
Übersiedler (1969)
Siehe auch:
- Übersiedler: 1975
Ü. aus Westdeutschland und Rückkehrer gehörten bis zum Herbst 1966 zu den bevorzugten Themen der SED-Propaganda. Gegenüber der jahrelangen Massenflucht (Flüchtlinge), die erst durch die Sperrmaßnahmen des 13. 8. 1961 (Mauer) unterbrochen werden konnte, sollte der Anschein einer großen Fluchtbewegung aus der BRD in den „ersten deutschen Arbeiter-und-Bauern-Staat“ erweckt werden: „Während die Zahl der Personen, die im Jahre 1959 die Deutsche Demokratische Republik illegal verließen, gegenüber dem Vorjahr um weitere 38 Prozent gesunken ist, kehren immer mehr Menschen dem klerikal-militaristischen Bonner Staat den Rücken. Insgesamt fanden 63.083 Ü. aus Westdeutschland in der Deutschen Demokratischen Republik Aufnahme, das sind etwa 17 Prozent mehr als 1958. Darunter befinden sich 41.580 Rückkehrer und 21.503 westdeutsche Bürger. Als Hauptgründe für ihre Flucht aus Westdeutschland führen die Ü. an: wachsende Existenzunsicherheit durch die Krisenerscheinungen im kapitalistischen System Westdeutschlands, Ablehnung des Adenauer-Regimes mit seiner Politik der politischen Entrechtung und der atomaren Kriegsvorbereitung, insbesondere des Zwanges zum NATO-Wehrdienst sowie das wachsende Vertrauen zum Staat der Arbeiter und Bauern, der allen Werktätigen eine friedliche und gesicherte Zukunft garantiert“ („Jahrbuch der DDR“, 1960).
Außer den hier für 1959 genannten Zahlen sind keine absoluten Zahlen veröffentlicht worden. Nur die Jahrbücher 1959 und 1961 enthalten noch Auskünfte über die Ü., nennen aber keine Zahlen, sondern beschränken sich auf Prozentsätze. Weitere Zahlen sind nur durch die SED-Presse verbreitet worden. Obwohl immer wieder behauptet worden ist, daß der Strom der Ü. und Rückkehrer ständig wachse, lassen selbst die eigenen Zahlenangaben eine rückläufige Entwicklung seit 1959 erkennen. Im August 1964 wurde die Zahl von 60.000 Ü. für die drei Jahre seit Errichtung der Mauer gemeldet. Diese gegenüber den angeblich 63.000 Ü. von 1959 schon wesentlich geringere Zahl wurde noch durch die zahlreichen früheren Berichte der SED-Propaganda widerlegt, aus denen sich eine Zahl von monatlich etwa 1.000 Ü. errechnen ließ. Dieser Berechnung entsprechen die ein Jahr später für die Zeit vom 13. 8. 1964 bis 13. 8. 1965 gemeldeten 9.660 Ü. Die danach nur noch für kurze Zeiträume veröffentlichten Zahlen lassen einen erneuten Rückgang der Übersiedlung aus dem Westen auf monatlich etwa 700 Ü. (davon etwa 55 bis 60 v. H. Rückkehrer) erkennen.
Seit Oktober 1966 sind keine Angaben mehr über die Zahl der Ü. bekanntgegeben worden. Schon daraus kann mit Sicherheit auf eine weitere Abnahme der Zahl der Ü. geschlossen werden. Dafür sprechen auch die Ergebnisse westlicher Beobachtungen. Nach einer im Juni 1965 in der BRD veröffentlichten amtlichen Statistik sind von 1950 bis 1964 505.361 Personen in die „DDR“ übergesiedelt. 1963 sind von den Zollgrenzdienststellen rd. 4.700 Ü., 1966 nur noch 4.250 Fälle registriert worden. Diese Zahlen sind jedoch unsicher, da jeder Deutsche die BRD ohne Abmeldung, Genehmigung und Angabe des Reiseziels verlassen kann.
Die von der SED-Propaganda genannten politischen Motive für die Übersiedlung treffen nicht zu. Mitgliedern der ehemaligen KPD wird grundsätzlich die Umsiedlung in die „DDR“ versagt. Sie sollen in der BRD bleiben und dort die auf den Umsturz demokratischer Ordnung gerichteten Ziele des SED-Regimes unterstützen. Selbst politische Strafverfahren berechtigen den westdeutschen Kommunisten im allgemeinen nicht zur Flucht in die „DDR“, da die SED solche „Märtyrer“ für ihre Propaganda benötigt. Neben persönlich-familiären Gründen sind hauptsächlich erhebliche Schulden, drohende Strafverfolgung wegen krimineller Delikte Anlaß zur Übersiedlung in die „DDR“. Auch viele asoziale und arbeitsscheue Menschen sind unter den Ü. Das wird durch sowjetzonale Veröffentlichungen über die Kriminalität unter den Ü., die das Vierfache des „DDR“-Durchschnitts betragen soll, bestätigt. Auf die schlechten Erfahrungen mit Ü. ist es sicher zurückzuführen, daß in den letzten Jahren immer mehr Ü. in die BRD zurückgeschickt werden. Nach einem Bericht des [S. 659]Bundesgrenzschutz-Kommandos Nord sind 1967 1.430 Ü. als unerwünschte Personen über die niedersächsische Zonengrenze abgeschoben worden.
Die Ü. werden nach ihrer Ankunft drüben zunächst in eines der „Aufnahmeheime für Ü. und Rückkehrer“ in Berlin-Blankenfelde, Barby, Eisenach, Pritzier (Kreis Hagenow) oder Saasa (Kreis Eisenberg/Thür.) eingewiesen, wo sie eingehend durch den Staatssicherheitsdienst geprüft und über die Verhältnisse in der BRD ausgefragt werden. Wenn die Ü. nach Abschluß dieses im allgemeinen 4 bis 6 Wochen dauernden Verfahrens die Zuzugsgenehmigung erhalten, sind sie damit „Bürger der DDR“ geworden (Staatsbürgerschaft). Sie kommen dann in eines der in jedem Bezirk bestehenden Bezirksaufnahmeheime. Dort werden den Ü. die Wohnorte zugewiesen.
Die Enttäuschung über die politischen und wirtschaftlichen Verhältnisse in Mitteldeutschland kommt meist sehr schnell, oft schon während des Lageraufenthalts. Wie aus zahlreichen Berichten ersichtlich ist, bereuen viele Ü. ihren unüberlegten folgenschweren Schritt, den sie in völliger Unkenntnis der wirklichen Zustände in der „DDR“ unternommen haben und bemühen sich dann vergeblich um eine Rückkehr in die BRD. Nach erfolgter Aufnahme wird den Ü. wie jedem anderen „DDR“-Bürger die Ausreise verweigert.
Fluchtversuche der Ü. führen in der Regel zu Verhaftungen und Bestrafung wegen Republikflucht. Nach Strafverbüßung, oft allerdings erst nach mehrmaliger Haft, werden diese Ü. unter Aberkennung der „DDR-Staatsbürgerschaft“ im allgemeinen in die BRD abgeschoben.
Ü. können bei Bedürftigkeit vom Rat der Gemeinde ein Überbrückungsgeld bis zu 50 M und je 40 bzw. 25 M für jeden unterhaltsberechtigten Angehörigen sowie ein Darlehen von 1.000 M, bei Zuzug mit Angehörigen bis zu 4.000 M erhalten. Rückkehrer müssen alle diese Leistungen grundsätzlich zurückerstatten.
Fundstelle: A bis Z. Elfte, überarbeitete und erweiterte Auflage, Bonn 1969: S. 658–659
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