkomitees Freies Deutschland ist noch zu wenig aufgehellt, um eindeutig fixiert und interpretiert zu werden. Diese waren nicht nur willfährige Mittler zwischen der Besatzungsmacht und der Bevölkerung; sie entwickelten sehr früh eigene Vorstellungen, wobei sie den Versuch unternahmen, zu einer Übereinstimmung zwischen den jeweils vorherrschenden sowjetischen Auffassungen und ihren eigenen Absichten zu gelangen. Als einzige der vier Großmächte besaß die SU eine ihr ideologisch auf das engste verbundene und verpflichtete Gruppe [S. 636]von Politikern, die sowohl als Repräsentanten der Besatzungsmacht tätig waren, als auch als Vertreter der Bevölkerung des besetzten Landes auftraten. Die Auswirkungen dieser eigentümlichen Situation dürfen bei der Beurteilung, der Festlegung und Durchführung der sowjetischen Politik in Deutschland nicht übersehen werden.
Die Sowjetische Militäradministration erklärte die vor der Konferenz von Potsdam ausgebauten und weggebrachten militärischen und industriellen Ausrüstungen und Anlagen als Kriegsbeute. Sie begann unmittelbar nach der Konferenz von Potsdam mit der Entnahme der Reparationslieferungen (Reparationen). Diese wurden zum Anlaß von Meinungsverschiedenheiten und Auseinandersetzungen unter den Besatzungsmächten. Sie lösten gleichzeitig ein Gefälle zwischen den drei westlichen und der östlichen Besatzungszone aus. Als im Frühjahr 1946 die Westmächte weitere Reparationen aus ihren Zonen an die SU ablehnten, mußte die sowjetische Besatzungszone stellvertretend für ganz Deutschland die Reparationen an die SU aufbringen. Diese sicherte sich durch die Schaffung von Sowjet-Aktiengesellschaften sowohl den Einfluß auf die Wirtschaftsstruktur als auch den Hauptanteil an der wieder anlaufenden Produktion. Die damit verbundenen Belastungen riefen in der Bevölkerung Verbitterung, Vereinsamung und Verzweiflung hervor. Der rapide Geburtenrückgang und die erste Fluchtbewegung brachten diese Stimmung zum Ausdruck.
Die Entfremdung der Großmächte durch den rasch einsetzenden „Kalten Krieg“ beeinflußte ihre Zusammenarbeit in Deutschland. Der Kontrollrat war nur noch zu Entscheidungen fähig, bei denen Interessenübereinstimmung der Mächte bestand. Da die Militärgouverneure der Westmächte durch den Zuzug von Flüchtlingen aus der sowjetischen Besatzungszone eine Verschärfung der Ernährungslage befürchteten, pflichteten sie im Kontrollrat einem sowjetischen Antrag bei, der, am 30. 6. 1946 in Kraft getreten, eine Grenzsperre zwischen der sowjetischen Besatzungszone einerseits und den westlichen Besatzungszonen andererseits vorsah. Diese Bestimmung hob die Freizügigkeit innerhalb Deutschlands auf und begünstigte die Isolierung der sowjetischen Besatzungszone. In dieser ging nach der geforderten Fusion von KPD und SPD eine eindeutige Verschiebung der politischen Kräfte zugunsten der SED vor sich, die bestimmend wurde. Die SED setzte sich für eine pausenlose Fortsetzung der eingeleiteten Umstrukturierung ein. Ihr Parteivorstand veröffentlichte am 15. 11. 1946 einen am Vortag beschlossenen „Entwurf einer Verfassung für die Deutsche Demokratische Republik“, der für ganz Deutschland gedacht war.
Die Sitzung des Rates der Außenminister in Moskau (10. 3.–24. 4. 1947) beschäftigte sich ausschließlich mit Deutschland, war jedoch nicht in der Lage, eine Übereinstimmung der Ansichten und Forderungen herbeizuführen. Die Ministerpräsidenten der sowjetischen Besatzungszone nahmen nur an den Vorbesprechungen der am 6./7. 6. 1947 in München abgehaltenen Konferenz der Ministerpräsidenten teil. Sie reisten ab, bevor die Konferenz begonnen hatte, weil sie die Durchsetzung ihrer Forderungen über die Tagesordnung der Konferenz nicht erreichten. Die Sitzung des Rates der Außenminister in London (25. 11.–15. 12. 1947) veranlaßte die SED, alle Parteien, Gewerkschaften und Massenorganisationen zur Teilnahme an einem Deutschen Volkskongreß am 6./7. 12. 1947 aufzufordern. Da die Außenminister nicht in der Lage waren, sich über Deutschland zu verständigen, intensivierte die „Volkskongreßbewegung“ ihre Bemühungen um die politische Entwicklung der sowjetischen Besatzungszone. Belgien, Frankreich, Großbritannien, Luxemburg, die Niederlande und die USA führten vom 23. 2.–6. 3. und vom 20. 4.–3. 6. 1948 in London Besprechungen über die Errichtung einer staatlichen Organisation in den westlichen Besatzungszonen („Londoner Sechs-Mächte-Besprechungen“). Der vom 1. Deutschen Volkskongreß eingesetzte ständige Ausschuß lud auf Vorschlag des Parteivorstandes der SED für den 18. 3. 1948, den 100. Jahrestag der Revolution von 1848, den 2. Deutschen Volkskongreß ein, für den die SED die Losung „Von der Paulskirche bis zum Volkskongreß“ ausgab. Da die Vertreter der Westmächte es ablehnten, die Frage des sowjetischen Vertreters nach Sinn und Ergebnis der Londoner Besprechungen zu beantworten, verließ der sowjetische Oberbefehlshaber in Deutschland, Marschall Sokolowski, die Sitzung des Kontrollrates vom 20. 3. 1948 und beendete damit den von Anfang an unfruchtbaren Versuch einer Vier-Mächte-Verwaltung Deutschlands. Er kündigte wenige Tage später, am 30. 3. 1948, die Blockade Berlins an. Diese erreichte [S. 637]im Sommer 1948 ihren Höhepunkt. Sie zeigte die eingetretene Veränderung der Beziehungen der Besatzungsmächte untereinander an und machte die durch die Hinnahme der faktischen Lage entstandene Situation in Deutschland sichtbar. Ihre dramatische Verschärfung lenkte von der in Gang befindlichen Akzentuierung der politischen Verhältnisse sowohl in den westlichen Besatzungszonen als auch in der sowjetischen Besatzungszone ab und machte die fortbestehende Problematik Berlins und seiner Zugangswege nach Westen bewußt.
Da die vier Besatzungsmächte sich über die gemeinsame Durchführung einer im Interesse der wirtschaftlichen Gesundung Deutschlands unaufschiebbaren Währungsreform nicht einigen konnten, befahlen die westlichen Militärgouverneure am 18. 6. 1948 die Durchführung der Währungsreform in ihren Besatzungszonen am 20. 6. 1948. Am 23. 6. 1948 ordnete der Chef der Sowjetischen Militäradministration die Durchführung einer Währungsreform in seiner Besatzungszone an. Damit war die deutsche Währungseinheit zerrissen.
Wenige Tage später legte der Parteivorstand der SED einen Zwei-Jahres-Plan vor, von dem er eine Beschleunigung der ökonomischen Umgestaltung Mitteldeutschlands erwartete. Er sprach sich am 30. 6. 1948 für die strenge Beachtung des Marxismus-Leninismus stalinistischer Observanz und für die Begehung des Weges der Volksdemokratien aus.
Die 1947 eingetretene Verschärfung der internationalen Lage zeigte 1948 ihre unmittelbaren Auswirkungen auf Deutschland, indem sie existentielle Zusammenhänge auseinanderriß. Während in den westlichen Besatzungszonen die Besatzungsmächte die Errichtung einer Staatsorganisation befahlen und die Durchführung ihrer Befehle, der Frankfurter Dokumente, vom 1. 7. 1948 überwachten, trat in der sowjetischen Besatzungszone die SED als Sprecherin der politischen Entwicklung auf, die die sowjetische Besatzungsmacht bewußt eingeleitet hatte. Die Meinungsverschiedenheiten der Besatzungsmächte wurden auf die in Deutschland in Entstehung befindlichen Staatsorganisationen übertragen. Der amerikanische Historiker und Diplomat G. F. Kennan stellte darüber 1957 fest: „Ich kenne zwischen Rußland und dem Westen keine anderen bedeutungsschwereren Streitfragen als jene Probleme, die sich aus der Art und Weise ergaben, wie man den Zweiten Weltkrieg zu Ende gehen ließ. Ich denke dabei besonders daran, daß die Macht der deutschen Reichsregierung auf deutschem Boden selbst und in weiten Gebieten Osteuropas beseitigt wurde, daß sich die Armeen der Sowjetunion und der westlichen Demokratien in der Mitte trafen und die Kontrolle dieses Territoriums in ihre Hände nehmen konnten, bevor über seine Zukunft eine entsprechende Vereinbarung getroffen war. Das ergab sich einerseits aus dem Grundsatz der bedingungslosen Kapitulation, der die Deutschen aller eigenen Verantwortung für die Zukunft dieses Gebietes enthob, andererseits daraus, daß die alliierten Regierungen während des Krieges untereinander zu keiner sachlichen Verständigung über dieses Problem gelangt waren. Da später eine solche Einigung nicht mehr zu erreichen war — den Fall Österreich ausgenommen —, verwandelte sich der Übergangszustand in einen Dauerzustand.“
Die Situation der Besetzung Deutschlands im Sommer 1945 wurde zum Ausgangspunkt seiner territorialen und politischen Gestaltung. Nach über dreijährigem Zuwarten auf eine vielleicht doch noch mögliche Verständigung entschieden sich die westlichen Besatzungsmächte für die Schaffung eines Weststaates, während die SU die von ihr eingeleitete Entwicklung zum Abschluß brachte.
3. Die „provisorische“ Zeitspanne von BRD und DDR 1949--1955
Die SU ließ bei den Entscheidungen in Deutschland 1948/49 den Westmächten den Vortritt. Diese führten als erste die Währungsreform durch. Die SU zog wenige Tage später nach. Die Westmächte kündigten als erste die Gründung eines westdeutschen Staates an. Die SU überließ Vorbereitung und Propagierung eines staatlichen Regimes dem von der SED bestimmten Block antifaschistisch-demokratischer Parteien. Diese bemühten sich durch die Aktivierung einer „Volkskongreßbewegung“, den Anschein zu erwecken, als entspringe die Gründung der DDR dem spontanen Volkswillen. Der 2. Deutsche Volkskongreß verabschiedete auf seiner Sitzung am 18./19. 3. 1949 den bereits am 22. 10. 1948 gebilligten Entwurf einer Verfassung für eine Deutsche Demokratische Republik und beschloß die Durchführung von Wahlen für [S. 638]einen 3. Deutschen Volkskongreß. Am 8. 5. 1949 unterzeichnete der Parlamentarische Rat in Bonn das Grundgesetz für die BRD. Am 9. 5. forderte das Präsidium des vom 1. Deutschen Volkskongreß gebildeten Deutschen Volksrates die Schaffung einer Nationalen Front. Am 15./16. 5. 1949 fanden die Wahlen zum 3. Deutschen Volkskongreß statt, die den Zweck hatten, eine allgemeine Volksvertretung zu schaffen. Den Wählern wurde eine Einheitsliste vorgelegt; nach der Wahl verteilten sich die Mandate wie folgt: 25 Prozent SED, 15 CDU, 15 LDP, 7,5 NDPD, 7,5 DBP, 10 FDGB, 5 FDJ, 5 Kulturbund für die demokratische Erneuerung Deutschlands, 3,7 VVN, 3,7 Demokratischer Frauenbund Deutschlands, 1,3 VdgB und 1,3 Genossenschaften. Die Annahme einer Einheitsliste und die Verteilung der Mandate nach einem festgelegten Schlüssel wurden zum Kennzeichen aller Wahlen in der DDR. Am 23. 5. 1949 verkündete der Parlamentarische Rat das inzwischen von den Länderparlamenten — mit Ausnahme Bayerns — gebilligte Grundgesetz für die BRD. Am 29. 5. trat der 3. Deutsche Volkskongreß zusammen, der erneut den bereits am 19. 3. 1949 verabschiedeten Entwurf einer Verfassung für die DDR bestätigte. Die Sitzung des Rates der Außenminister in Paris (23. 5.–20. 6. 1949) beschränkte sich auf die Darstellung der gegensätzlichen Auffassungen der Besatzungsmächte. Sie beschloß, die Bemühungen um die Wiederherstellung der Einheit Deutschlands fortzusetzen, obwohl die Außenminister keine Einigung in bezug auf die Wiederherstellung der wirtschaftlichen und politischen Einheit Deutschlands erzielen konnten. Sie kamen überein, den führenden deutschen wirtschaftlichen Körperschaften zu empfehlen, „die Schaffung enger wirtschaftlicher Bande zwischen den Zonen und die wirksamere Durchführung von Handels- und anderen Wirtschaftsabkommen zu erleichtern“.
Am 7. 9. 1949 traten in Bonn der Bundesrat und der 1. Deutsche Bundestag zu ihren ersten Sitzungen zusammen, womit die Konstituierung der BRD eingeleitet wurde. Am 7. 10. 1949 erklärte sich der vom 3. Deutschen Volkskongreß bestimmte Deutsche Volksrat zur provisorischen Volkskammer der DDR. Er setzte die bereits vorliegende Verfassung in Kraft und bildete eine provisorische Regierung.
Während die drei westlichen Mächte ihre Beziehungen zu der BRD in einem Besatzungsstatut ordneten, übertrug die SU der DDR weitere Zuständigkeiten und Aufgaben. In der BRD war von Anfang an der Wunsch vorhanden, sich der Vormundschaft der westlichen Besatzungsmächte zu entziehen und ein Staatswesen zu bilden, das in der Lage war, auf Mitteldeutschland eine starke Sogwirkung auszuüben und das von Hitler restlos verspielte Vertrauen der Weltöffentlichkeit zu erlangen. Das von der Sowjetmacht in Mitteldeutschland etablierte Regime legte Wert darauf, in Übereinstimmung mit der SU zu handeln.
Das Auseinanderreißen des Wirtschaftsgebietes des Deutschen Reiches schuf in seinem östlichen und westlichen Teil eine eigentümliche Problematik, die unterschiedlich verstanden und bewältigt wurde. Während die DDR durch Entnahmen und Enteignungen durch die Sowjetische Militäradministration, durch Reparationslieferungen an die SU, durch Besatzungskosten und schließlich durch Lieferungen im Rahmen der Wirtschaftsplanung des Ostblocks überfordert wurde, worunter vor allem die Versorgung der Bevölkerung litt, wurde die BRD durch die ERP-Hilfe, durch die Entfaltung einer freiheitlichen Wirtschaftspolitik und durch die von der Koreakrise bestimmte rasche Eingliederung in den Welthandel in die Lage versetzt, durch steigenden Export ihre Einfuhr zu decken und in zunehmendem Maße zu erhöhen. Die unterschiedliche wirtschaftliche Entwicklung schuf ein West-Ost-Gefälle, das die binnendeutsche Wanderung, die Fluchtbewegung aus der DDR in die BRD, begünstigte.
Nach der Konstituierung der BRD und der DDR veränderte sich das Verhältnis der bisherigen Besatzungsmächte gegenüber Deutschland. Die Wahrnehmung der deutschen Interessen und auch die Vertretung der gegensätzlichen Ansichten erfolgte faktisch mehr und mehr durch die BRD und die DDR. Die Verhandlungen der ehemaligen vier Besatzungsmächte über Deutschland wurden zu Auseinandersetzungen um Deutschland, da für die Mächte die Aufgabe der Wiederherstellung der Einheit Deutschlands untrennbar verbunden war mit der Frage der politischen, wirtschaftlichen und militärischen Zuordnung Deutschlands. Diese Problemstellung wurde so[S. 639]wohl in den diplomatischen als vor allem in den propagandistischen Auseinandersetzungen mit zum Teil weit entfernt liegenden Argumenten verdeckt.
Die SED wies von der Konstituierung der DDR an dieser in bezug auf Deutschland als Ganzes die Aufgabe zu, internationale Gleichwertigkeit und Gleichrangigkeit mit der BRD zu erreichen und einen bestimmenden Einfluß auf die Gespräche und Verhandlungen über die Wiederherstellung der Einheit Deutschlands zu erlangen. Die SU unterstützte diese Bemühungen, indem sie dazu beitrug, die außenpolitische Situation der DDR zu verbessern und endgültig zu klären. Sie nahm am 15. 5. 1950 eine Herabsetzung des Gesamtbetrages der von ihr geforderten Reparationen vor, begrüßte den Vertrag zwischen der DDR und Polen über die „Markierung der festgelegten und bestehenden deutsch-polnischen Staatsgrenze an der Oder und an der Lausitzer Neiße“ vom 6. 7. 1950 und betrieb die Aufnahme der DDR in den Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe (COMECON). W. der Regierung der DDR und der SED sind identisch. Die Regierung der DDR vertritt und vollzieht die Vorstellungen und Forderungen, die die SED entwickelt und erhebt. Beide, SED und Regierung der DDR, versuchten vom Herbst 1950 an die Wiedervereinigung Deutschlands als eine Angelegenheit des deutschen Volkes oder der „beiden deutschen Staaten“ zu bezeichnen.
Zunächst schlug Ministerpräsident O. Grotewohl in seinem Brief an Bundeskanzler K. Adenauer vom 30. 11. 1950 die Bildung eines „Gesamtdeutschen konstituierenden Rates unter paritätischer Zusammensetzung aus Vertretern Ost- und Westdeutschlands“ vor. Er griff damit die Empfehlung auf, die die Konferenz der Ostblockstaaten am 20./21. 10. 1950 in Prag gegeben hatte. Adenauer erklärte in seinem Antwortbrief vom 15. 1. 1951, die unselige Spaltung Deutschlands sei auf das in der Sowjetzone eingeführte, der deutschen Tradition und dem deutschen Charakter widersprechende Regierungssystem zurückzuführen, durch das der dortigen Bevölkerung jede Möglichkeit einer freien Gestaltung des politischen und wirtschaftlichen Lebens genommen sei. Grotewohl forderte in seiner Regierungserklärung vom 14. 3. 1951: „Das Volk aus allen Teilen und aus allen Schichten Deutschlands muß sich selbst an den gemeinsamen Tisch setzen.“ Er gab damit das Stichwort zu der intensiven und lang betriebenen Propagandaaktion „Deutsche an einen Tisch“. In ihrer Erwiderung betonte die Regierung der BRD, Grotewohl habe ihren Vorschlag zur Abhaltung freier, allgemeiner, gleicher, geheimer und direkter Wahlen in ganz Deutschland vom 9. 3. 1951 abgelehnt. Den Brief des Präsidenten W. Pieck vom 2. 11. 1951 beantwortete Bundespräsident Th. Heuss am 7. 11. 1951, indem er Piecks Vorwürfe gegen die Bundesregierung zurückwies und eine Aussprache „im Elementaren als nutzlos“ bezeichnete.
Die Regierung der DDR entsandte zwar eine Delegation zu den Beratungen eines politischen Sonderausschusses der Vereinten Nationen über Deutschland, lehnte jedoch die Einsetzung einer UN-Kommission für Deutschland ab, weil diese nach ihrer Ansicht allen geltenden völkerrechtlichen Bestimmungen, insbesondere dem von den vier Besatzungsmächten anerkannten Potsdamer Abkommen sowie den Prinzipien und Statuten der Vereinten Nationen — vor allem den sogenannten Deutschland-Bestimmungen der Charta der Vereinten Nationen — widerspreche, weshalb sie auch keine Vertreter zu den Beratungen dieser UN-Kommission entsandte. Der Vorsitzende der sowjetischen Kontrollkommission für Deutschland, Armeegeneral Tschujkow, ließ Anfragen des UN-Gremiums unbeantwortet.
Der durch dieses Verhalten veranlaßten Mobilisierung der Weltmeinung trat die SU entgegen. In ihrer Note vom 10. 3. 1952 legte sie den „Entwurf für einen Friedensvertrag mit Deutschland“ vor. Dieser sah unter Aufgabe bisheriger sowjetischer Ansichten und Forderungen vor, daß Deutschland als einheitlicher Staat wieder hergestellt werde. Die Spaltung sollte beendet werden, das geeinte Deutschland die Möglichkeit erhalten, sich als „unabhängiger, demokratischer und friedliebender Staat“ zu entwickeln. Sämtliche Streitkräfte sollten spätestens ein Jahr nach Inkrafttreten aus Deutschland abgezogen werden. Auf dem Territorium Deutschlands sollten keine Organisationen bestehen, die der Demokratie oder der Sache der Erhaltung des Friedens feindlich gesinnt seien. Deutschland sollte sich verpflichten, keinerlei Koalition oder Militärbündnis einzugehen, die sich gegen irgendeinen Staat, der mit seinen Streitkräften am Krieg gegen Deutschland teilgenommen hatte, rich[S. 640]ten. Die Veröffentlichung dieses Entwurfes erfolgte in der Schlußphase der Verhandlungen über den „Deutschlandvertrag“ und über den Vertrag der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft. Die SED unterstützte die sowjetische Note vom 10. 3. 1952, vertrat daneben die Forderung, „die deutsche Frage durch die Deutschen zu lösen“. Der sich an die sowjetische Note vom 10. 3. 1952 anschließende Notenwechsel der Großmächte löste vornehmlich in der BRD eine Diskussion über den „Preis der Wiedervereinigung Deutschlands“ aus. Der FDP-Abgeordnete K. G. Pfleiderer gab in einem Vortrag am 6. 6. 1952 zu bedenken, daß ein so riesengroßer und übermächtiger Staat wie die SU niemals bereit sei, seine politische und wirtschaftliche Stellung in Deutschland, d.h. eine seiner wichtigsten Stellungen überhaupt, von dem ungewissen Ausgang einer Wahl abhängig zu machen, weshalb er vorschlug, den Gedanken an freie und geheime Wahlen in Deutschland zurückzustellen und klar und unverblümt das Hauptziel der deutschen Politik anzugeben, die Räumung der Sowjetzone durch die Russen und die Liquidierung des dortigen Systems. Nach dieser Zielbestimmung versicherte er: „Wenn wir dies tun, dann lautet die Frage einfach so: was kostet dies, wie hoch ist politisch der Preis, mit anderen Worten, wie soll das Staatensystem zwischen Ost und West ausgewogen werden, in dessen Mitte das freie und vereinte Deutschland einzutreten hätte.“
Infolge der inneren Erschütterungen der DDR durch den Tod Stalins am 5. 3. 1953 und der Erhebung vom 17. 6. 1953 erlahmte vorübergehend das Interesse der Partei- und Staatsführung an außenpolitischen Fragen und Agitationen. Die SU erklärte sich bereit, auf einer Konferenz der Außenminister in Berlin (25. 1.–18. 2. 1954) auch die deutsche Frage zu erörtern. Der britische Außenminister A. Eden legte einen nach ihm benannten Plan für die Wiedervereinigung Deutschlands vor (Eden-Plan), den der sowjetische Außenminister W. Molotow mit dem Entwurf eines sowjetischen Friedensvertrages für Deutschland beantwortete. Die Diskussion über beide Vorschläge endete ergebnislos „in einer düsteren Stimmung“ (Eden).
Die SU veröffentlichte am 25. 3. 1954 eine Erklärung über ihre Beziehungen zur DDR, in der sie „die Aufnahme der gleichen Beziehungen zur DDR wie zu anderen souveränen Staaten“ ankündigte. Der 2. Deutsche Bundestag beantwortete diese Maßnahme mit der Versicherung, „daß das deutsche Volk sich niemals mit der Spaltung abfinden kann und die Existenz zweier deutscher Staaten nicht hinnehmen wird“.
Die SED versuchte den durch den Aufstand vom 17. 6. 1953 erlittenen äußeren und inneren Vertrauensschwund durch Entgegenkommen aufzuholen. Sie entfaltete eine heftige Agitation gegen den Eintritt der Bundesrepublik Deutschland in die NATO, befürwortete gleichzeitig jedoch den Beitritt der DDR in die in Vorbereitung befindliche Organisation des Warschauer Paktes.
Während die Regierung der BRD sich zwischen 1949 und 1955 für eine Integrierung der BRD in den Westen in der Erwartung aussprach, dadurch einen Ansatzpunkt für die Wiedervereinigung Deutschlands zu bekommen, für die sie freie und geheime Wahlen als Voraussetzung ansah, versuchte die SED die Diskussion darüber als eine Angelegenheit der Deutschen zu erklären. Sie wurde dabei von der SU unterstützt. Das Hauptinteresse der SED galt jedoch den in Mitteldeutschland vorgenommenen und weitergeführten politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Veränderungen. Die zweite Parteikonferenz der SED (9.–12. 7. 1952) beschloß den planmäßigen „Aufbau der Grundlagen des Sozialismus“, womit sie eine neue Phase in der ideologischen und politischen Auseinandersetzung auch um die Wiedervereinigung Deutschlands bezeichnete. Die Änderung ökonomischer Zielsetzungen und Methoden ließ ihre Einstellung in der deutschen Frage unberücksichtigt.
Die Vorstellung, die mechanische Wiedervereinigung der isolierten Teile des Deutschen Reiches könne rasch erfolgen, erwies sich bereits zwischen 1949 und 1955 als Illusion. Zwar bekundeten alle Beteiligten Interesse und Bereitschaft, es war jedoch keine Seite in der Lage, ihre Vorstellungen durchzusetzen, und es kam nicht zu einer Annäherung der Auffassungen. Die SED benutzte diese Situation, um die Regierung der BRD der Spaltung Deutschlands zu bezichtigen. Da sie sich die Auffassung der SU zu eigen machte, sprach sie sich auch gegen die Tätigkeit der UN-Kommission für Deutschland aus.
[S. 641]
4. Die Propagierung der sowjetischen Zwei-Staaten-Theorie 1955--1961
Am 23. 10. 1954 wurden in Paris die Verträge über die zukünftige politische und militärische Stellung der BRD unterzeichnet. Ein Notenwechsel zwischen Frankreich, Großbritannien und den USA einerseits und der SU andererseits über die Einberufung einer „Gesamteuropäischen Konferenz“ war erfolglos. Am 15. 1. 1955 veröffentlichte die SU eine Erklärung zur Deutschlandfrage, in der sie im Hinblick auf die anstehende Ratifizierung der „Pariser Verträge“ betonte, es gebe noch nicht genutzte Möglichkeiten für die Wiedervereinigung Deutschlands. Während die SPD sich zumindest für die Prüfung der sowjetischen Vorschläge aussprach, vertrat Bundeskanzler Adenauer die Ansicht, es sei im Pariser Vertragswerk gelungen, die drei Westmächte für die Wiederherstellung der deutschen Einheit zu gewinnen. Am 25. 1. 1955 dekretierte das Präsidium des Obersten Sowjets der UdSSR das Ende des Kriegszustandes mit Deutschland. Während die SU erklärte, im Falle der Ablehnung der Pariser Verträge seien gesamtdeutsche freie Wahlen noch im Jahre 1955 möglich, sprach sich Bundeskanzler Adenauer für neue Ost-West-Verhandlungen nach der Ratifizierung der Pariser Verträge aus. Die SED benutzte die in der BRD vorhandenen Meinungsverschiedenheiten zu einer intensiven Propaganda gegen die „Pariser Verträge“, die sie als „Kriegsverträge“ bezeichnete. Die BRD wurde am 9. 5. 1955 in den Nordatlantik-Pakt aufgenommen. Dem auf der Warschauer Konferenz (11.–14. 5. 1955) verabschiedeten Warschauer Beistandspakt trat auch die DDR bei. Infolge der Integration der BRD in die westliche Verteidigungsgemeinschaft und der Aufnahme der DDR in die östliche Militärorganisation wurde nicht nur die innerdeutsche, sondern auch die außenpolitische Lage des geteilten Deutschlands festgelegt. Die zwischen 1949 und 1955 unternommenen Versuche, zu einer Überwindung der Spaltung Deutschlands und zu einer Annäherung der beiden Teile zu gelangen, waren gescheitert. Am Ende dieser Zeitspanne stand die Integrierung der Teile Deutschlands in zwei sich gegenüberstehende Militärblöcke. Im Sommer 1955 geriet die Frage der Wiedervereinigung Deutschlands auf den zweiten Platz in der Liste der europäischen Probleme; den ersten Platz nahm fortan die Frage der europäischen Sicherheit ein. Äußerungen des sowjetischen Außenministers Molotow im Juni 1955 in San Francisco bestätigten diesen Wechsel.
Auf der Konferenz der Regierungschefs in Genf (18.–23. 7. 1955) vertrat der sowjetische Ministerpräsident Bulganin die sowjetische Zwei-Staaten-Theorie, indem er erklärte, auf dem Gebiet des Deutschen Reiches hätten sich zwei Staaten entwickelt, die einen Anspruch hätten, zur Frage der Wiedervereinigung Deutschlands gehört zu werden. Die Regierungschefs der Westmächte stellten demgegenüber die Verantwortung der ehemaligen Besatzungsmächte für die Wiederherstellung der Einheit Deutschlands fest. Sie betonten gleichzeitig, daß die Wiedervereinigung Deutschlands ein entscheidender Beitrag zur Befriedung Europas sei. Alle vier Regierungschefs bekannten sich zum Primat des Sicherheitsproblems. Die von der sowjetischen Delegation vorgelegten Vertragsentwürfe sprachen sich für die Beibehaltung der TD. aus, während der Vorschlag der Westmächte die Überwindung der TD. forderte. In ihrer Direktive an die Außenminister versicherten die Regierungschefs, „in Erkenntnis ihrer gemeinsamen Verantwortung für die Regelung des deutschen Problems und der Wiedervereinigung Deutschlands mittels freier Wahlen“ übereingekommen zu sein, daß die Lösung der deutschen Frage und die Wiedervereinigung Deutschlands im Einklang mit den nationalen Interessen des deutschen Volkes und den Interessen der europäischen Sicherheit herbeigeführt werden sollen.
Der den sowjetischen Ministerpräsidenten Bulganin begleitende Erste Sekretär des ZK der KPdSU, N. S. Chruschtschow, traf drei Tage nach der Unterzeichnung der Genfer Direktive am 26. 7. 1955 in Berlin zwei Feststellungen, die die Richtung der nachfolgenden sowjetischen Deutschlandpolitik bestimmten. Er begründete und rechtfertigte die Zwei-Staaten-Theorie; er versicherte gleichzeitig, daß die Wiedervereinigung Deutschlands nicht auf Kosten der DDR erfolgen dürfe. Diese beiden Auffassungen bestimmten die Haltung der DDR zur Frage der Wiedervereinigung. Das Auftreten zweier deutscher Delegationen in Moskau, zunächst einer Delegation der BRD (9.–13. 9. 1955) und dann einer Delegation der DDR (17.–20. 9. 1955) interpretierte die SED als Demonstration der Zwei-Staaten-Theorie.
Die Außenminister der vier ehemaligen Besatzungsmächte setzten sich auf ihrer Kon[S. 642]ferenz in Genf (27. 10.–16. 11. 1955) ausführlich mit der deutschen Frage auseinander. Den westlichen Garantievertrag zur Wiedervereinigung Deutschlands, einer umgearbeiteten Fassung des von dem britischen Außenminister Eden 1954 vorgelegten Planes, beantwortete die SU mit dem Entwurf eines allgemeinen Vertrags über die kollektive Sicherheit in Europa und einem Vorschlag zur Schaffung eines „Gesamtdeutschen Rates“. Dieser, aus Vertretern der Parlamente der BRD und der DDR gebildet, sollte als konsultatives Organ bei der Behebung von Fragen, an deren Lösung die BRD und die DDR interessiert sind, tätig werden. Die Regierung der DDR bezeichnete es als die Aufgabe dieses „Gesamtdeutschen Rates“, „auf eine gegenseitige Annäherung der Deutschen aus West- und Ostdeutschland hinzuwirken und eine Zusammenarbeit auf allen Gebieten der innerdeutschen Beziehungen zu organisieren“ (31. 10. 1955).
Durch die Vorgänge in Polen und Ungarn und die Ereignisse im Nahen Osten im Herbst 1956 wurde die Diskussion über die Wiedervereinigung Deutschlands vorläufig in den Hintergrund gerückt. W. Ulbricht versuchte von der Initiative der Regierung der BRD vom 2. 9. 1956 (Memorandum an die SU über die Frage der Wiedervereinigung) und von den innenpolitischen Schwierigkeiten der DDR abzulenken, indem er am 30. 12. 1956 in einem Leitartikel „Was wir wollen und was wir nicht wollen“ erklärte: „Nachdem in Deutschland zwei Staaten mit verschiedenen gesellschaftlichen Systemen bestehen, ist es notwendig, zunächst eine Annäherung der beiden deutschen Staaten herbeizuführen, später eine Zwischenlösung in Form der Konföderation oder Föderation zu finden, bis es möglich ist, die Wiedervereinigung und wirklich demokratische Wahlen zur Nationalversammlung zu erreichen.“ Die Wiedervereinigung Deutschlands im Rahmen einer Konföderation oder Föderation betrachtete die SED als die mögliche Form eines Zusammenschlusses der, wie sie sagte, „zwei deutschen Staaten mit unterschiedlichen gesellschaftlichen Ordnungen“. Die SU machte sich diesen Vorschlag zu eigen, indem Chruschtschow während seines Aufenthaltes in der DDR vom 7. bis 14. 8. 1957 erklärte, es gebe nur einen realen Weg zur Wiedervereinigung Deutschlands, nämlich den „Weg der Verhandlungen und der Verständigung zwischen den beiden deutschen Staaten“. Die von der SU erstmals am 10. 12. 1957 geforderte Gipfelkonferenz sollte sich zwar mit einem Friedensvertrag für Deutschland, nicht aber mit der Wiedervereinigung Deutschlands beschäftigen. Die Regierung der DDR trat dieser Auffassung uneingeschränkt bei. Ihr wurde auf der Tagung des Politischen Beratenden Ausschusses der Staaten des Warschauer Paktes in Moskau am 24. 5. 1958 bestätigt, daß die Wiedervereinigung Deutschlands eine deutsche Angelegenheit sei.
Am 2. 7. 1958 beauftragte der 3. Deutsche Bundestag die Bundesregierung, sich bei den vier Mächten — Frankreich, Großbritannien, der SU und den USA — dafür einzusetzen, „daß auf einer künftigen internationalen Konferenz (Gipfelkonferenz) oder auch unabhängig davon ein Vier-Mächte-Gremium (mindestens im Rang einer Botschafterkonferenz) mit dem Auftrag gebildet wird, gemeinsame Vorschläge zur Lösung der deutschen Frage zu erarbeiten“. Chruschtschow lehnte in seiner vor dem V. SED-Parteitag in Berlin am 11. 7. 1958 gehaltenen Rede die Forderung nach Bildung eines Vier-Mächte-Gremiums ab und verwies auf den Konföderationsplan, den die SED in den Mittelpunkt ihrer Agitation stellte.
Die publizistisch vorbereitete Erörterung über die Zufahrtswege nach Berlin und über die Situation Berlins erreichte ihren Höhepunkt mit den sowjetischen Noten vom 27. 11. 1958 an die Westmächte, in denen ultimativ die Umgestaltung West-Berlins in eine freie Stadt gefordert wurde. Die Regierung der DDR pflichtete dem Verlangen der SU bei, wobei sie die Auffassung vertrat, West-Berlin liege auf ihrem Territorium. Am 10. 1. 1959 legte die SU den Entwurf eines Friedens Vertrages mit Deutschland vor, dessen Artikel 2 lautete: „Bis zur Wiedervereinigung Deutschlands in dieser oder jener Form werden in diesem Vertrag unter der Bezeichnung ‚Deutschland‘ die beiden bestehenden deutschen Staaten, nämlich die Deutsche Demokratische Republik und die Bundesrepublik Deutschland, verstanden.“ Während seines Aufenthaltes in der DDR vom 4. bis 12. 3. 1959 betonte Chruschtschow seine Überzeugung von der gesamtdeutschen Funktion der DDR. Angesichts der sowjetischen Forderungen und Ankündigungen erklärten sich die Westmächte zu Verhandlungen über Deutschland und Berlin bereit.
[S. 643]An der Genfer Außenministerkonferenz, deren erste Phase vom 11. 5. bis 20. 6., deren zweite Phase vom 13. 7. bis 5. 8. 1959 dauerte, nahmen — zwar nicht am Konferenztisch, sondern an davon abgesetzten „Katzentischen“ — Delegationen sowohl der BRD als auch der DDR teil. Beide beteiligten sich an der Darlegung der Situation in Deutschland und in Berlin. Die Zulassung der Delegation der DDR deutete die SED als eine De-facto-Anerkennung. Die Westmächte unterbreiteten einen Vier-Stufen-Plan, „Herter-Plan“ genannt, der Ausführungen über die Prozedur der Wiederherstellung der Einheit Deutschlands enthielt. Der sowjetische Außenminister Gromyko verwies auf die sowjetischen Vorschläge für einen Friedensvertrag mit Deutschland. Die Konferenz endete ergebnislos.
Die SED sprach sich weiterhin für den Abschluß eines Friedensvertrages mit Deutschland aus. Am 1. 10. 1959 verabschiedete die Volkskammer einen Acht-Punkte-Vorschlag zum gemeinsamen Handeln des deutschen Volkes für Frieden und Entspannung. Den 10. Jahrestag der Gründung der DDR benutzte die SED zu der Aufforderung, „vereint mit den fortschrittlichen, friedliebenden und patriotischen Menschen in Westdeutschland ein neues, friedliches, demokratisches und geeintes deutsches Vaterland zu schaffen“.
Das Scheitern der geplanten Gipfelkonferenz vom 16./17. 5. 1960 in Paris führte zu einer Verschärfung der innerdeutschen Spannungen. Das ZK der SED hatte sich bereits am 17. 4. 1960 mit einem „Offenen Brief“ an die Arbeiterschaft der BRD gewandt und einen „Deutschlandplan des Volkes“ zur Diskussion gestellt. Die Regierung der DDR versuchte durch ihre Denkschrift vom 15. 9. 1960, die 15. Vollversammlung der Vereinten Nationen für ihre Vorstellungen zu gewinnen.
Die steigende Fluchtbewegung aus Mitteldeutschland wurde sowohl für die DDR als auch für die SU zum entscheidenden politischen Problem. In einem Gespräch mit dem amerikanischen Publizisten Walter Lippmann im Frühjahr 1961 erklärte Chruschtschow, alle Weltprobleme seien, gemessen an der deutschen Frage, zweitrangig. Am 3./4. 6. 1961 trafen Ministerpräsident N. S. Chruschtschow und Präsident J. F. Kennedy in Wien zusammen. Chruschtschow überreichte ein Memorandum, in dem alle seit 1955 allgemein, seit dem 10. 11. 1958 spezifiziert erhobenen Forderungen in bezug auf Deutschland und Berlin wiederholt wurden. Die Wiederholung der sowjetischen Forderungen löste eine jäh ansteigende Fluchtbewegung aus. Durch die Errichtung einer Sperrmauer (Mauer) durch Berlin am 13. 8. 1961 hielt die DDR ihre Bürger gewaltsam zurück: Da die vorausgegangenen politischen und wirtschaftlichen Maßnahmen nicht in der Lage waren, die Fluchtbewegung zu unterbinden oder anzuhalten, ergriff die DDR mit Zustimmung ihrer Verbündeten eine Maßnahme, die die SED als „im Interesse des europäischen Friedens liegend“ zu rechtfertigen suchte. Die Entwicklung zwischen 1955 und 1961 ist gekennzeichnet durch die Bestrebungen sowohl der SU als auch der SED, die Zwei-Staaten-Theorie faktisch und juristisch durchzusetzen. Diese Bemühungen setzten mit der nachdrücklichen Propagierung der Zwei-Staaten-Theorie am 26. 7. 1955 ein, sie erreichten in der Verkündung des Berlin-Ultimatums vom 27. 11. 1958 ihren Höhepunkt. Sie wurden abgeschlossen durch die Errichtung der Mauer am 13. 8. 1961. Die SED billigte bedingungslos die Zwei-Staaten-Theorie, die sie als Voraussetzung für die Behauptung des von ihr getragenen Regimes verstand. Indem sie eine Konföderation oder Föderation der „zwei deutschen Staaten“ forderte, versuchte sie von ihrer auf Beibehaltung der TD. ausgehenden Politik abzulenken.
5. Die durch gewaltsame Isolierung erzwungene Konsolidierung der DDR seit 1961
Der am 13. 8. 1961 begonnene Bau einer Mauer durch Berlin führte zur völligen Separierung der beiden Teile der Stadt, hob die Freizügigkeit innerhalb Berlins auf und verlegte der Bevölkerung der DDR den Weg nach Westen. Das Brandenburger Tor, Symbol der Zusammengehörigkeit nicht nur der Bevölkerung von Berlin, sondern des ganzen deutschen Volkes, wurde zum Zeichen der vertieften Spaltung. Die SED bot ihren Propagandaapparat auf, um diese Maßnahme zu rechtfertigen. Der Philosoph Ernst Bloch sprach in einem Schreiben an den Präsidenten der Akademie der Wissenschaften seine Befürchtung aus, die Ereignisse des 13. 8. 1961 ließen erwarten, daß für selbständig Denkende in der DDR überhaupt kein Lebens- und Wirkungskreis mehr bliebe.
[S. 644]Die Maßnahmen des 13. 8. 1961 stellen durch die Separierung und Integrierung Ostberlins die Vollendung der TD. dar. Sie wurden von der SED nicht als Abschluß, sondern als Zwischenstufe einer Entwicklung verstanden, deren Ziel die internationale Anerkennung der DDR ist. Sie zwangen die Bewohner der DDR auch im Falle politischer oder persönlicher Schwierigkeiten zum Bleiben. Diesen Umstand benutzten Partei- und Staatsführung erneut zur Identifizierung zwischen Regierungsform und Bevölkerung. Die vorübergehend unterbrochene Propagierung außenpolitischer Vorstellungen, Forderungen und Ziele wurde mit dem „Nationalen Dokument“ fortgesetzt. Die 11. Tagung des Nationalrates der Nationalen Front des demokratischen Deutschland veröffentlichte am 25. 3. 1962 nach einem Referat von Ulbricht das Schriftstück „Die geschichtliche Aufgabe der Deutschen Demokratischen Republik und die Zukunft Deutschlands“. Die Bildung eines Komitees zum Studium der gesellschaftlichen Verhältnisse und ihrer Veränderung in Westdeutschland zielte auf eine Belebung der von der SED initiierten Deutschlandpolitik. Das ZK der SED forderte in einem „Offenen Brief“ die Mitglieder der SPD auf, für friedliche Koexistenz der beiden deutschen Staaten und friedliche Regelung aller offenen Fragen einzutreten. Ein nach Berlin einberufener Nationalkongreß verabschiedete am 16./17. 6. 1962 das „Nationale Dokument“. Die 16. Tagung des ZK der SED vom 26. bis 28. 6. 1962 veröffentlichte den Entwurf eines „Grundrisses der Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung“. Beide Veröffentlichungen, das Nationale Dokument und der Grundriß der Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, sind amtliche Deutungen der Entwicklung Deutschlands in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft.
Die Fortdauer der Teilung Berlins in zwei, beinahe völlig voneinander isolierte Hälften schuf latente innerdeutsche und internationale Spannungen, deren Überwindung die Regierung der DDR durch Ausgabe von Passierscheinen an die Bevölkerung von West-Berlin zum Besuch von Ostberlin anstrebte (Passierscheinabkommen). Erstmals erhielten vom 19. 12. 1963 bis 5. 1. 1964 über 1,2 Millionen West-Berliner die Möglichkeit, Verwandte in Ostberlin zu besuchen. W. Ulbricht schlug während der ersten Passierscheinverhandlungen dem Nachfolger K. Adenauers, Bundeskanzler L. Erhard, ein Abkommen über die Beziehungen der zwei deutschen Staaten vor. Er wiederholte sein Angebot am 6. 1. 1964 und unterbreitete den Entwurf eines Vertrages zwischen den Regierungen der DDR und der BRD über den umfassenden Verzicht auf Kernwaffen.
Gestützt auf die durch die Isolierung begünstigte innenpolitische Stabilisierung verstärkte die SED ihre Forderung, die DDR nicht als Teil eines nicht handlungsfähigen Gesamtdeutschlands, sondern als selbständigen Staat zu respektieren. Sie nahm alle dafür geeignet erscheinenden Maßnahmen wahr. Diesem Ziel diente auch der am 12. 6. 1964 abgeschlossene „Vertrag über Freundschaft, gegenseitigen Beistand und Zusammenarbeit zwischen der DDR und der UdSSR“. In Fortsetzung des am 20. 9. 1955 abgeschlossenen Vertrages garantiert die SU für 20 Jahre das von ihr in Mitteldeutschland errichtete Herrschaftssystem. Die SED erklärte im Sinne ihrer Zwei-Staaten-Theorie den Vertrag als einen „Beitrag zur Stabilisierung der DDR und zur Sicherung des Friedens in Europa“. Der Vertrag ist der Ersatz für den jahrelang leidenschaftlich geforderten Gesamt- oder Separatfriedensvertrag, der vermutlich aus weltpolitischen Erwägungen und auf Grund von Kontakten zwischen den Großmächten nicht zustande kam.
Der Vorsitzende des Staatsrats, W. Ulbricht, stattete vom 24. 2. bis 2. 3. 1965 der Vereinigten Arabischen Republik einen Besuch ab, der eine Krise in den Beziehungen zwischen der BRD und der VAR auslöste, die — nach Ansicht eines Teiles der arabischen Staaten, durch den Entschluß der Bundesregierung, diplomatische Beziehungen mit dem Staate Israel aufzunehmen, verschärft — zum Abbruch der diplomatischen Beziehungen zwischen der BRD und mehreren arabischen Staaten führte. Unmittelbar nach der Abreise Ulbrichts erklärte der Präsident der VAR, Gamal Abdel Nasser, die Errichtung eines Generalkonsulats der VAR in Ostberlin sei vereinbart, eine Anerkennung der DDR jedoch nicht beabsichtigt. Der Vorgang machte die außenpolitischen Konsequenzen der Konfrontation der BRD und der DDR sichtbar. Der Feier des 20. Jahrestages der deutschen Kapitulation im Mai 1965 ging die 9. Tagung des ZK der SED (26.–28. 4. 1965) voraus. Bei dieser Gelegenheit verwies Ul[S. 645]bricht auf die Spannungen im Wirtschaftsablauf der DDR, als deren Urheber er die BRD benannte. Er forderte einen Schadenersatz oder Wiedergutmachung in Höhe von 120 Milliarden Mark. Bei der Spezifizierung dieser Forderung verwies er auf die Reparationsleistungen Mitteldeutschlands und auf eine durch die Flucht von Arbeitskräften verursachte Produktionsminderung.
Das ZK der SED richtete am 7. 1. 1966 an die Delegierten des Dortmunder Parteitages der SPD einen „Offenen Brief“, in dem es zu einer Erörterung der in Deutschland bestehenden Lage aufforderte. Der Vorstand der SPD antwortete darauf am 18. 3., indem er ausführlich seine Ansichten darlegte. Das ZK der SED beantwortete diesen Brief am 25. 3. Der Vorstand der SPD ging darauf am 15. 4. 1966 ein. Einen dritten „Offenen Brief“ richtete das ZK der SED unmittelbar vor dem Zusammentritt des Dortmunder Parteitages an dessen Delegierte. Der Vorsitzende der SPD erstattete den Delegierten des Dortmunder Parteitages ausführlichen Bericht über den Meinungsaustausch zwischen SED und SPD. Der Text der „Offenen Briefe“ des ZK der SED wurde allen Delegierten bekanntgemacht. Der Parteitag der SPD in Dortmund nahm am 4. 6. 1966 folgende Entschließung an: „Der Parteitag begrüßt die durch den Vorstand eingeleitete Auseinandersetzung mit der kommunistischen SED und erklärt sich einverstanden mit den offenen Antworten vom 18. 3. und 15. 4. 1966.“ Die anschließenden Verhandlungen führten zur Vereinbarung zunächst einer Veranstaltung in Karl-Marx-Stadt am 14. 7. 1966, die jedoch von der SED abgesagt wurde. Am vorgesehenen Termin sprachen die in Aussicht genommenen Redner, der SPD-Vorsitzende W. Brandt und seine Stellvertreter H. Wehner und F. Erler, über Rundfunk und Fernsehen. H. Wehner sagte dabei, es sei in vielerlei Beziehung wahr, „daß in Deutschland keine Seite der anderen Seite mit Gewalt ihren Standpunkt aufzwingen kann“. Er betonte auch: „Wir sagen frei heraus, daß wir nicht kommunistisch werden wollen. Aber wir sagen auch, was wir zu tun bereit und imstande sind, damit die Menschen in Deutschland ihren Frieden finden, ohne daß wir von den Kommunisten verlangen, sie müßten auf hören, Kommunisten zu sein.“ In einem Telegramm an den Gewerkschaftstag der IG Chemie-Papier-Keramik vom 7. 9. 1966 befürwortete W. Ulbricht die Fortsetzung des Dialogs: „Aber der Dialog kann nur auf dem Wege offizieller Verhandlungen zwischen den Organisationen zu einer Annäherung und Verständigung führen.“
Die am 1. 12. 1966 gebildete Regierung der Großen Koalition bekannte sich zu Vereinbarungen über die Erleichterung des Lebens in Deutschland und intensivierte die Beziehungen zu den osteuropäischen Staaten. In seiner am 13. 12. 1966 abgegebenen Regierungserklärung wiederholte Bundeskanzler K. G. Kiesinger das in der Friedensnote der BRD vom 25. 3. 1966 enthaltene Angebot eines Austausches von Gewaltverzichtserklärungen, wobei er zusätzlich versicherte, die Bundesregierung sei auch bereit, das ungelöste Problem der TD. in dieses Angebot einzubeziehen. Am 31. 1. 1967 vereinbarten die Sozialistische Republik Rumänien und die BRD die Aufnahme diplomatischer Beziehungen. Am 3. 8. 1967 wurden nach Verhandlungen in Prag Abkommen über den Handels- und Warenverkehr und über den Austausch von Handelsmissionen unterzeichnet. Die Normalisierung der wirtschaftlichen Beziehungen zwischen der BRD und der ČSSR fiel zusammen mit dem Demokratisierungsprozeß der ČSSR. Im Rahmen der Bemühungen, ihre Beziehungen zu den ost- und südosteuropäischen Staaten zu verbessern, nahm die BRD im Frühjahr 1968 die durch Anwendung der „Hallstein-Doktrin“ 1957 abgebrochenen diplomatischen Beziehungen zu Jugoslawien wieder auf.
Die Regierung der Großen Koalition verzichtete darauf, auf politische Vorstöße der Regierung der DDR oder der SED zu reagieren — sie ergriff am 12. 4. 1967 die Initiative, um ihrerseits zur Verwirklichung des in der Regierungserklärung vom 13. 12. 1966 verkündeten Leitsatzes über ihre Deutschlandpolitik beizutragen: „Wir wollen, soviel an uns liegt, verhindern, daß die beiden Teile unseres Volkes sich während der Trennung auseinanderleben. Wir wollen entkrampfen und nicht verhärten, Gräben überwinden und nicht vertiefen. Deshalb wollen wir die menschlichen, wirtschaftlichen und geistigen Beziehungen mit unseren Landsleuten im anderen Teil Deutschlands mit allen Kräften fördern.“ Bundeskanzler K. G. Kiesinger nannte in seiner Regierungserklärung 16 Möglichkeiten, um „die Not der Spaltung unseres [S. 646]Volkes zu erleichtern und dadurch die Voraussetzungen für eine Entspannung innerhalb Deutschlands zu schaffen“. Der Parteivorstand der SPD wandte sich am gleichen Tage, 12. 4. 1967, in einem „Offenen Brief“ an die Delegierten des VII. Parteitages der SED, indem er an den ergebnislosen Meinungsaustausch zwischen SED und SPD 1966 erinnerte und sein Interesse und seine Bereitschaft zum Ausdruck brachte, eine „offene Aussprache aller Parteien in allen Teilen Deutschlands einzuleiten“. Er verwies auf die Erklärungen des Bundeskanzlers zur Erleichterung der Lebensverhältnisse und erinnerte daran, daß zwischen diesen Vorschlägen und den 10 Punkten, die W. Ulbricht in seiner Neujahrsansprache 1967 genannt hatte, Übereinstimmungen bestünden.
Das Präsidium des VII. Parteitages der SED nahm am 20. 4. 1967 zum SPD-Vorschlag Stellung, indem es versicherte: „Die Regierung der DDR war und ist auch künftig bereiten sachlichen, gleichberechtigten Verhandlungen mit der Regierung der westdeutschen Bundesrepublik Wege zu einer Entspannung, zur Abrüstung und zu einer Normalisierung der Beziehungen zwischen beiden deutschen Staaten zu suchen und zu beschreiben. Die Verhandlungen könnten am Sitz der Regierungen in Berlin und Bonn stattfinden.“ Am 10. 5. 1967 richtete der Ministerpräsident der DDR, Willi Stoph, ein Schreiben an Bundeskanzler K. G. Kiesinger, in dem er Verhandlungen über die Normalisierung der Verhältnisse in Deutschland vorschlug. Er stellte detaillierte Bedingungen. Vor allem forderte er die „Aufnahme normaler Beziehungen zwischen beiden deutschen Staaten“. Am 13. 6. 1967 beantwortete Bundeskanzler K. G. Kiesinger das Schreiben Stophs, indem er die Bereitschaft der Bundesregierung zu einem Meinungsaustausch wiederholte, jedoch die Forderung nach der politischen und völkerrechtlichen Anerkennung einer Spaltung Deutschlands ablehnte. An Stoph gewandt, betonte er: „Sie fordern mich auf, von den Realitäten auszugehen. Die Realität, die Sie und ich anerkennen müssen, ist der Wille der Deutschen, ein Volk zu sein. Ich schlage deshalb vor, daß von Ihnen und von mir zu bestimmende Beauftragte ohne politische Vorbedingungen Gespräche über solche praktischen Fragen des Zusammenlebens der Deutschen aufnehmen.“ Ministerpräsident Stoph beantwortete am 18. 9. 1967 den Brief Kiesingers. Dieser erwiderte am 28. 9. 1967. Angesichts der unnachgiebigen Forderungen der Regierung der DDR erlahmte das Interesse der Öffentlichkeit an dem Gedankenaustausch, wozu H. Wehner bemerkte, die deutsche Spaltung könne nicht durch Untätigkeit überwunden werden, weshalb er von Resignation nichts halte.
Weder die Bemühungen um einen Redneraustausch zwischen SPD und SED 1966 noch der Briefwechsel zwischen Bundeskanzler Kiesinger und Ministerpräsident Stoph 1967 führten zu sichtbaren Ergebnissen, sie erbrachten lediglich eine Darlegung der gegensätzlichen Standpunkte. Im Winter 1967/68 verlagerte sich die Diskussion auf einen diplomatischen Gedankenaustausch zwischen der SU und der BRD. Im Sommer 1968 erklärte sich die Bundesregierung bereit, Wirtschaftsgespräche auf Ministerebene zu führen. Die Gespräche waren bereits vereinbart, als die Intervention der Truppen des Warschauer Paktes in der ČSSR am 21. 8. 1968 die Lage in Mitteleuropa erneut akzentuierte. Die SED versuchte das ihr wegen der Beteiligung von Truppen der DDR entgegengebrachte Mißtrauen der Bevölkerung der DDR und auch kommunistischer Schwesterparteien dadurch abzubauen, daß sie für die eingetretene Entwicklung in der ČSSR die BRD verantwortlich machte, womit sie die Tatsache, daß erstmals nach dem Zweiten Weltkrieg deutsche Truppen in einem fremden Land als Besatzungstruppen in Erscheinung traten, zu erklären suchte.
So sehr auch die Vorgänge in der ČSSR die erwogenen und angesprochenen Kontaktnahmen erschweren, sie können deren Notwendigkeit nicht in Abrede stellen. Sie haben jedoch deutlich gemacht, daß die SED das Bemühen der BRD, die Beziehungen zu den ost- und südosteuropäischen Völkern und Staaten zu verbessern, argwöhnisch verfolgt, weil sie davon einen Abbau der gegen die BRD bestehenden Vorurteile erwartet und eine Verschlechterung ihrer Position befürchtet. Sie versucht, diesen Entwicklungen entgegenzuwirken, indem sie sich politisch, wirtschaftlich, militärisch und ideologisch an die KPdSU anschließt und die kommunistischen Parteien der ost- und südosteuropäischen Staaten zu bestimmen bestrebt ist, die Aufnahme diplomatischer [S. 647]Beziehungen zu der BRD von deren Bereitschaft, die DDR völkerrechtlich anzuerkennen, abhängig zu machen.
Die Frage der Wiederherstellung der politischen Einheit des deutschen Volkes erfuhr seit 1945 starke Wandlungen. Der entscheidende Einschnitt liegt bei 1955, bei der Integrierung der Teile Deutschlands in die sich gegenüberstehenden Militärblöcke, weshalb die Regelung der deutschen Frage spätestens seit dem Frühjahr 1955 mit der Lösung der europäischen Sicherheitsfrage und mit der von der SU und der SED geforderten Anerkennung der DDR als zweiten deutschen Staat untrennbar verbunden ist. Eine mechanische Wiederherstellung des 1945 von den Besatzungsmächten faktisch, nicht aber juristisch geteilten deutschen Staates ist nach der inzwischen eingetretenen Entwicklung nicht mehr vorstellbar. Die SED, 1946 in einem Teil des bereits in Teilung befindlichen Deutschen Reiches gegründet, nimmt gegenüber der entstandenen Situation eine entschiedene Haltung ein. Sie betont zwar die Zusammengehörigkeit des deutschen Volkes, erklärt jedoch immer wieder, daß die Wiedervereinigung Deutschlands nur auf sozialistischer Grundlage möglich sei. Sie verweigerte dem deutschen Volk das Selbstbestimmungsrecht, indem sie zwischen 1949 und 1955 die Durchführung gesamtdeutscher freier Wahlen ablehnte. Sie unterstützt vorbehaltlos die sowjetische Zwei-Staaten-Theorie. Durch die am 13. 8. 1961 vorgenommene gewaltsame Separierung erreichte sie mittels einer Zwangsidentifizierung zwischen dem von ihr vertretenen Herrschaftssystem und der Bevölkerung in Mitteldeutschland eine erkennbare Konsolidierung der DDR, deren endgültige Sicherung sie von der von ihr geforderten völkerrechtlichen Anerkennung erhofft. Indem sie durch flexible Anpassung an die Politik der KPdSU eine Interessenidentität zwischen der SU und der DDR sicherstellt, fühlt sie sich durch eine Großmacht, die in Deutschland Besatzungsmacht ist, gestützt und gedeckt. Sie erhebt den Anspruch, allein Arbeiter und Bauern in ganz Deutschland zu vertreten, behauptet, die einzige Kraft in Deutschland zu sein, die eine konsequente Politik des Friedens treibt, und fordert, zur Sicherung des Friedens müsse Deutschland nach ihren Vorstellungen umgeformt werden: „Die SED-Führung hält es für ausreichend, ihre kommunistischen Zielvorstellungen zu postulieren. Ihr kommt es nur darauf an, das zu zementieren, was sie hat“ (H. Wehner am 25. 4. 1967).
Fundstelle: A bis Z. Elfte, überarbeitete und erweiterte Auflage, Bonn 1969: S. 630–647
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