DDR von A-Z, Band 1969

 

Wiedervereinigungspolitik der SED (1969)

 

 

Siehe auch:

  • Spaltung Deutschlands: 1960
  • Spaltung und Wiedervereinigung Deutschlands: 1962 1963 1965 1966
  • Teilung Deutschlands und Wiedervereinigungspolitik: 1975 1979
  • Wiedervereinigungspolitik der SED: 1975 1979

 

Grundzüge

 

 

Die Geschichte der Teilung Deutschlands und die W. der SED lassen in deutlicher Weise die Entwicklung der weltpolitischen Lage nach der Kapitulation des Deutschen Reiches, die wachsende Entfremdung der Kriegsalliierten und das Entstehen zweier sich feindlich gegenüberstehender Blöcke erkennen, deren Berührungslinie mitten durch Deutschland verläuft. Bei der Beurteilung der Frage, ob es eine „eigene“ Deutschlandpolitik der SED gibt bzw. in welchem Maße bei ihrer Formulierung ein „Eigeninteresse“ zur Geltung kommt oder kommen kann, ist das besondere Abhängigkeitsverhältnis von DDR und UdSSR zu berücksichtigen, das seinen Ausdruck u.a. in den Verträgen vom 20. 9. 1955 und 12. 6. 1964 findet. Dabei ist ferner zu beachten, daß sowjetische Deutschlandpolitik und W. der SED sowie die Einbeziehung der DDR in RGW und Warschauer Beistandspakt und die Deutschlandpolitik der Westmächte, die Wiedervereinigungspolitik der Bundesregierung sowie die Blockbildung des Westens, insbesondere die Eingliederung der BRD in die EWG und die NATO, einander bedingen. Darüber hinaus darf nicht übersehen werden, daß die relative politische und wirtschaftliche Konsolidierung der DDR in den letzten Jahren ihr Eigengewicht innerhalb des Ostblocks erhöht hat, was zu einer verstärkten Betonung der Eigenstaatlichkeit der DDR durch die SED führte.

 

Hier ist auf eine grundsätzliche Schwierigkeit für die W. der SED hinzuweisen. Die konsequente Anwendung des Koexistenzprinzips auf die innerdeutschen Beziehungen, die starke Betonung der Existenz zweier vollständig souveräner Staaten und die Absage an eine Wiedervereinigung in „absehbarer Zeit“ stehen in gewissem [S. 711]Widerspruch zum — auch von der SED anerkannten — Fortbestand einer einheitlichen deutschen Nation. Würde auch diese Gemeinsamkeit der „beiden Staatsvölker“ in DDR und BRD von der SED geleugnet, müßte sie konsequenterweise auch den Anspruch aufgeben, politisch und propagandistisch in die BRD hineinzuwirken, will sie sich nicht dem Vorwurf der Einmischung in die inneren Angelegenheiten eines „fremden“ Staates aussetzen. Da die SED vom Fortbestand der einheitlichen deutschen Nation ausgeht und trotz Betonung der Eigenstaatlichkeit eine fortgesetzte Politik der Einwirkung gegenüber der BRD betreibt, muß in Übereinstimmung mit ihren grundsätzlichen Selbstdarstellungen festgestellt werden, daß die Wiedervereinigung unter „sozialistischen“ Bedingungen ein Hauptziel ihrer Politik ist.

 

Die einzelnen Phasen der W. der SED wandeln sich mit der Entwicklung des Ost-West-Konflikts. Nach Beendigung des Zweiten Weltkrieges führte die sowjetische Besatzungspolitik zur vollständigen politischen, wirtschaftlichen und sozialstrukturellen Umwandlung in der SBZ und leitete damit die Teilung Deutschlands ein. Der beginnende „kalte Krieg“ zeigte sich in der faktischen Beendigung der Tätigkeit des Alliierten Kontrollrates Ende 1946. In der Folgezeit scheiterten — besonders am Widerstand Frankreichs und der UdSSR — alle Versuche, die entscheidenden Bestimmungen des Potsdamer Abkommens (Errichtung zentraler gesamtdeutscher „Verwaltungsabteilungen“ und Behandlung Deutschlands als wirtschaftlicher Einheit) zu verwirklichen. Die Gründung von DDR und BRD im Jahre 1949 beendete diese Phase.

 

Der Ausbruch des Korea-Krieges und seine Auswirkungen auf das Verhältnis der Großmächte führten auch in Deutschland zu einer Vertiefung der Spaltung. Zwar hielt die SED bis 1955/56 die Errichtung einer gesamtdeutschen Regierung für wünschenswert und möglich, jedoch konnte man sich auf dem Hintergrund der umfassenden politischen, wirtschaftlichen und militärischen Einbeziehung der DDR in den Ostblock (1950 RGW, die auch militärisch und faktisch vollzogen, formal aber erst nach Eintritt der BRD in die NATO durch Aufnahme der DDR in den Warschauer Pakt sichtbar wurde) über die Legitimitätsvorstellungen und das Verfahren für die Errichtung gesamtdeutscher Organe nicht mehr einigen. In den Jahren 1955–1965 wurde bei allen Aktionen der SED die Souveränität der DDR betont und ihre „Respektierung“ gefordert. Jedoch ging es Ostberlin in erster Linie um den Abschluß zwischenstaatlicher, innerdeutscher Abkommen, die zweifellos seine Anerkennung gefördert, wenn auch nicht unbedingt völkerrechtlich besiegelt hätten. (Beispiele hierfür sind der „Konföderations“-Vorschlag und die Angebote zur Bildung gesamtdeutscher Kommissionen, die sich an der Ausarbeitung eines deutschen Friedensvertrages beteiligen sollten.)

 

Beginnend mit dem VI. Parteitag der SED 1963 und verstärkt seit 1965 (Ausweitung des Vietnam-Krieges und damit verbunden eine erneute Verschärfung des Ost-West-Konflikts) hat sich die gesamtdeutsche Politik der SED ebenfalls verhärtet. Entspannung in Mitteleuropa und Fortschritte bei der Lösung der „nationalen Frage“ haben seit 1967 für die SED die völkerrechtliche Anerkennung der DDR durch die BRD zur Voraussetzung.

 

1. Von der Kapitulation bis zur Gründung der DDR

 

 

In der „Atlantik-Charta“ (12. 8. 1941) hatten die USA und Großbritannien ihre Kriegsziele verkündet. Sie versicherten darin u.a., daß „ihre Länder keinerlei Gebiets- und sonstige Vergrößerungen erstrebten“, die „nicht mit den frei zum Ausdruck gebrachten Wünschen der betreffenden Völker übereinstimmten“. Auf der Sitzung des Interalliierten Rates in London vom 24. 9. 1941 hatte u.a. die UdSSR dieser Proklamation voll zugestimmt.

 

Ohne eine freie Willensäußerung des deutschen Volkes abzuwarten, erörterten die Alliierten auf ihren folgenden Kriegskonferenzen Pläne für eine Aufteilung Deutschlands in fünf Teile (28. 11.–1. 12. 1943 in Teheran) und einigten sich vorläufig auf eine Ausdehnung Polens von der Curzon-Linie bis zur Oder. Auf der Konferenz in Jalta (3.–11. 2. 1945) wurden, insbesondere auf Veranlassung Stalins, schließlich die „völlige Entwaffnung, Entmilitarisierung und Zerstückelung Deutschlands“, die „für den künftigen Frieden und die Sicherheit für notwendig“ erachtet wurde, [S. 712]beschlossen. Da es außer dieser Formulierung im Protokoll der Konferenz keinen förmlichen Beschluß über die Aufgliederung Deutschlands und die Art ihrer Durchführung gab, sollten diese Fragen von dem „Ausschuß für die deutsche Teilungsfrage“ (Dismemberment Committee) in London weiterberaten werden. Die UdSSR hat sich an den Beratungen dieses Komitees weitgehend uninteressiert gezeigt. Gleichzeitig einigte man sich in Potsdam, der Moskauer Reparationskommission als „Diskussionsgrundlage“ eine deutsche Wiedergutmachung von 20 Mrd. Dollar (50 v. H. an die UdSSR) zu empfehlen. Sicher haben die Frage der Reparationen und die Sorge der Sowjets, bei einer Aufteilung Deutschlands von den Industriezentren des Rheinlandes abgeschnitten zu werden, entscheidend dazu beigetragen, daß Stalin seit dem Abschluß des sowjetisch-polnischen Bündnispaktes am 21. 4. 1945 alle sowjetischen Pläne einer „Zerstückelung“ Deutschlands in Abrede stellte (Stalins Rundfunkansprachen vom 9. 5. 1945 aus Anlaß der Unterzeichnung der Kapitulationsurkunde in Reims/Karlshorst am 8. 5. 1945).

 

Das Potsdamer Protokoll legt fest, Deutschland als eine wirtschaftliche Einheit zu behandeln und, soweit „praktisch durchführbar“, die „deutsche Bevölkerung in ganz Deutschland“ gleich zu behandeln. Als Folge der hinsichtlich der deutschen Frage ergebnislosen alliierten Konferenzen der Jahre 1947 und 1948 begann in beiden Teilen Deutschlands eine Entwicklung, die 1949 zur Gründung der Bundesrepublik und der DDR führte.

 

In der SBZ schuf die SMAD am 25. 7. 1946 11 deutsche Zentralverwaltungen, deren Errichtung eine einseitige Vorwegnahme der nach dem Potsdamer Abkommen für ganz Deutschland vorgesehenen Zentralverwaltungen darstellte und insofern die Abspaltung der SBZ von den anderen Besatzungszonen verstärkte. Im Sept. und Okt. 1945 erließen die 5 Landesregierungen Verordnungen über die Durchführung der Bodenreform. Gleichzeitig begann die Enteignung, die sich zunächst nur gegen Betriebe ehemaliger Nationalsozialisten richtete.

 

Der im August 1946 von den Sowjets geschaffenen „Deutschen Verwaltung des Inneren“ wurden bereits die Polizeien aller 5 SBZ-Länder unterstellt, wodurch eine weitgehende Zentralisierung der Verwaltung der SBZ erreicht wurde. Durch SMAD-Befehl Nr. 138 vom 27. 6. 1947 wurden die 11 Zentralverwaltungen zur DWK zusammengefaßt und deren Zuständigkeit seit Februar/März 1948 erheblich ausgeweitet. Außerhalb der DWK wurden noch einige Zentralverwaltungen (für Justiz, Volksbildung, Gesundheitswesen und Inneres) eingerichtet, die formal dem ersten DWK-Präsidenten (Heinrich Rau) unterstanden. Die DWK nahm von Anfang an gewisse Funktionen einer Zentralregierung wahr. In den westlichen Zonen gab es zu dieser Zeit keine vergleichbaren zentralen deutschen Verwaltungen.

 

Das Scheitern der Münchener Ministerpräsidentenkonferenz (6.–7. 6. 1947) zeigte, daß die Westmächte einerseits damals nicht bereit waren, vor einer grundsätzlichen Einigung zwischen den Alliierten Vertreter deutscher Verwaltungsorgane über politische Fragen der Wiedervereinigung beraten zu lassen. Andererseits bewiesen SED und Sowjets durch den von ihnen erzwungenen Auszug der 5 Vertreter der SBZ, daß sie der ersten gesamtdeutschen Beratung nach dem Krieg nur unter ihren Bedingungen zuzustimmen bereit waren.

 

Sowohl die Schaffung der „Bi-Zone“ (2. 12. 1946) als auch die Gründung eines „deutschen Wirtschaftsrates“ (29. 5. 1947) und die Zusammenlegung aller 3 westlichen Zonen zur „Tri-Zone“ (Sommer 1948) hatten rein wirtschaftliche Gründe, da sich die Alliierten über die Behandlung Deutschlands als wirtschaftlicher Einheit nicht zu einigen vermochten (Viermächte-Außenministerkonferenz vom 23. 5.–20. 6. 1949 in Paris) und die Durchführung einer Währungsreform notwendig geworden war. Diese und ihre Nichtbeteiligung an der inoffiziellen Londoner Sechsmächtekonferenz (23. 2.–3. 6. 1948) nahmen die Sowjets zum Anlaß, den Alliierten Kontrollrat zu verlassen (20. 3. 1948) und gegen Berlin die Blockade (24. 6. 1948) zu verhängen. In der Tri-Zone hatte am 8. 5. 1949 der Parlamentarische Rat das Grundgesetz angenommen, das am 23. 5. 1949 in Bonn in Kraft gesetzt wurde. Der erste deutsche Bundestag wurde am 14. 8. 1949 gewählt. Am 21. 9. 1949 trat in der BRD ein Besatzungsstatut in Kraft. Andererseits „bestätigte“ der 3. Deutsche Volkskongreß der SBZ am 30. 5. 1949 die 1. Verfassung der „Deutschen Demokratischen Republik“.

 

[S. 713]Er wählte einen Deutschen Volksrat, der sich am 7. 10. 1949 zur „provisorischen Volkskammer erklärte. Die ersten Wahlen zur 1. Volkskammer (15. 10. 1950) erfolgten nach Einheitslisten der Nationalen Front. Am 10. 10. 1949 wurde die SMAD in eine Sowjetische Kontrollkommission (SKK) umgewandelt und die DDR-Regierung für Außenpolitik und Außenhandel zuständig erklärt. Die Bundesregierung hat von Anfang an die Gründung der DDR als „rechtswidrig“ bezeichnet, da keine freie Willensäußerung des deutschen Volkes stattgefunden habe.

 

Auf der New Yorker Außenministerkonferenz der drei Westmächte (18. 9. 1950) wurde dieser Standpunkt der Bundesregierung bestätigt und die Bundesregierung erstmalig offiziell für berechtigt erklärt, als einzige deutsche Regierung bis zur Wiedervereinigung für das gesamte Deutschland zu sprechen.

 

Die SED behauptete dagegen, die Westmächte hätten das Potsdamer Abkommen gebrochen, die „Bildung der Bonner Marionettenregierung“ habe den „nationalen Notstand und die Kriegsgefahr verstärkt“. Sie forderte die Schaffung einer „provisorischen Regierung des demokratischen Deutschlands“ und den Abschluß eines Friedensvertrages mit Deutschland („Neues Deutschland“ vom 5. 10. 1949).

 

2. Gesamtdeutsche Politik bis zur Gründung des Warschauer Paktes

 

 

Zur W. sagte Wilhelm Pieck, Präsident der DDR, am 10. 11. 1949 vor der Volkskammer: „Niemals wird die Spaltung Deutschlands … von der Deutschen Demokratischen Republik anerkannt werden … Es geht nicht darum, ob die westdeutsche Bundesregierung und die Regierung der Deutschen Demokratischen Republik sich gegenseitig anerkennen, sondern darum, gemeinsam oder nebeneinander den nationalen Interessen des deutschen Volkes zu dienen … wir wollen ein demokratisches, nationales und wirtschaftlich selbständiges Deutschland …“ („Dokumente zur Außenpolitik der DDR“, Bd. I, Berlin 1954, S. 15–16). In seiner Regierungserklärung vom 12. 10. 1949 bezeichnete O. Grotewohl die Gründung des „Bonner Separatstaates“ als „Vollendung der Spaltung Deutschlands“. Gleichzeitig wurde „die Wiedervereinigung aller Teile Deutschlands zu einer einheitlichen demokratischen Republik“ gefordert, deren „Rechtsgrundlage“ im Potsdamer Abkommen enthalten sei. Die im Westen beginnende Diskussion um die Schaffung einer Europäischen Verteidigungsgemeinschaft unter Einschluß der BRD und die vorerst versteckte, später offene Aufrüstung in der DDR (1952 erfolgte die Aufstellung einer Kasernierten Volkspolizei) leiteten die Phase der Einbeziehung beider Teile Deutschlands in die entstehenden Machtblöcke des Ostens und Westens ein.

 

Im folgenden zeigte es sich, daß die Regierungen in beiden Teilen Deutschlands (und die hinter ihnen stehenden Mächtegruppierungen) in der deutschen Frage auf entgegengesetzten Positionen beharrten und keine praktischen Schritte unternahmen, die zu einer Annäherung hätten führen können. Die Bundesregierung forderte stets als ersten Schritt zur Wiederherstellung der deutschen Einheit gesamtdeutsche, freie, geheime, gleiche und von den Besatzungsmächten unbeeinflußte Wahlen zu einer verfassunggebenden Nationalversammlung (so in ihrer Erklärung vom 25. 3. 1950 und in der Entschließung des deutschen Bundestages vom 14. 9. 1950 zu den bevorstehenden Volkskammerwahlen am 15. 10. 1950).

 

Die Regierung der DDR schlug in Anlehnung an die Empfehlungen der Prager Außenministerkonferenz (20.–21. 10. 1950) vor, zunächst einen „Gesamtdeutschen Konstituierenden Rat unter paritätischer Zusammensetzung aus Vertretern Ost- und Westdeutschlands“ zu bilden, der die Einsetzung einer „gesamtdeutschen souveränen demokratischen und friedliebenden provisorischen Regierung vorzubereiten, mit der Ausarbeitung eines Friedensvertrages zu beginnen und Vorbereitungen für die Durchführung gesamtdeutscher Wahlen zu treffen hätte“ (so in einer Regierungserklärung Otto Grotewohls vom 15. 9. 1950, in einem „Beschluß des Ministerrates der DDR“ vom 25. 10. 1950 und einem Brief Grotewohls an Bundeskanzler Adenauer vom 30. 11. 1950).

 

Während die Bundesregierung in einer Regierungserklärung vom 9. 3. 1951 auf der Herstellung von Voraussetzungen für die Abhaltung freier Wahlen in der DDR bestand, bezeichnete die SED ihr Wahlsystem — Einheitsliste der Kandidaten der Nationalen Front, Beteiligung der Massenorganisationen an der Kandidatenaufstellung, faktische Ausschaltung aller nicht im „Demokratischen Block“ zusammen[S. 714]geschlossenen politischen Parteien und Organisationen — als vorbildlich. Am 15. 9. 1950 modifizierte Grotewohl in einer Regierungserklärung seinen Vorschlag über die Bildung eines Gesamtdeutschen konstituierenden Rates, indem er dessen paritätischen Zusammenhang als „nicht von grundlegender Bedeutung“ bezeichnete.

 

Als der Bundestag am 27. 9. 1951 „14 Grundsätze einer neuen Wahlordnung für gesamtdeutsche Wahlen“ verabschiedete und deren internationale Kontrolle forderte, erklärte Grotewohl in einer Regierungserklärung vom 10. 10. 1951 diese Vorschläge in der Mehrzahl als „annehmbar“ und eine internationale Kontrolle als diskutabel, falls es vorher zu einer „gesamtdeutschen Beratung“ käme. Eine solche Beratung wurde aber am 16. 10. 1951 erneut von Bundeskanzler Adenauer vor dem Bundestag mit der Begründung abgelehnt, daß nur mit „denjenigen über eine Wiedervereinigung Deutschlands gesprochen werden könne, die willens seien, eine rechtsstaatliche Ordnung, eine freiheitliche Regierungsform, den Schutz der Menschenrechte und die Wahrung des Friedens vorbehaltlos anzuerkennen und zu garantieren“.

 

Auf Vorschlag der drei Westmächte verabschiedete die UN-Vollversammlung am 20. 12. 1951 (u.a. gegen die Stimmen des Sowjetblocks) eine Resolution über die Einsetzung einer UN-Kommission, die die Voraussetzung für freie Wahlen in ganz Deutschland prüfen sollte. Die Resolution wurde am 9. 1. 1952 von der Regierung der DDR als „rechtsungültig“ bezeichnet und am 23. 3. 1952 der UN-Kommission in Berlin die Einreise in die DDR verweigert.

 

Im Mittelpunkt der Auseinandersetzungen standen sowohl die Frage des Wahlmodus — wie die beiden Wahlgesetzentwürfe der Volkskammer vom 9. 1. 1952 und des Deutschen Bundestages vom 6. 2. 1952 zeigen — als auch ein Übereinkommen über die Reihenfolge der Schritte, die zur Wiedervereinigung führen sollten. So zeigt der Notenwechsel zwischen der UdSSR und den Westmächten im Jahre 1952, daß die SU nicht bereit war, freien Wahlen vor dem Abschluß eines Friedensvertrages zuzustimmen. Aus diesem Grunde lehnten die Westmächte auch den Entwurf eines Friedensvertrages und den Vorschlag zur Bildung einer „Provisorischen gesamtdeutschen Regierung“ ab, den Molotow auf der Berliner Außenministerkonferenz im Februar 1954 unterbreitete. Darüber hinaus mußte der sowjetische Vorschlag im Westen auf Ablehnung stoßen, da er als diplomatischer Schachzug gegen den geplanten Beitritt der BRD zur NATO (im Oktober 1954 auf der Londoner Neunmächtekonferenz beschlossen) gedacht war.

 

Um die Ratifizierung der Pariser Verträge durch die BRD zu verhindern, erklärte sich die UdSSR am 14. 7. 1955 bereit, „Gesamtdeutschen Wahlen“ unter internationaler Aufsicht zuzustimmen, falls sich „die Regierungen der DDR und der BRD damit einverstanden erklären“. Unter Abkehr seiner bisherigen Haltung stimmte der Ministerrat der DDR am 20. 1. 1955 einer internationalen Aufsicht über gesamtdeutsche Wahlen zu. Die Bundesregierung lehnte diesen Vorschlag am 22. 1. 1955 mit der Begründung ab, daß die UdSSR zwar einer internationalen Aufsicht von Wahlen (endlich) zugestimmt habe, diese Kontrolle sich aber nicht auf „wirkliche freie Wahlen“ erstrecken solle.

 

Am 5. 5. 1955 traten die Pariser Verträge in Kraft, das Besatzungsstatut wurde aufgehoben, und die BRD trat der WEU bei, am 9. 5. 1955 wurde sie in den Nordatlantikpakt aufgenommen. Die DDR trat dem am 14. 5. 1955 gegründeten Warschauer Pakt bei. Damit war die Einbeziehung beider Teile Deutschlands in die Militärblöcke des Ostens und Westens vollzogen, und eine neue Etappe der W. begann.

 

3. Die UdSSR lehnt Verantwortung für Wiedervereinigung ab

 

 

Schon in einer TASS-Erklärung vom 12. 7. 1955 hatte die UdSSR eine vorsichtige Schwenkung vollzogen. Sie bezeichnete nunmehr die „Gewährleistung der europäischen Sicherheit“ als „wichtigste Frage“, der gegenüber das „Verfahren der Durchführung von Wahlen“ (in Deutschland) eine „untergeordnete Frage“ sei.

 

Zwar einigten sich die Regierungschefs der vier Mächte auf der Genfer Gipfelkonferenz (17.–23. 7. 1955) in der Direktive an ihre Außenminister, die „Regelung des deutschen Problems und der Wiedervereinigung Deutschlands mittels freier Wahlen“ anzustreben. Jedoch schon auf der Rückreise von Genf nannte Chruschtschow am [S. 715]26. 7. 1955 die „mechanische Vereinigung beider Teile Deutschlands“ (durch Wahlen zu einer gesamtdeutschen Nationalversammlung) eine „unreale Sache“. Er lehnte es ab, die „deutsche Frage“ auf „Kosten der Interessen der Deutschen Demokratischen Republik zu lösen“ und einer „Beseitigung aller ihrer politischen und sozialen Errungenschaften“ und „ihrer demokratischen Umgestaltungen“ zuzustimmen. In einer Regierungserklärung vom 12. 8. 1955 schloß sich Grotewohl dem sowjetischen Standpunkt an und betonte, daß eine Wiedervereinigung „nur Schritt für Schritt auf dem Wege der Zusammenarbeit und der Annäherung der beiden deutschen Staaten herbeigeführt werden kann“ („Dokumente zur Außenpolitik der DDR“, Bd. III, Berlin 1956, S. 32). „Freie demokratische Wahlen“ würden — so Grotewohl — erst stattfinden, wenn ihre „Ausnutzung zu Aggressionszwecken“ nicht mehr möglich sei (ebenda S. 37). Konkrete Maßnahmen zur „Annäherung beider deutscher Staaten“ sah Grotewohl in der Beteiligung bei der Ausarbeitung eines Systems der kollektiven Sicherheit, in verstärkten wirtschaftlichen und kulturellen Beziehungen zwischen ihnen und einer „Verbesserung der Bedingungen für den Verkehr der Bevölkerung zwischen beiden Staaten Deutschlands“.

 

Erstmalig wurde von Grotewohl offiziell gefordert, daß die „Herrschaft der Monopolkapitalisten und Großgrundbesitzer“ in Westdeutschland gebrochen werden müsse, wenn „die friedliebenden Kräfte des deutschen Volkes“ die „realen Voraussetzungen für die Vereinigung Deutschlands“ schaffen wollten (ebenda S. 38). Ohne Zweifel hat der Vertrag zwischen der DDR und der UdSSR vom 20. 9. 1955 nach außen den Anschein der Souveränität erweckt. Soweit ihr die Führung einer selbständigen Außenpolitik gestattet wurde, hat sie im folgenden ihre Vorstellungen zur Deutschlandpolitik und zur Lösung des deutschen Problems mehrmals formuliert. Die verschiedenen Modifikationen enthielten aber stets ein feststehendes Grundmuster, indem eine Wiedervereinigung durch freie Wahlen im westlichen Sinne abgelehnt, Vereinbarungen „zwischen beiden deutschen Regierungen“ jedoch befürwortet wurden. Am 31. 12. 1957 schlug Ulbricht im „Neuen Deutschland“ im „Interesse der Wiedervereinigung der Arbeiterklasse ganz Deutschlands“ vor, zunächst eine „Annäherung“ der „zwei deutschen Staaten mit verschiedenen gesellschaftlichen Systemen“ herbeizuführen, um „später eine Zwischenlösung in Form der Konföderation zu finden“. Erst daran anschließend könnten „wirkliche demokratische Wahlen“ zu einer Nationalversammlung stattfinden.

 

4. Über eine Konföderation zur Wiedervereinigung

 

 

Was die SED unter einer „Konföderation“ versteht, hat sie mehrmals präzisiert. Am 30. 2. 1957 nannte Ulbricht zunächst die Vorbedingungen für eine „Annäherung beider deutscher Staaten“: u.a. Erweiterung des westdeutschen Betriebsverfassungsgesetzes, Beseitigung aller Vorrechte der Großgrundbesitzer, Volksabstimmung über die Überführung der Schlüsselindustrien in Volkseigentum, demokratische Boden- und Schulreform. Danach könnten die Mitglieder eines paritätisch zusammengesetzten „Gesamtdeutschen Rates“ auf der Basis der geltenden Wahlgesetze gewählt werden. Dieser Rat wäre als Regierung der Konföderation, eines Staatenbundes aus DDR und BRD, befugt, „freie gesamtdeutsche Wahlen“ vorzubereiten. Während der Diskussionen über den ersten Rapacki-Plan im Jahre 1957 erneuerte der Ministerrat am 26. 7. 1957 seinen Konföderationsvorschlag, jedoch mit der wichtigen Einschränkung, daß ein „Gesamtdeutscher Rat“ nur „beratenden Charakter“ haben sollte. Da einerseits in einer Konföderation jeder der beiden deutschen Staaten seine bestehende Form vollständig beibehalten sollte, blieb unklar, wie sich die SED die „Schaffung eines einheitlichen, demokratischen, friedliebenden und antiimperialistischen deutschen Staates“ vorstellte.

 

Am 2. 8. 1957 bekannte sich die SU zwar zur Viermächteverantwortung für Deutschland, jedoch wurde nur eine Konföderation als „ernsthafter Schritt“ auf dem Weg zur Beseitigung der deutschen Spaltung bezeichnet. Die UdSSR hat — zum wiederholten Male in einer Note vom 8. 1. 1958 an die Bundesregierung — den Plan der SED entschieden befürwortet, während die Bundesregierung eine Konföderation am 20. 1. 1958 mit der Begründung ablehnte, die Wiedervereinigung sei nicht Sache zweier Regierungen, sondern liege in der „ausschließlichen Zuständigkeit des deutschen Volkes“. Schon am 22. 1. 1958 antwortete Chruschtschow darauf in einer Rede [S. 716]in Minsk und bestritt, daß sich die UdSSR jemals zur Abhaltung freier Wahlen als erstem Schritt auf dem Weg zur Wiederherstellung der Einheit Deutschlands verpflichtet hätte. Auf dem Boden Deutschlands existierten jetzt „zwei souveräne Staaten mit unterschiedlicher Gesellschaftsordnung“, deren Aufgabe es in erster Linie sei, die „nationale Einheit Deutschlands als einheitlichen, friedliebenden demokratischen Staat wiederherzustellen“.

 

Diese sowjetische Haltung erfuhr eine weitere Versteifung, als Chruschtschow am 29. 1. 1958 in einem Interview mit Axel Springer und Hans Zehrer eine Konföderation als einzigen Weg zur Wiedervereinigung bezeichnete.

 

Worauf es jedoch der SED mit ihrem Vorschlag für eine Konföderation in erster Linie ankam, bekannte Ulbricht am 13. 2. 1958 in einem Interview mit der „Süddeutschen Zeitung“. Demnach sollte die Bildung eines Staatenbundes durch den Abschluß eines völkerrechtlich gültigen Vertrages zwischen BRD und DDR vorgenommen werden. Gleichzeitig machte er alle Schritte auf eine Wiedervereinigung hin davon abhängig, daß sich die BRD positiv zur Schaffung einer atomwaffenfreien Zone im Sinne des Rapacki-Planes äußere. Die „Vereinigung der beiden deutschen Staaten“ — so sagte Ulbricht bei dieser Gelegenheit — sei kein „einmaliger Akt, sondern ein Prozeß“. Die Bestimmung eines Zeitpunktes für „gemeinsame Wahlen“ nannte er „reine Spekulation“.

 

Die Forderung nach Bildung einer „Konföderation“ ist für die Deutschlandpolitik der SED bis Mitte der 60er Jahre kennzeichnend gewesen. Der Begriff Konföderation wird von der SED ideologisch interpretiert und als „dialektische Einheit von friedlicher Koexistenz und Selbstbestimmung“, als eine „besondere Form des Klassenkampfes zwischen Sozialismus und Kapitalismus auf deutschem Boden“ bezeichnet. In der westlichen Völkerrechtslehre wird unter Konföderation eine lockere Verbindung (Staatenbund) zwischen Völkerrechtssubjekten auf der Grundlage eines Staatsvertrages, in der die Partner ihre volle Souveränität behalten, verstanden. Im Westen wurde der Plan einer Konföderation immer mit der Begründung abgelehnt, daß eben dieser Staatsvertrag eine verschleierte Anerkennung der DDR als Völkerrechtssubjekt bedeuten würde. Die schwersten Bedenken wurden von westlicher Seite insbesondere darum erhoben, weil nach Auffassung der SED zu den Aufgaben der zu wählenden Gremien zwar die „umfassende Demokratisierung des gesellschaftspolitischen Lebens“ (in kommunistischem Sinne und in Westdeutschland) gehören sollte, aber alle Schritte zur Ausarbeitung einer „gemeinsamen Legitimitätsgrundlage“ (R. Schuster: Die Schein-Konföderation als Nahziel der sowjetischen Deutschlandpolitik, im „Europa-Archiv“, 12. Folge, 1959, S. 360) vorläufig ausgeklammert werden sollten. Da das Jahr 1958 von besonderer sowjetischer Aktivität hinsichtlich der Durchsetzung der internationalen Anerkennung der DDR charakterisiert wurde, haben die Westmächte und die BRD alle Konföderations-Vorschläge der DDR, die sie dem Ziel ihrer Anerkennung indirekt näherbringen sollte, zurückgewiesen.

 

Während in dieser Zeit die Haltung der Bundesregierung unverändert blieb und die Abhaltung freier Wahlen zur unabdingbaren Voraussetzung für Regierungsgespräche bezeichnet wurde, führte der V. Parteitag der SED (Juli 1958) zu einer weiteren Verhärtung der Deutschlandpolitik der SED. Nunmehr sollten die „sozialistischen Errungenschaften“ nicht mehr nur in der Phase des Zusammenschlusses „beider deutscher Staaten“ geschützt werden, sondern jetzt wurden sie als „für immer unantastbar“ bezeichnet. Die DDR repräsentiere den einzigen „rechtmäßigen souveränen deutschen Staat“ — bisher war von „zwei souveränen deutschen Staaten“ gesprochen worden. Da der Parteitag weiterhin offen an die „friedliebenden Kräfte“ der BRD appellierte, eine „bürgerlich demokratische Ordnung“ in der BRD (d.h. vor allem Wiederzulassung der verbotenen KPD) als Voraussetzung für eine Wiedervereinigung zu errichten und aus der NATO auszutreten, fanden die SED-Vorschläge selbst bei oppositionellen Kräften in der BRD wenig Unterstützung.

 

5. Statt Wiedervereinigung --- Abschluß eines Friedensvertrages

 

 

Bis zum VI. Parteitag 1963 weist die Deutschlandpolitik der SED einige Grundzüge auf, die in erster Linie den Abschluß eines „Friedensvertrages mit beiden deutschen Staaten“ und die Konsolidierung der DDR zum Inhalt haben.

 

Entsprechend der sowjetischen Deutschlandpolitik tritt nunmehr die Forderung [S. 717]nach Abschluß eines Friedensvertrages vor der Abhaltung von Wahlen in den Vordergrund (Note der Regierung der DDR an die Bundesregierung vom 4. 8. 1958, in der die Bildung einer gesamtdeutschen Kommission vorgeschlagen wird, die die vier Mächte bei der Ausarbeitung eines Friedensvertrages für Deutschland beraten soll). Die Frage eines deutschen Friedens Vertrages wurde akut, als Chruschtschow (so u. a. am 5. 3. 1959 in Leipzig, am 14. 1. 1960 in Moskau, am 15. 6. 1961 im Moskauer Fernsehen) und Gromyko (auf der Genfer Außenministerkonferenz am 10. 6. 1959) mit dem Abschluß eines Friedensvertrages mit der DDR allein und allen sich daraus möglicherweise ergebenden Konsequenzen drohten. Am deutlichsten kommen die Bestrebungen der SED im „Friedensplan“ zum Ausdruck, den die Volkskammer am 6. 7. 1961 (einen Monat vor Errichtung der Berliner Mauer) verabschiedete. Darin wird die Bildung einer „Deutschen Friedenskommission“ vorgeschlagen, die Verhandlungen führen, sich verständigen und deutsche Vorschläge für einen Friedensvertrag ausarbeiten soll.

 

Von besonderer Bedeutung für die Beurteilung der Deutschlandpläne der SED war, welche Interpretation Ostberlin der von Chruschtschow (seit dem XX. Parteitag der KPdSU) vertretenen Koexistenz-Konzeption geben würde und wieweit Ulbricht sie auch bei der Gestaltung der innerdeutschen Verhältnisse praktizieren würde. Sofern Koexistenz auch Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten eines nichtsozialistischen Gesellschaftssystems bedeutet, hat die SED diese Auffassung durch Betonung der „einen gesamtdeutschen Arbeiterklasse“ in ganz Deutschland und der „Aktionsgemeinschaft mit allen friedliebenden Kräften“ in der BRD zurückgewiesen.

 

„Die Anwendung des Prinzips der friedlichen Koexistenz auf das Verhältnis zwischen beiden deutschen Staaten würde bedeuten, den Klassenstandpunkt der Arbeiterklasse zu verraten. Wir betrachten auch die Beseitigung der Macht der Monopolherren und Militaristen (in Westdeutschland) nicht nur als eine Angelegenheit der Werktätigen Westdeutschlands. Deshalb hat unsere Partei auch niemals eine Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten der Bundesrepublik proklamiert“ (W. Horn: Der Kampf der SED um die Festigung der DDR und den Übergang zur zweiten Etappe der Revolution, [Ost-]Berlin 1959).

 

Dieser Konzeption entsprach der vom ZK der SED im April 1960 veröffentlichte „Deutschlandplan des Volkes — Offener Brief an die Arbeiterklasse Westdeutschlands“. Um über die Anhängerschaft der verbotenen KPD hinaus breitere Kreise in der BRD anzusprechen, forderte die SED darin „sozialdemokratische, christliche und parteilose Arbeiter, ehrliche Patrioten in Stadt und Land“ und „fortschrittliche Unternehmer“ auf, den „westdeutschen Militarismus zu beseitigen und so die Voraussetzungen für eine Konföderation beider deutscher Staaten zu schaffen“. Hier ist klar ausgesprochen, daß die SED schon zu diesem Zeitpunkt nicht nur eine grundlegende Umgestaltung der gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse in der BRD als Vorbedingung für eine Wiedervereinigung forderte, sondern daß sie selbst diese Umgestaltung aktiv zu fördern gedachte. Dabei wurde stets betont, daß die DDR der „rechtmäßige deutsche Staat“ sei und jede innerdeutsche Verständigung eine Anerkennung ihrer Souveränität voraussetze.

 

Alle diese Forderungen sind von der SED in dem am 25. 3. 1962 vom „Nationalrat der Nationalen Front“ der DDR vorgelegten Dokument „Die geschichtliche Aufgabe der DDR und die Zukunft Deutschlands“ zusammengefaßt worden. Der Gedanke der Konföderation wurde zwar beibehalten, jedoch hieß es darin bezeichnenderweise: Ob „mit oder ohne Konföderation — der Sozialismus ist auch die Zukunft Westdeutschlands“, und „der sozialistische deutsche Staat verkörpert die Zukunft der ganzen Nation“. Die Bundesregierung hat daraus gefolgert, daß von der SED trotz der von ihr seit 1960 bekundeten Kompromißbereitschaft in nationalen Fragen (erstmalig wurde von „nationalem Kompromiß“ in einem Brief W. Ulbrichts an Bundeskanzler Adenauer vom 28. 1. 1960 gesprochen) in grundsätzlichen Fragen kein Entgegenkommen zu erwarten war, sie vielmehr unverändert eine Änderung der politischen Verhältnisse in der BRD in ihrem Sinne anstrebte. Ulbricht selbst hat diese Befürchtungen teilweise bestätigt, als er am 13. 9. 1962 im „Neuen Deutschland“ erklärte, daß „die Grenzlinie in Deutschland nicht an der Elbe verläuft, [S. 718]sondern die Frontlinie mitten durch Westdeutschland geht“. Und im Rechenschaftsbericht des ZK auf dem VI. Parteitag hieß es noch, daß nur „die Vereinigung aller patriotischen Kräfte unter der Führung der Arbeiterklasse in beiden deutschen Staaten zum Erfolg der Volksbewegung in Westdeutschland“ führen würde.

 

Diese sehr weitgehende Auslegung des Koexistenzprinzips wurde von der SED erst im Anschluß an den Ausgang der Kuba-Krise im Okt. 1962 eingeschränkt und inhaltlich ganz der sowjetischen angepaßt. So sprach Ulbricht am 2. 12. 1962 in Cottbus von „Kompromissen“, die die Politik der friedlichen Koexistenz auch bei der „Lösung der nationalen Frage“ — so umschreibt die SED ihre Deutschlandpolitik und die Wiedervereinigungsfrage — erfordere. Da aber seit Anfang der 60er Jahre als „Hauptinhalt der nationalen Frage“ die „Entmachtung der westdeutschen Militaristen und Monopolkapitalisten“ bezeichnet wird, hat Ostberlin nie deutlich gemacht, in welchen Punkten es zu Kompromissen bereit sei. (Im westlichen Verständnis des Wortsinnes wäre ein Kompromiß möglich gewesen, als die Bundesregierung Anfang Januar 1963 eine Erhöhung des Swing der Warenlieferungen im Interzonenhandel um 300–400 Mill. DM anbot, wenn sich dafür Ostberlin zur Ausstellung von Passierscheinen an West-Berliner bereitfände. Auf dem VI. Parteitag hat die SED dies als „unsittliches Geschäft“ abgelehnt.)

 

6. Der VI. Parteitag --- innere Konsolidierung der DDR vor Wiedervereinigung

 

 

Entgegen der Meinung einiger westlicher Beobachter bedeutete der VI. Parteitag der SED vom 15.–21. 1. 1963 in mancher Hinsicht eine Korrektur der bisherigen Deutschlandpolitik der Partei. Es gibt eine Reihe von Anzeichen, die auf eine verstärkte Hinwendung der SED zur inneren Konsolidierung ihres Herrschaftssystems hindeuten. Dies bedeutete eine relative Abkehr von ihrer bis dahin offensiven Deutschlandpolitik. Die Proklamation des Neuen ökonomischen Systems, die verstärkten Bemühungen in den folgenden Jahren, die Herausbildung eines eigenen DDR-Staatsbewußtseins zu fördern, und die gewandelte Einschätzung der „Klassenkampfsituation“ in der BRD (siehe dazu: Imperialismus heute. Der staatsmonopolistische Kapitalismus in Westdeutschland, [Ost-]Berlin 1966) sind Kennzeichen einer vorsichtigen Umorientierung der W. der SED. So sieht sie nun „die historische Mission der DDR darin, durch eine umfassende Verwirklichung des Sozialismus im ersten deutschen Arbeiter- und Bauern-Staat die feste Grundlage dafür zu schaffen, daß in ganz Deutschland die Arbeiterklasse die Führung übernimmt“. Hierin wird also auf die Beispielwirkung eines ökonomisch und politisch gefestigten DDR-Herrschaftssystems Hoffnung gesetzt. Andererseits heißt es an gleicher Stelle: „Die günstigen Voraussetzungen für den umfassenden Aufbau des Sozialismus wie für den Übergang zum Kommunismus in der DDR werden gegeben sein, wenn in Westdeutschland Imperialismus und Militarismus überwunden sind und die beiden deutschen Staaten im Rahmen einer Konföderation in gesicherter friedlicher Koexistenz miteinander wetteifern“ (Programm der SED, „Neues Deutschland“ vom 25. 1. 1963, Sonderbeilage).

 

Damit wurden als „günstige Voraussetzungen“ für den gesellschaftlichen Fortschritt in der DDR Änderungen der innenpolitischen Verhältnisse in der BRD angesehen. Die Möglichkeit einer solchen Änderung wird seit etwa 1966 von der SED wesentlich skeptischer beurteilt als in früheren Jahren. Da nach Auffassung einzelner Gesellschaftswissenschaftler der DDR (s. Imperialismus heute) die BRD gegenwärtig die gesellschaftliche Periode des „staatsmonopolistischen Kapitalismus“ durchläuft und in dieser Epoche das Eintreten zyklischer Krisen nicht mehr mit derselben Zwangsläufigkeit erfolgt, scheinen die Hoffnungen der SED auf eine Mobilisierung der westdeutschen Arbeiterschaft geringer geworden zu sein. Zwar bedeutet ihre seit 1963 eher defensive Deutschlandpolitik nicht, daß sie auf propagandistisches Hineinwirken in die BRD (gegen „Notstandsgesetze“, für „Lauterkeit und Anstand im Staat“ (der BRD), für Verteidigung der „bürgerlich-demokratischen Rechte und Freiheiten der Arbeiter und Gewerkschaftler“) verzichten will; jedoch wurde auf dem VI. Parteitag die These von der einheitlichen „gesamtdeutschen Arbeiterklasse“, deren anerkannte Avantgarde die SED sei, vollständig aufgegeben. Eine indirekte Begründung findet sich im Rechenschaftsbericht des ZK an den VI. Parteitag, in dem es heißt, daß die „langanhaltende Nachkriegskonjunktur es der westdeutschen Groß[S. 719]bourgeoisie gestattete, Teile der Arbeiterklasse, des Kleinbürgertums und der Intelligenz ökonomisch zu korrumpieren und eine starke Arbeiteraristokratie entstehen zu lassen“. Dadurch seien bei der westdeutschen Bevölkerung „Illusionen“ über den „Charakter der kapitalistischen Gesellschaftsordnung“ entstanden.

 

Auch in anderer Weise hat sich der Schwerpunkt der SED-Argumentation seit dem VI. Parteitag verschoben. Nachdem Chruschtschow auf dem VI. Parteitag den Abschluß eines Friedensvertrages auf Grund der Existenz der Mauer zwischen Ost- und West-Berlin als nicht mehr dringend notwendig bezeichnet hatte, fehlt diese Forderung auch in der Rede, die Ulbricht am 15. 1. 1963 auf dem Parteitag hielt. Er forderte ein „Abkommen der Vernunft und des guten Willens“, das von der „Existenz zweier deutscher Staaten“ ausgehen und folgende Punkte enthalten sollte: 1) Respektierung der Existenz des anderen deutschen Staates und seiner politischen und gesellschaftlichen Ordnung. Feierlicher Verzicht auf Gewaltanwendung in jeder Form; 2) Respektierung, Fixierung und Festigung der bestehenden deutschen Grenzen; 3) Verzicht auf Erprobung, Besitz, Herstellung und Erwerb von Kernwaffen und der Verfügung über sie; 4) Verhandlungen über Abrüstung in „beiden deutschen Staaten“; 5) Gegenseitige Anerkennung von Reisepässen und Staatsbürgerschaft der DDR und BRD als Voraussetzung für eine Normalisierung des Reiseverkehrs; 6) „Herstellung normaler, sportlicher und kultureller Beziehungen zwischen den beiden deutschen Staaten“, Einstellung der Tätigkeit des Travel-Board-Büros in West-Berlin; 7) Abschluß eines Handelsvertrages zwischen der DDR und der BRD.

 

Die SED-Führung hat niemals ganz deutlich gesagt, was sie unter „Normalisierung der Beziehungen“ zur BRD oder zu West-Berlin versteht. Es blieb offen, ob sie dabei an Verhandlungen bevollmächtigter Regierungsvertreter und den Abschluß staatsrechtlicher Abkommen denkt, wie sie etwa der Freistaat Bayern zwecks Regulierung der Grundgewässer mit der Republik Österreich nach dem Grundgesetz abzuschließen berechtigt ist, oder ob sie die völkerrechtliche diplomatische Anerkennung und den Austausch von Botschaftern mit der BRD verlangt. Damit würde die DDR von der BRD als Ausland anerkannt — eine Forderung, die im Hinblick auf den klaren Auftrag des Grundgesetzes zur Wiedervereinigung von allen Bundesregierungen und dem Bundestag als indiskutabel zurückgewiesen wurde.

 

7. Abrüstungsfrage und Selbstbestimmungsrecht in der Wiedervereinigungspolitik der SED

 

 

Im Jahre 1963 erreichte die Kampagne mit Appellen, Vorschlägen und Kommuniqués an Bundesregierung und Bevölkerung der BRD „zur Entspannung und Normalisierung der beiderseitigen Beziehungen“ einen Höhepunkt (so der Appell der Regierung der DDR am 20. 6. 1963 an die westdeutsche Bevölkerung, der Vorschlag Ulbrichts zur Bildung gemeinsamer Kommissionen als Vorbereitung einer deutschen Konföderation vom 2. 7. 1963 und 21. 7. 1963).

 

Zwei Problemkreise standen dabei im Mittelpunkt der Propaganda: Abrüstung und Selbstbestimmungsrecht. Schon 1957 hatte die SED den Rapacki-Plan für eine atomwaffenfreie Zone in Mitteleuropa unterstützt. Da ein Abkommen hierüber, falls es je zustande gekommen wäre, die Unterschrift der DDR unter einen völkerrechtlich gültigen Vertrag erfordert haben würde, hätte ein solcher Plan u.a. der internationalen Anerkennung der DDR entscheidend genützt. Daß somit die Abrüstungspolitik der SED auch in ihrer Deutschlandpolitik eine Funktion hatte, zeigten auch die Passagen des Konföderationsplanes Grotewohls vom 27. 7. 1957, in denen ein Verbot der Lagerung und Herstellung von Atom-Waffen auf deutschem Boden gefordert wird, das Ausscheiden von BRD und DDR aus NATO und Warschauer Pakt und „gemeinsames oder einzelnes Ersuchen an die vier Mächte auf baldige schrittweise Zurückziehung ihrer Truppen aus ganz Deutschland“ vorgeschlagen wurden. Da im Bundestagswahlkampf von 1957 gerade die Diskussion um die Ausbildung von Bundeswehreinheiten an taktischen Atomwaffen ein umstrittenes Wahlkampfthema war, erhoffte sich die SED von ihrem Vorgehen zu diesem Zeitpunkt wenigstens propagandistischen Erfolg. Auch weitere DDR-Aktionen in der Abrüstungsfrage hatten stets eine gesamtdeutsche Stoßrichtung. In einer Denkschrift der Regierung der DDR an die XV. Tagung der UN-Vollversammlung vom 15. 9. 1960 wird der BRD „totale [S. 720]Militarisierung und atomare Aufrüstung“ vorgeworfen. „Schnellste Abrüstungsmaßnahmen“ in ganz Deutschland sollten deshalb die „Herstellung der Neutralität der beiden deutschen Staaten ermöglichen“ und die „Verständigung der beiden deutschen Staaten über ihre Wiedervereinigung“ fördern.

 

Auch der Beitritt der DDR zum Kernwaffenteststopp-Abkommen von Moskau (8. 8. 1963), der Entwurf eines Vertrages zwischen DDR und BRD über den „umfassenden Verzicht auf Kernwaffen“ vom 6. 1. 1964 und die Erklärung der DDR-Regierung an die UNO zur Nichtweiterverbreitung und zum Verbot der Anwendung von Kernwaffen (27. 10. 1966) dienten ähnlichen Zielen. Einerseits sind diese Schritte diktiert von der Solidaritätspflicht gegenüber der Abrüstungspolitik der UdSSR, andererseits bieten sie eine ständige Möglichkeit, die Stellung der BRD zur NATO einer unaufhörlichen Kritik zu unterziehen und dem westlichen Verteidigungsbündnis permanente Aggressionsabsichten gegen das „sozialistische Lager“ zu unterstellen. Indem das Schreckgespenst einer drohenden Aggression durch die „atombewaffneten westdeutschen Militaristen“ an die Wand gemalt wird, soll der Bevölkerung die Notwendigkeit einer engen Bindung an die UdSSR und die übrigen Bündnispartner des Warschauer Paktes suggeriert werden.

 

Der „Freundschafts- und Beistandspakt“ zwischen DDR und UdSSR vom 12. 6. 1964 hat in allen wesentlichen Punkten die Deutschlandpolitik der SED sanktioniert. Nunmehr wurde jedoch nicht mehr die Weigerung der Bundesregierung, mit Ostberlin in Regierungsverhandlungen als ersten Schritt zur Wiedervereinigung einzutreten, als Haupthindernis angesehen, sondern die vermeintliche, atomare Rüstung Westdeutschlands als „schwerstes Hindernis der Normalisierung der Beziehungen der deutschen Staaten“ bezeichnet. Dieses Bündnis, das in einer bis dahin einmaligen Weise die vertragliche Bindung eines Ostblockstaates an die UdSSR paraphierte, erhielt noch besondere Bedeutung dadurch, daß es die Diskussion um das Selbstbestimmungsrecht des deutschen Volkes wieder belebte.

 

Die Politik der Bundesregierung ging bisher davon aus, daß das Recht auf Selbstbestimmung ein universales Prinzip des Völkerrechts sei und nur in freien Wahlen geltend gemacht werden könne. Da diese bisher im Gegensatz zur BRD in der DDR nicht stattgefunden hätten, habe sich die Bevölkerung nicht darüber äußern können, in welcher Staatsform sie leben und wie sie ihre inneren und äußeren Lebensverhältnisse gestalten wolle. Daher habe die BRD bis zur Gewährung dieses Rechtes an die Bevölkerung der DDR die Pflicht, in außenpolitischen Angelegenheiten diese Bevölkerung mitzuvertreten. („Alleinvertretungsanmaßung“ wird diese Haltung von der DDR bezeichnet.) Von sowjetischer und mitteldeutscher Seite lagen zur Frage des Selbstbestimmungsrechts des deutschen Volkes widersprüchliche Äußerungen vor. Chruschtschow hatte am 28. 1. 1960 in einem Brief an Bundeskanzler Adenauer die Vier-Mächte-Verantwortung für die Wiedervereinigung ausdrücklich mit dem Hinweis auf das Selbstbestimmungsrecht des deutschen Volkes bestritten. „Selbstbestimmung der Völker bedeutet“, so schrieb Chruschtschow, „daß die Völker einer Nation oder eines Staates selber ihr Schicksal, das Schicksal ihres Staates bestimmen.“ Am 12. 6. 1964 äußerte Chruschtschow aus Anlaß der Unterzeichnung des Freundschaftsvertrages mit der DDR, daß das Selbstbestimmungsrecht auf die deutsche Frage nicht anwendbar sei und mithin die Wiedervereinigungsproblematik nicht berühre. Selbstbestimmungsrecht sei eher ein soziales, denn ein nationales Problem.

 

Diese Ansicht Chruschtschows stand — mindestens teilweise — im Widerspruch zu der von der SED vertretenen These, daß das Selbstbestimmungsrecht von den Deutschen in der DDR durch Errichtung des „ersten friedliebenden Staates in der deutschen Geschichte“ längst ausgeübt worden sei. In allen sozialistischen Ländern ist nach Meinung der Völkerrechtslehre der SED das Selbstbestimmungsrecht durch die politische Praxis der kommunistischen Parteien realisiert worden. Darüber hinaus wird das Selbstbestimmungsrecht den im „nationalen Befreiungskampf“ stehenden Völkern der „Dritten Welt“ zugestanden, da ihre Auseinandersetzung mit „Imperialismus und Kolonialismus“ den historischen Gesetzmäßigkeiten des Marxismus-Leninismus unterliege.

 

Somit wird stillschweigend die postulierte Universalität eines geltenden Völkerrechts[S. 721]prinzips in seiner erlaubten Anwendung auf eine konkrete gesellschaftspolitische Situation eingeschränkt. Es ist nur dann der Forderung nach Selbstbestimmung Rechnung zu tragen, wenn ihre Erfüllung dem „gesellschaftlichen Fortschritt“, d.h. der Errichtung oder Festigung eines sozialistischen oder kommunistischen Herrschaftssystems dient.

 

Jedoch mußte gerade die innerdeutsche Situation die Frage aufwerfen, wer in Deutschland dieses Selbstbestimmungsrecht zu beanspruchen hat und wie es ausgeübt werden soll. Insbesondere mußte die Völkerrechtslehre der SED versuchen zu begründen, daß dem „Volk der DDR“ ein eigenständiges, vom Volk in ganz Deutschland abgesondertes Selbstbestimmungsrecht zusteht.

 

Die Frage, was unter dem Begriff „Volk“ zu verstehen sei, hat ein führender Völkerrechtler der DDR, Prof. Dr. Rudolf Arzinger, mit der These beantwortet, daß es in Deutschland zwei „Subjekte des Selbstbestimmungsrechtes“ gebe („Deutsche Außenpolitik“, H. 8, 1964, S. 768 ff.).

 

Zu den herkömmlichen Begriffsmerkmalen (nationale, religiöse, kulturelle, sprachliche Gemeinsamkeiten) von Völkerrechtssubjekten, die ein Selbstbestimmungsrecht beanspruchen können, fügt Arzinger den „bestimmten Stand von gesellschaftlicher Entwicklung, (und) eine bestimmte ökonomische klassenmäßige Struktur“ hinzu. Er ist der Meinung, daß die Abgrenzung der Subjekte des Selbstbestimmungsrechtes nicht nur nach nationalen, sondern auch nach sozialen Gesichtspunkten erfolgen kann, und daß dementsprechend in Deutschland mit der „Bildung von zwei Staaten mit unterschiedlicher Gesellschaftsordnung“ sich auch zwei Subjekte des Selbstbestimmungsrechtes herausgebildet haben.

 

Internationale Anerkennung hat diese Auffassung weder im Westen noch im Osten gefunden. Selbst die SED bestreitet die Existenz einer einheitlichen deutschen Nation im allgemeinen nicht.

 

8. Eine DDR-„Hallstein-Doktrin“?

 

 

In den Jahren 1964/65 hat sich die Deutschlandpolitik der SED prinzipiell nicht geändert, auch wenn man zunächst im Angebot eines beschränkten Zeitungsaustausches durch Ulbricht am 25. 4. 1964 (von der Bundesregierung aus verfassungsrechtlichen Gründen am 2. 6. und 16. 7. 1964 abgelehnt) und in der Ausreisegenehmigung für Rentner am 9. 9. 1964 ein begrenztes Einlenken Ostberlins vermutete.

 

Dem stehen Maßnahmen und Erklärungen Ostberlins gegenüber, die von der BRD als Vertiefung der Spaltung verstanden werden mußten, wie: die Einführung eines zwangsweisen DM-Umtausches bei Besuchsreisen in die DDR (25. 11. 1964), die Aufforderung an die Bundesregierung (26./28. 4. 1964), 120 Mrd. DM „Schulden“ zu zahlen, die der DDR durch Reparationsleistungen und „Abwerbung“ entstanden seien, die weiteren Erschwernisse durch eine Verordnung über den „grenzüberschreitenden Binnenschiffahrtsverkehr“ vom 24. 6. 1965 und die direkte Einmischung in die inneren Angelegenheiten der BRD durch die Erklärung Ulbrichts vom 1. 8. 1965, ein Wahlsieg der CDU/CSU bei den bevorstehenden Bundestagswahlen bedeute eine „dauernde“ Blockierung der Wiedervereinigung. Verbunden mit wachsender Polemik gegen die BRD zeigte die SED in steigendem Maße eine Haltung, die von westlichen Beobachtern als „DDR-Alleinvertretungsanmaßung“ bezeichnet wurde. So sagte Ulbricht im Sept. 1965 in Moskau, daß die DDR für „das ganze friedliebende Deutschland (spreche), für alle friedliebenden Menschen, auch für diejenigen, die heute noch jenseits unserer Staatsgrenzen in der westdeutschen Bundesrepublik oder auf dem besonderen Territorium Westberlin leben“ (ND vom 24. 9. 1965).

 

Die Gründung eines „Staatssekretariats für gesamtdeutsche Fragen“ (18. 12. 1965) und die Konstituierung eines „Rates für gesamtdeutsche Fragen“ (14. 1. 1966) in Ostberlin, hatten in erster Linie eine innenpolitische Funktion. Der Bevölkerung sollte damit gezeigt werden, daß die SED die Wiedervereinigung Deutschlands als politisches Fernziel keineswegs aufgegeben hat; wann dieses Ziel, ein „sozialistisches Deutschland“, jedoch erreicht würde, machte die Partei jetzt ganz von einer innenpolitischen Veränderung in der BRD (Austritt aus der NATO, Verzicht auf Kernwaffen, Entmilitarisierung, Herrschaft der Arbeiterklasse) abhängig. Mit der Grün[S. 722]dung dieser Institutionen war jedoch auch eine Intensivierung der Propaganda gegen die BRD verbunden. Dabei wurde die seit 1964 von der SED benutzte These von den „2 Staatsvölkern“ der „beiden deutschen Nationalstaaten“ zu einer Drei-Staaten-Theorie und Drei-Völker-Theorie (unter Einschluß West-Berlins) ausgedehnt (G. Kegel im ND vom 16. 1. 1966).

 

9. Das Scheitern des Redneraustausches zwischen SED und SPD

 

 

Im Februar, März und April 1966 kam es zu einem Briefwechsel zwischen SED und SPD, den die SED begonnen hatte und in dem sie zunächst ihren bekannten Standpunkt in der Deutschlandfrage wiederholte. Die SPD hatte im 1. Antwortbrief 7 konkrete Fragen an die SED gerichtet, in denen vor allem auf Entspannung in „kleinen Schritten“ zwischen DDR und BRD gedrungen wurde. Dieser Briefwechsel zeigte zunächst, daß es innerhalb der SED-Führung Kräfte gab, deren Selbstbewußtsein so gewachsen war, daß sie sich einer gesamtdeutschen Auseinandersetzung gewachsen fühlten. Die zögernde Veröffentlichung des 1. SPD-Briefes in der DDR zeigte jedoch, daß sich die Hoffnung der SED, zwischen SPD-Führung und Mitgliedern einen Keil treiben zu können, keineswegs erfüllt hatte. Als die SED eine im März 1966 von der Arbeitsgemeinschaft der Rundfunkanstalten Deutschlands angebotene Fernsehdiskussion zwischen Vertretern der SED und SPD ablehnte, wurde deutlich, daß sie von der Leidenschaftlichkeit der besonders in der DDR in Gang gekommenen Diskussion überrascht und gleichzeitig besorgt war, eine von ihr initiierte Entwicklung könne ihrer Kontrolle entgleiten.

 

Den von der SED in ihrem zweiten Brief an „die Delegierten des Dortmunder Parteitages der SPD und alle Mitglieder und Freunde der Sozialdemokratie in Westdeutschland“ (ND vom 26. 3. 1966) unterbreiteten Vorschlag eines Redneraustausches zwischen SED und SPD hielt sie jedoch zunächst aufrecht.

 

Inhaltlich hatte sich aber an der Deutschlandpolitik der SED wenig geändert. Am 22. 4. 1966 veröffentlichte das „Neue Deutschland“ eine Rede Ulbrichts, die er am 21. 4. 1966 aus Anlaß des „20. Jahrestages der Gründung der SED“ in Ostberlin gehalten hatte. Darin wiederholte er den 6-Punkte-Plan seiner Neujahrsrede, in dem er „erste Schritte“ zur innerdeutschen Annäherung der Bundesregierung offeriert hatte: Verzicht beider Teile Deutschlands auf atomare Aufrüstung, Anerkennung der bestehenden Grenzen in Deutschland, Aufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen den Mitgliedstaaten der NATO und des Warschauer Paktes, Verhandlungen über Abrüstung in Deutschland, Verzicht auf die „Notstandsgesetzgebung“ in der BRD, Normalisierung der Beziehungen zwischen „den deutschen Staaten und ihren Bürgern“. Hinzu kam jetzt jedoch ein Katalog von Vorbedingungen für das Zustandekommen einer Konföderation. So forderte Ulbricht u. a. eine Parlamentsreform in der BRD, Mitbestimmung für die Gewerkschaften in den Betrieben, Veränderung der Machtverhältnisse in der westdeutschen Großindustrie, Enteignung des Springer-Konzerns, Bildungsreform in der BRD, Säuberung des Staatsapparates der BRD und dergleichen mehr. Erst danach könne durch eine Konföderation die „demokratische Umwälzung“ in der BRD „vollendet“ werden.

 

Der zweite offene Brief des Parteivorstandes der SPD vom 14. 4. 1966 („Frankfurter Allgemeine“ vom 16. 4. 1966) wurde zunächst vom „Neuen Deutschland“ am 30. 4. 1961 nur in stark entstellter Weise abgedruckt, der volle Wortlaut wurde erst am 29. 5. 1966 zusammen mit dem 3. offenen Brief der SED veröffentlicht. Gleichzeitig wurde auf dem 12. ZK-Plenum (27./28. 4. 1966) eine Vertagung des Redneraustausches auf Juli 1966 beschlossen.

 

Da die SED in dieser Zeit ihre öffentlichen Angriffe gegen Mitglieder des Parteivorstandes der SPD verstärkt fortsetzte und gleichzeitig Kontakte auf unterer Parteiebene forderte, liegt der Schluß nahe, daß es ihr weniger um Entspannung in Deutschland als darum ging, die vom XXIII. Parteitag der KPdSU (Febr. 1966) proklamierte „Volksfronttaktik“ auch in der innerdeutschen Auseinandersetzung zu praktizieren.

 

Am 26. 5. 1966 legten Beauftragte der SPD und SED die Termine für den Redneraustausch fest (14. 7. in Karl-Marx-Stadt und 21. 7. in Hannover). Am 29. 6. 1966 sagte die SED den Redneraustausch dann mit der Begründung ab, das vom Bundestag verabschiedete „Gesetz über eine befristete Freistellung von der deutschen Ge[S. 723]richtsbarkeit“ sei ein „völkerrechtswidriges annexionistisches Gesetz, mit dem die westdeutsche Gerichtsbarkeit willkürlich auf Territorien und Bürger anderer europäischer Staaten, vor allem der DDR, ausgedehnt werden soll“. Unter diesen Bedingungen sei eine „ordnungsgemäße Durchführung der Versammlung in Hannover“ nicht mehr gewährleistet, da sich kein Bürger der DDR einem solchen Gesetz unterwerfen könne (ND vom 30. 6. 1966). Daß das „Handschellen-Gesetz“ nur einen Vorwand für die Absage der SED darstellte, zeigte die Reisewelle von DDR-Funktionären, die im Juni und Juli 1966 die BRD besuchten (siehe „SBZ-Archiv“, Nr. 14, Juli 1966, S. 211). Offensichtlich hatten sich diejenigen Kräfte im SED-Politbüro durchgesetzt, die von Anfang an den Redneraustausch unter Hinweis auf ein zu großes Sicherheitsrisiko für die Partei verhindern wollten.

 

Angesichts der bevorstehenden Bukarester Gipfelkonferenz der Partei- und Regierungschefs des Warschauer Paktes, wollte es diese Gruppe innerhalb der SED-Führung außerdem vermeiden, durch eigene Entspannungsschritte in Deutschland ihre Argumentation von der besonderen Gefährlichkeit des „Bonner Militarismus“ zu entkräften. Die Absage des Redneraustausches deutete schon an, daß die orthodoxen Kräfte in der SED-Führung wieder die Oberhand gewonnen hatten. Zum Schwerpunkt der Deutschlandpolitik der SED wurde nun erneut der Kampf um internationale Anerkennung. So hat Ulbricht auf dem 13. ZK-Plenum vom 15. 9. 1966 deutlich gemacht, daß er die Aufnahme diplomatischer Beziehungen der BRD zu einzelnen Ostblock-Staaten ohne offiziellen Verzicht auf die „Alleinvertretungsanmaßung“ als einen Verstoß gegen die Bukarester Deklaration (Juli 1966) ansehe. In der Deutschlandfrage richtet sich die SED offenbar auf ein „längeres Nebeneinander der beiden deutschen Staaten“ ein. Der erwünschte Ausbau der wirtschaftlichen Beziehungen zur BRD wird dagegen in der vom VII. Parteitag (April 1967) proklamierten neuen Aufbauthese, der „Periode der Vollendung des Sozialismus“, stark betont.

 

10. Die Haltung der SED zur Großen Koalition

 

 

Auf die Koalitionsverhandlungen in der BRD im November 1966 hatte Ulbricht versucht, Einfluß zu nehmen. In einem Brief an den SPD-Parteivorsitzenden, Willy Brandt, hatte Ulbricht für eine SPD-FDP-Koalition in Bonn plädiert und direkte Verhandlungen zwischen Spitzengremien der SED und SPD vorgeschlagen (ND vom 30. 11. 1966). Am Tage der Vereidigung des CDU/SPD-Kabinetts in Bonn (1. 12. 1966) wurde in Ostberlin die 4. Durchführungsbestimmung zum „Paßgesetz der DDR“ veröffentlicht, die allen westdeutschen Besuchern, die die Politik der „Alleinvertretungsanmaßung“ vertreten, mit „unverzüglicher“ Ausweisung bzw. Einleitung eines Ermittlungsverfahrens droht (GBl. II, S. 855).

 

Die Deutschlandpolitik der SED im Jahre 1967 war von einer weiteren Verhärtung („Alles-oder-Nichts-Standpunkt“) gekennzeichnet. Am 5. 1. 1967 forderte das DDR-Postministerium von der Bundespost 1,4 Mrd. DM „Gebührenausgleich“ für zusätzliche Leistungen seit 1948, am 14. 1. 1967 gab ADN bekannt, daß die DDR ihre Mitarbeit im alliierten Abrechnungsbüro für den innerdeutschen Post- und Fernmeldeverkehr in Berlin einstellt.

 

Die neue Ostpolitik der Großen Koalition führte am 31. 1. 1967 zur Aufnahme diplomatischer Beziehungen zu Rumänien, ohne daß die Partner ihren Rechtsstandpunkt in der deutschen Frage vorher revidiert hätten. Die SED reagierte mit heftigen offenen und versteckten Angriffen auf das „sozialistische Bruderland“ (ND vom 27. 1. bis 3. 2. 1967). Jede Normalisierung der Beziehungen der BRD zu den osteuropäischen Staaten wurde von der vorherigen Aufnahme „zwischenstaatlicher Beziehungen“ zwischen BRD und DDR, Aufgabe der „Ausschließlichkeitsanmaßung“ der BRD, Anerkennung der bestehenden Grenzen in Europa und einer Nichtigkeitserklärung des Münchner Abkommens von Beginn an abhängig gemacht.

 

Die SED startete nun eine anti-gesamtdeutsche Kampagne, die ihre Befürchtung erkennen ließ, daß von der Ostpolitik der BRD doch Impulse ausgehen könnten, deren Wirkung ihrer eigenen Deutschlandpolitik entgegensteht. Am 2. 2. 1967 wurde das „Staatssekretariat für gesamtdeutsche Fragen“ in Staatssekretariat für westdeutsche Fragen umbenannt. Staatssekretär Joachim ➝Herrmann sagte dazu, durch „Schuld des westdeutschen Monopolkapitals und seiner Bonner Regierung“ seien [S. 724]„Begriffe wie gesamtdeutsch ihres Inhalts entleert und gegenstandslos geworden“ (ND vom 3. 2. 1967). Im „Gesetz über die Staatsbürgerschaft der DDR“ (ND vom 21. 2. 1967) wurde die seit 1913 bestehende einheitliche deutsche Staatsbürgerschaft abgeschafft und der Begriff „Staatsbürger der DDR“ eingeführt. Parallel dazu entfaltete „Neues Deutschland“ eine Leserbriefkampagne, die nicht nur die Forderung nach „Wiedervereinigung“ als „groteskes Geschwätz“ und diese „heute und in absehbarer Zeit“ als unmöglich bezeichnete (ND vom 21. 1. 1967), sondern auch gesamtdeutsches Denken auf dem Gebiet von Wissenschaft, Kultur und Kirche (ND vom 24. 1. 1967) entschieden ablehnte. Dies führte zu grotesk anmutenden Versuchen: Die SPD der BRD wurde nur noch als „SP“ vorgestellt, um den Namen „Deutschland“ aus der Diskussion zu verdrängen. Alle diese Bemühungen werden durch folgenden Satz aus dem „Neuen Deutschland“ vom 26. 3. 1967 charakterisiert: „Die souveräne sozialistische DDR gab allen Werktätigen ein deutsches Vaterland.“

 

Als letzter gesamtdeutscher Institution wurde nun auch der EKD (Evang. Kirche in Deutschland) von der SED ihre Arbeit zunehmend erschwert. Anfang April 1967 sollten in Ost- und West-Berlin die Teilsynoden der EKD tagen. Die Synodalen der DDR-Landeskirchen mußten jedoch nach Fürstenwalde in die DDR ausweichen, da ihnen die Zusammenkunft in Ostberlin untersagt wurde. Trotz heftigster Vorwürfe, insbesondere gegen den Ratsvorsitzenden, Bischof Scharf („irreale ‚Einheits‘-Euphorie“ hieß es in der „Neuen Zeit“ vom 2. 4. 1967), und großer Kommunikationsschwierigkeiten zwischen den Synoden gelang die gemeinsame Wahl eines neuen Rates der EKD.

 

Die Außenpolitik der DDR gegenüber ihren osteuropäischen Partnern ist von den Bemühungen gekennzeichnet, sich bei allen Kontaktversuchen der BRD ein Mitspracherecht zu sichern. Die „Freundschafts- und Beistandspakte“ mit Polen, der ČSSR, Ungarn und Bulgarien im Jahre 1967 betonen demzufolge alle, daß es Sicherheit in Europa nur auf der Basis der „Existenz zweier deutscher Staaten“ und des territorialen Status quo geben könne und alle Politik des „westdeutschen Revanchismus“ diese Sicherheit in Frage stelle, wenn nicht zuvor die völkerrechtliche Anerkennung durch die Bundesregierung vollzogen sei.

 

11. Die Entwicklung seit dem VII. Parteitag

 

 

Der VII. Parteitag der SED (17.–22. 4. 1967) bestätigte die allgemeine Verhärtung die in der Haltung der Partei zur deutschen Frage eingetreten war. Durch den Brief Bundeskanzler Kiesingers (vom 12. 4.) und des SPD-Parteivorstandes („Die Welt“ vom 14. 4.) an die 2.200 Delegierten sah sich Ostberlin in der Deutschlandfrage in die Defensive gedrängt; insbesondere der Brief Kiesingers, in dem ein ganzer Katalog von Entspannungsmaßnahmen aufgeführt wurde, scheint im Politbüro der SED vorübergehend Unsicherheit ausgelöst zu haben. Dies zeigte die unterschiedliche Reaktion des „Neuen Deutschland“ vom 12., 13. u. 14. 4. 1967, als einer ersten schroffen Ablehnung eine vorsichtiger formulierte Stellungnahme folgte. Die Tatsache, daß sich erstmalig ein westdeutscher Regierungschef an einen Parteitag der SED wandte, wurde als gefährliche Taktik der Beeinflussung der Delegierten und als Versuch angesehen, zwischen Parteiführung und Mitgliedern zu differenzieren. (Die SED selbst hatte diese Taktik gegenüber der SPD im Jahre 1967 betrieben.)

 

Schon bei der Vorbereitung des Parteitages hatte die Partei in einem internen Rundschreiben (FAZ vom 11. 4. 1967) den Mitgliedern der Grundorganisationen klarzumachen versucht, daß „friedliche Existenz der beiden deutschen Staaten mit der Vereinigung (nicht) in einen Topf“ geworfen werden dürfe und „Begriffe wie ‚Lösung der deutschen Frage‘ im Sinne der Vereinigung von Feuer und Wasser“ nicht anzuwenden seien.

 

Auf dem Parteitag bezeichnete Ulbricht die „Vereinigung“ Deutschlands als „nicht real“ (ND vom 18. 4. 1967). Eine „Vereinigung beider deutscher Staaten“ werde es erst im Sozialismus geben. Seine „Vorschläge für ein friedliches Nebeneinander der deutschen Staaten“ waren identisch mit den Forderungen aus der „Neujahrsbotschaft“ vom 31. 12. 1966.

 

In der „Stellungnahme des VII. Parteitages zum Brief des Parteivorstandes der westdeutschen Sozialdemokraten und zur Erklärung des westdeutschen Bundes[S. 725]kanzlers Kießinger“ (ND vom 21. 4. 1967) wurde das Maximalprogramm der SED wiederholt.

 

Daß innerdeutsche Beziehungen von der SED in immer stärkerem Maße als außenpolitische Fragen angesehen werden, dokumentiert u.a. die Umbenennung des „Ministeriums für Außenhandel und Innerdeutschen Handel“ in „Ministerium für Außenwirtschaft“ im Juli 1967. Von besonderer politischer Bedeutung war der Briefwechsel zwischen Bundeskanzler Kiesinger und dem Vorsitzenden des Ministerrates der DDR, Willi ➝Stoph. In Briefen vom 13. 6. und 28. 9. 1967 hatte Bundeskanzler Kiesinger Stoph seine Bereitschaft erklärt, wenn nötig in direkten Verhandlungen der Regierungschefs, die Stoph vorgeschlagen hatte, über menschliche Erleichterungen ungeachtet der bisherigen Rechtsstandpunkte zu verhandeln.

 

W. Stoph hatte am 10. 5. 1967 die Korrespondenz eröffnet und am 18. 9. 1967 den ersten Kiesinger-Brief beantwortet. Diesem zweiten Stoph-Brief war der „Entwurf eines Vertrages über die Herstellung und Pflege normaler Beziehungen zwischen der Deutschen Demokratischen Republik und der Bundesrepublik Deutschland“ beigefügt, der als Verhandlungsvorschläge alle alten Maximalforderungen der SED, vermehrt um einige neue, enthielt: Aufnahme normaler Beziehungen zwischen Bonn und Ostberlin, Vereinbarungen über Gewaltverzicht, Anerkennung aller bestehenden Grenzen in Europa, Herabsetzung der Rüstungsbudgets in beiden Teilen Deutschlands, Verzicht auf Stationierung, Besitz und Mitverfügung von Atomwaffen, Beteiligung beider deutscher Staaten an einer atomwaffenfreien Zone, Anerkennung West-Berlins als „selbständige politische Einheit“, Anerkennung der Nichtigkeit des Münchner Abkommens von Anbeginn, Einstellung einer „Diskriminierung“ von DDR-Bürgern im westlichen Ausland, Begleichung von „Schulden“-Rechnungen, die das DDR-Post- und Verkehrsministerium an die BRD gerichtet hatten. Ulbricht hatte am 23. 9. 1967 im „Neuen Deutschland“ erklärt, daß „Verhandlungen zwischen beiden deutschen Staaten die nationale Frage nicht lösen könnten“, sondern dadurch „nur das Verhältnis der Staaten zueinander zu normalisieren“ sei.

 

Daß die SED die Initiative zu diesem Briefwechsel ergriff, zeigt einerseits, daß sie offenbar die Gefahr einer Schwächung ihrer Position im Ostblock als Folge der Ostpolitik der Großen Koalition erkannte und deren Wirksamkeit auf das Entspannungsklima in Europa trotz ihrer Verträge mit Polen, der ČSSR, Ungarn und Bulgarien richtig einschätzte. Andererseits verriet der Briefwechsel eine Verschärfung des SED-Kurses. Nachdem Bonn nach jahrelanger Weigerung Briefe aus Ostberlin annahm, beantwortete und den immer wieder von der SED geforderten Regierungsverhandlungen auf höchster Ebene zustimmte, schlug die SED diese aus. Sie stellte nun ihrerseits eine Vorbedingung für solche Verhandlungen: Sie sollten nur auf der Grundlage ihres Maximalprogramms, d.h. in erster Linie völkerrechtliche Anerkennung der DDR durch Bonn, stattfinden. Somit wurde deutlich, wie die Worte Ulbrichts auf dem VII. Parteitag der SED zu verstehen waren: „Unter die Grenze der formellen Anerkennung und der normalen Beziehungen können wir … nicht hinuntergehen“ (ND vom 18. 4. 1967).

 

Ob damit nun endgültig die BRD von der SED als Ausland angesehen wird, blieb vorläufig offen. Als Politbüromitglied Albert ➝Norden auf einer Pressekonferenz am 18. 12. 1967 in Ostberlin indirekt diese Meinung vertrat (er beklagte sich darüber, daß die DDR von Bonn nicht als Ausland betrachtet werde) und die Aufnahme diplomatischer Beziehungen zur DDR forderte, wurde er vom „Neuen Deutschland“ umgehend korrigiert (19. 12. 1967). Es scheint, daß die SED trotz aller Bemühungen, ein „DDR-Staatsbewußtsein“ zu schaffen, gegenwärtig weder ihrer Bevölkerung eine weitgehende Absage an die Wiedervereinigung zumuten, noch dadurch ihren Anspruch auf Hineinwirken in die BRD in Frage stellen will. Mit der Begründung, daß die völkerrechtliche Anerkennung der DDR Voraussetzung für die Sicherung des Friedens in Europa sei (W. Ulbricht am 7. 10. 1967), hat sich die DDR gleichermaßen gegen den Austausch von Gewaltverzichtserklärungen zwischen der BRD und den osteuropäischen Ländern (ND vom 9. 2. 1968) wie gegen die Wiederaufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen Bonn und Belgrad gewandt.

 

Die am 9. 4. 1968 verabschiedete neue Verfassung bekennt sich zwar wieder eindeutig zur Einheit der deutschen Nation (Art. 1, Abs. 1), jedoch gibt es kein einheitliches deutsches Volk mehr, sondern neben dem Volk der BRD „das Volk der Deut[S. 726]schen Demokratischen Republik“ (Präambel). Art. 8, Abs. 2 spricht von der „Herstellung und Pflege normaler Beziehungen“ zwischen „beiden deutschen Staaten“ (gemeint sind Beziehungen auf völkerrechtlicher Basis. W. Ulbricht in einer Rundfunk- und Fernseherklärung am 13. 3. 1968). Eine „Vereinigung“ ist erst auf der „Grundlage der Demokratie und des Sozialismus“ möglich.

 

Am 21. 6. 1968 äußerte sich der Staatsrat erneut zur innerdeutschen Frage (ND vom 23. 6.). Als „Grundlage für die Normalisierung der Beziehungen“ zwischen „beiden deutschen Staaten“ schlug der Staatsrat vor, beide Staaten sollten unverzüglich den Vertrag über die Nichtweitergabe von Atomwaffen unterzeichnen und 3 völkerrechtliche Verträge über ein Verbot der Lagerung von Kernsprengköpfen auf deutschem Gebiet, über die Nichtanwendung von Gewalt in den gegenseitigen Beziehungen und über die „Anerkennung des Status quo und der bestehenden Grenzen in Europa“ abschließen.

 

Scharf wird in der Staatsratserklärung gegen die Ostpolitik der Bundesregierung polemisiert, die lediglich eine „Verführung des Ostblocks“ zum Ziele habe. In der DDR hätte die Bevölkerung bei der Volksabstimmung über die neue Verfassung freien Gebrauch ihres Selbstbestimmungsrechtes demonstriert. Freie Selbstbestimmung sei dagegen in der BRD gegenwärtig unmöglich, da die „Kraft der demokratischen Volksbewegung“ bisher noch keine politischen Veränderungen erreicht habe. Bis das geschehen sei, könne es in den Beziehungen der beiden deutschen Staaten nur ein geregeltes Nebeneinander auf der Basis völkerrechtlich gültiger Verträge geben. Am 9. 8. 1968 wiederholte Ulbricht vor der Volkskammer seine bekannten Forderungen, ohne deren Annahme die SED keiner Entspannung in Deutschland zustimme. Neu war der Vorschlag, die Volkskammer solle den Ministerrat bevollmächtigen, „wenn die Bundesregierung auf solche Vorbedingungen wie Alleinvertretungsanmaßung und Hallstein-Doktrin verzichtet und bereit ist, Verträge über den Verzicht auf Anwendung von Gewalt in den gegenseitigen Beziehungen und über die Anerkennung der Grenzen abzuschließen, einen Staatssekretär zur Vorbereitung der Verhandlungen zu bestimmen“. Neu war außerdem die bekundete Bereitschaft Ulbrichts, im Falle eines Bonner Verzichts auf das Alleinvertretungsrecht der Schaffung „bevollmächtigter Missionen“ in Bonn und Ostberlin zuzustimmen, deren Status er ausdrücklich offen ließ. (In dieser Frage ging Ulbricht auf eine Anregung des SPD-Fraktionsvorsitzenden im Bundestag, Helmut Schmidt, ein, der vorher den Austausch von „Generalbevollmächtigten“ beider deutscher Regierungen angeregt hatte.) Angesichts der weitgehenden Modifizierung des Alleinvertretungsrechtes durch die Bundesregierung (Außenminister W. Brandt am 9. 3. 1967 in Berlin: „keine Kompetenzen außerhalb des Grundgesetzes …“, „… Pflicht, uns um die gesamtdeutschen Dinge in ihrer Gesamtheit zu kümmern“) schienen sich mögliche neue Ansatzpunkte für eine innerdeutsche Entspannung zu bieten. Verstärkt wurde dieser Eindruck zunächst durch die offenbar bedingungslose Zusage, der DDR-Außenhandelsminister sei zu Gesprächen mit dem Bundeswirtschaftsminister bereit.

 

Die Beteiligung der Nationalen Volksarmee am Überfall auf die ČSSR durch Truppen des Warschauer Paktes am 20./21. 8. 1968 hat vorläufig die Aussicht auf innerdeutsche Entspannung wesentlich verringert. Maßnahmen, die das Zusammenleben der Menschen in Deutschland laufend erschweren (weitere Verminung der „Staatsgrenze West“, Einschränkungen im Reiseverkehr, Schießbefehl usw.), hat die SED bisher in keiner Weise eingeschränkt oder gar rückgängig gemacht.


 

Fundstelle: A bis Z. Elfte, überarbeitete und erweiterte Auflage, Bonn 1969: S. 710–726


 

Wiedergutmachung A, B, C, D, E, F, G, H, I, J, K, L, M, N, O, P, Q, R, S, T, U, V, W, Z Wilhelm-Pieck-Stadt Guben

 

Information

Dieser Lexikoneintrag stammt aus einer Serie von Handbüchern, die zwischen 1953 und 1985 in Westdeutschland vom Bundesministerium für gesamtdeutsche Fragen (ab 1969 Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen) herausgegeben worden sind.

Der Lexikoneintrag spiegelt den westdeutschen Forschungsstand zum Thema sowie die offiziöse bundesdeutsche Sicht auf das Thema im Erscheinungszeitraum wider.

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