Architektur (1969)
1. Allgemeine Architekturtheorie
Spezieller Teil der allgemeinen Ästhetik. Die allgemeingültige Formel für die A. ist in der klassischen Formulierung die Einheit von künstlerischer Form, Technologie und ökonomischer Funktion. Die Besonderheit der A. gegenüber den anderen Künsten beruht darin, daß sie nicht reine Kunst ist, sondern zugleich ökonomischer Faktor.
Der Begriff Sozialistischer Realismus als wahrheitsgetreue Widerspiegelung der Realität wird seltener und nur in sehr allgemeiner Formulierung gebraucht. Die Anwendung dieses Begriffes war für die A. oft unscharf. Meist bezog er sich nur auf die Widerspiegelung des Inhalts. Dieser Inhalt waren die sozialen und ökonomischen „Bedürfnisse der Gesellschaft“, denen die A. räumlich Gestalt verlieh. Die räumliche Gestaltung sollte die geschichtliche Weiterentwicklung insofern enthalten, als sie schon den Bedürfnissen der künftigen Gestalt der Gesellschaft entsprechen sollte. Ein zweites Moment, das auch unter den Begriff des sozialistischen Realismus gefaßt wird, sind die durch die A. vermittelten Erlebnisinhalte, die entsprechend dem Charakter des Sozialismus Optimismus, Schönheit usw. darstellen sollten. Die Beurteilung der äußeren Form unterlag einem bedeutenden Wandel. Abgelehnt wurde der Formalismus. Allerdings unterlag dieser Begriff selbst einem Wandel.
Für den Städtebau gelten dieselben Grundsätze wie für die A. Das entscheidend Neue gegenüber dem Städtebau der kapitalistischen Gesellschaft ist, daß dank der Vergesellschaftung des Bodens eine einheitliche, ökonomisch-rationale und künstlerische Formgebung möglich ist. Die Stadt oder das städtebauliche Ensemble haben gegenüber den Einzelgebäuden Priorität im Sinne einer gestalteten Einheit. Das Schwergewicht in ästhetischer Hinsicht liegt auf dem Stadtzentrum. Es wird als der Ort gesehen, wo in einer Konzentration der gesellschaftlichen Funktionen die Gesellschaft sich selbst darstellt. Im DDR-Maßstab gilt dies vor allem für das Zentrum von Ost-Berlin.
2. Geschichtliche Entwicklung
In der Geschichte der DDR-A. lassen sich zwei Hauptstränge der Diskussion verfolgen, die Diskussion und Kritik der ökonomisch-bautechnischen und die der ästhetischen Entwicklung. Beide Hauptstränge der Diskussion hatten zu verschie[S. 46]denen Zeiten unterschiedliches Gewicht und wurden auch in internen Auseinandersetzungen gegeneinander ausgespielt. Im ganzen lassen sich etwa drei, allerdings zeitlich nicht exakt abzugrenzende Perioden unterscheiden: a) Die Zeit der „nationalen“ A. bis kurz nach der Kritik Chruschtschows an der A. auf dem XX. Parteitag der KPdSU. — b) Eine Zeit des Umbruchs bis zur Ablösung Kurt Liebknechts von der Präsidentschaft der Deutschen Bauakademie (DBA) und der Umfunktionierung der DBA 1960/1961. — c) Von da an, im Zuge des NÖS, eine stärkere Betonung der ökonomischen Funktion und ab etwa 1963 zusätzlich eine Forderung nach exakt meßbaren Wirkungen der A. anhand von Soziologie, Psychologie usw.
Zu a) Die erste Zeit stand unter dem starken Einfluß der sowjetischen A. Unter der Formel, daß historische Entwicklung keine Zäsuren kennt, sondern ein Kampf zwischen fortschrittlichen und reaktionären Kräften ist, wobei sich im Laufe der Geschichte das Wissen um das ästhetisch Richtige anreichert, sollte die A.-Geschichte nach den fortschrittlichen Formen aufgearbeitet werden. Hinzu kam die These Stalins aus seinem Werk „Der Marxismus und die Frage der Sprachwissenschaft“, daß der Überbau eine relative Eigenständigkeit hat. Nationale Traditionen sollten sich also in den Formen ausdrücken. Der neue sozialistische Inhalt bezog sich auf die Aufgabe der A. in der sozialistischen Gesellschaft. Er sollte sich auch auf die Organisierung des Raumes auswirken. Daher die gängige Formel jener Zeit: „sozialistischer Inhalt — nationale Form.“ Die nationalen Formen sollten sich an Hand des nicht-antagonistischen Inhalts zu einer neuen Einheit zusammenfügen und die Kraft, Lebensfreude usw. der neuen Gesellschaft künden. Wichtiges Beispiel für diese A.: die Stalinallee, jetzt Karl-Marx-Allee (erster Abschnitt) und der Strausberger Platz in Berlin. Im Westen, später auch in der DDR, wurde dieser A., die lange Zeit auch in der UdSSR und anderen sozialistischen Staaten verbreitet war, Eklektizismus vorgeworfen.
Die Formen der neueren westlichen A. unterlagen in jener Zeit einer heftigen Kritik. Die Tatsache, daß nationale und regionale Unterschiede nicht mehr sichtbar waren, wurde dem zunehmenden ideologischen Einfluß des Imperialismus, vor allem des amerikanischen, zugeschrieben. Der Vorwurf des Funktionalismus wurde erhoben, der besagte, daß in der reinen Funktion der Gebäude ästhetische Kategorien, wie Schönheit, pervertiert bzw. vernachlässigt wurden. Hauptvertreter dieser Richtung waren der Präsident der DBA, Kurt Liebknecht, und die Architekten Hermann Henselmann, Richard Paulick, Edmund Collein, Hans Hopp u. a.
Zu b) Der Hauptakzent der A.-Diskussion in den folgenden Jahren lag auf der wirtschaftlichen Funktion der A. Dabei ging es zunächst um eine Reform des Bauwesens. Gefordert wurde: 1. Die Industrialisierung des Bauens, d.h. das Bauwesen sollte seinen handwerklichen Charakter auf den Baustellen verlieren, indem größere Elemente in Industriebetrieben vorgefertigt und auf den Baustellen nur noch montiert werden sollten. 2. Die Schaffung allgemeingültiger Einheiten, ein begrenztes Typensortiment, vorgefertigte Teile. Zunächst wurden sogar Typenwohnungen entworfen, eine Konzeption, die etwa 1963 wieder fallengelassen worden ist. Durch die Industrialisierung und Typisierung hoffte man, Baupreise und Bauzeit senken zu können und das gegenüber anderen Branchen rückständige Bauwesen sanieren zu können. Diese Entwicklungsphase hob auf der 1. Baukonferenz 1955 mit dem Entschluß an, sich die Entwicklung industrialisierter Baumethoden als Hauptaufgabe zu setzen. 1957 begann der Bau von Hoyerswerda, der ersten Stadt, die fast ausschließlich aus vorgefertigten Elementen montiert wurde. 1960 waren bereits 29 v. H. aller neuen Wohnbauten industriell gefertigt.
Die ästhetische Kritik jener Zeit richtete sich entsprechend der Kritik Chruschtschows vor allem gegen teure, überflüssige Verzierungen. Der neue Akzent in der DDR führte im Unterschied zu anderen sozialistischen Staaten nicht sofort und nicht so intensiv zur Übernahme westlicher Formen. Der Fortfall dekorativer Außenelemente und die Anwendung von Plattenbau- oder Skelettbauweise hatte zunächst wirtschaftliche Gründe.
Eine andere Konsequenz dieser Bauweise war eine Neudefinition der Rolle des Architekten. Der Architekt sollte nicht mehr der vereinzelt schaffende Künstler sein, sondern seine Rolle innerhalb eines Kollektivs von Ingenieuren, Ökonomen usw. verstehen.
[S. 47]Zu c) 1961 wurde die DBA umgebildet. Sie sollte von einem vor allem für die künstlerischen und industriellen Formen zuständigen Fachorgan zur zentralen Institution für die Grundlagenforschung, für die Entwicklung des „einheitlichen Baukastensystems“ und für die Koordinierung der angewandten Bauforschung und Typenentwicklung der gesamten DDR werden. 1963 wurde Kurt Liebknecht von der Präsidentschaft der Akademie abberufen.
Parallel zu der Verfachlichung bildete sich innerhalb der DBA und dem Bund Deutscher Architekten eine Gegenbewegung, die den ästhetischen Rückstand der DDR gegenüber anderen sozialistischen Ländern kritisierte, die Monotonie der neuen Wohngebäude angriff und die Einflußlosigkeit einer jüngeren Architektengeneration beanstandete. Diese Richtung wurde durch Hermann Henselmann, die Zeitschrift „Deutsche Architektur“ und eine Reihe jüngerer Architekten vertreten. Auf der 7. (geschlossenen) Plenartagung 1963 der DBA wurde diese Bewegung angegriffen. Obwohl ihre führenden Vertreter Selbstkritik übten, ist die Kritik an der Monotonie bis heute nicht verstummt. Zunehmend wandelte sich die Bewertung des Bauhauses und des Funktionalismusbegriffs. Neben der politisch günstigeren Einschätzung betonte man vor allem die Bedeutung des Bauhauses für die Entwicklung der Typenbauweise (vor allem Hans Schmidt). Eine positive Einschätzung des Verhältnisses von Funktion, Konstruktion und Schönheit ermöglichte es dann auch, das Baukastensystem in die ästhetische Diskussion zu integrieren.
Seit der 4. Baukonferenz 1966 lag der Hauptakzent dieser Richtung in der zweiten Etappe des NÖS auf Rationalisierung und Rekonstruktion. Man forderte unter anderem eine bewußte Anwendung der „ökonomischen Gesetze des Sozialismus“ bei der Industrialisierung, eine umfassende Rationalisierung vorhandener Bauweisen und -verfahren, die Entwicklung und Einbeziehung neuer Konstruktionen, Baustoffe und Verfahren. Ferner forderte man die Weiterentwicklung des Baukastensystems, das bis heute noch nicht den Vorstellungen der Bauplaner entspricht. Seit 1966 verstärkte sich auch die Kritik an der Konzentration auf die wirtschaftliche Funktion der A. Die Aufmerksamkeit wandte sich zunehmend der Frage nach dem „sozialistischen“ und ästhetischen Charakter der A. zu. Dies geschah im wesentlichen in zwei Richtungen: a) Seit Ende 1966 wird versucht, das alte Postulat der Einheit von Bauwerk und bildender Kunst zu konkretisieren. Im Gegensatz zur A. der fünfziger Jahre und auch später (vgl. Haus des Lehrers, Alexanderplatz — Architekt Hermann Henselmann) soll die Kunst nicht mehr bloße Dekoration vorentworfener Gebäude sein. Die bildende Kunst soll schon in den Prozeß der Projektierung von Bauwerken einbezogen werden. Architekten, bildende Künstler, Ökonomen, Ingenieure usw. sollen ein einheitliches Kollektiv bilden. Durch die Einheit von A. und bildender Kunst werde die A. selbst zur Kunst. Entsprechend diesen Forderungen wurden seit Ende 1966 Verträge zwischen dem Verband Bildender Künstler Deutschlands (VBKD), BDA und DBA geschlossen, die solche Kollektive anleiten und einen neuen Ausbildungsplan sowohl bei den bildenden Künstlern als auch bei den Architekten ausarbeiten sollen. Zur Koordinierung und Anleitung dieser Tätigkeit besteht seit Nov. 1967 eine gemeinsame „zentrale Arbeitsgruppe“ des BDA und des VBKD, die Vorschläge zu Gesetzen und zur Forschung macht, die öffentliche und fachliche Diskussion bestimmt und in den entscheidenden Gremien Einfluß ausüben soll.
b) Auf der anderen Seite wird die Betonung des emotionalen Elements fortgeführt. Die Formen sollen gesellschaftliche Verhältnisse erlebbar machen. Dies ist die spezielle Form des sozialistischen Realismus in der A. Im Unterschied zu den fünfziger Jahren liegen in dieser Konzeption allerdings noch keine ästhetisch-formellen Forderungen, sondern durch Soziologie, Psychologie, Semiotik, Kybernetik usw. sollen Wirkungen wie auch in der Ästhetik wissenschaftlich erfaßt werden (F. Staufenbiel, H. Henselmann, H. Schmidt). Die letzte Konsequenz einer solchen Entwicklung wäre eine A.-Theorie, die den gesamten Komplex der gesellschaftlichen Bedingungen und die Kenntnis über mehr oder weniger lang wirkende objektive Gesetzmäßigkeiten der A. und des architektonischen Schaffens vermittelt und in die Praxis umsetzbar macht.
Die wichtigsten Institutionen: Für die Schaffung der A.-Theorie sind zuständig vor allem das Institut für Städtebau und A. der Deutschen Bauakademie (Dir. Ule Lammert, wiss. Dir. Hermann Henselmann, Bernhard Herholdt, stellv. Dir. Hans [S. 48]Gericke); die Abt. Städtebau im Ministerium für Bauwesen (Ltr. Kurt Leucht); die Abt. Kulturtheorie am Institut für Gesellschaftswissenschaften des ZK der SED (Ltr. Fred Staufenbiel).
Die Ausbildungsstätten der Architekten sind: Die Hochschule für A. und Bauwesen Weimar (Rektor: Horst Matzke), die Technische Universität Dresden, vor allem das Institut für Städtebau (Dir. Georg Funk).
Fundstelle: A bis Z. Elfte, überarbeitete und erweiterte Auflage, Bonn 1969: S. 45–48