DDR von A-Z, Band 1969

Gerichtsverfassung (1969)

 

 

Siehe auch die Jahre 1953 1954 1956 1958 1959 1960 1962 1963 1965 1966 1975 1979 1985


 

Die G. blieb 1945 zunächst in der herkömmlichen Weise geregelt: ein Oberstes Gericht fehlte bis 1948 (das Reichsgericht war 1945 von den Besatzungsmächten geschlossen worden). Durch VO vom 28. 8. 1952 (GBl. S. 791) wurde die Gerichtsorganisation der durch die sog. Verwaltungsneugliederung geschaffenen Bezirks- und Kreiseinteilung angeglichen und zugleich das Rechtsmittel der Revision beseitigt. Mit dem am 15. 10. 1952 in Kraft getretenen „Gesetz über die Verfassung der Gerichte der DDR (G.-Gesetz)“ (GVG) vom 2. 10. 1952 (GBl. S. 985) wurde das seit 1879 in Deutschland geltende G.-Gesetz außer Kraft gesetzt. Durch das Gesetz zur Änderung und Ergänzung des G.-Gesetzes vom 1. 10. 1959 (GBl. I, S. 753) und durch das Gesetz über die Wahl der Richter vom gleichen Tage wurden Teile des GVG entscheidend verändert. Mit dem „Erlaß über die grundsätzlichen Aufgaben und die Arbeitsweise der Organe der Rechtspflege“ vom 4. 4. 1963 (GBl. I, S. 21) leitete der Staatsrat eine weitere Justizreform ein, in der eine deutliche Angleichung des Rechtswesens an das sowjet. Vorbild erkennbar wird. Die G. wurde durch Gesetz vom 17. 4. 1963 (GBl. I, S. 45) erneut verändert. In der Präambel dieses neuen Gesetzes wird hervorgehoben, daß das Recht keine anderen Ziele verfolge und keine anderen Gesetzmäßigkeiten kenne als die sozialistische Gesellschaftsordnung selbst. Da sich die Verbundenheit der Bürger mit dem sozialistischen Recht immer mehr festige, werde auch eine engere Verbindung der Rechtspflege mit dem Volk und den Aufgaben des umfassenden sozialistischen Aufbaus erforderlich.

 

Die Rechtsprechung wird ausgeübt durch Kreisgerichte, Bezirksgerichte und das Oberste Gericht und soll „der Lösung der politischen, ökonomischen und kulturellen Aufgaben des Arbeiter-und-Bauern-Staates beim umfassenden Aufbau des Sozialismus, der planmäßigen Entwicklung der Produktivkräfte und der Festigung der sozialistischen Produktionsverhältnisse“ dienen (§ 2 GVG). Die Urteile ergehen „im Namen des Volkes“. Die Richter sollen „in ihrer Rechtsprechung unabhängig und nur der Verfassung und dem Gesetz unterworfen“ sein (§ 1 GVG und Art. 96 der Verfassung); tatsächlich ist jedoch weder die persönliche noch die sachliche Unabhängigkeit der Richter gewährleistet. Die Verhandlungen sind grundsätzlich öffentlich; die Öffentlichkeit der Gerichtsverhandlung kann ausgeschlossen werden. Ausnahmegerichte sind unstatthaft; dagegen können Gerichte für bestimmte Sachgebiete (Sondergerichte) errichtet werden. Die Gerichtssprache ist Deutsch (in der Lausitz kann in sorbischer Sprache verhandelt werden; Sorben).

 

Oberstes Gericht (OG): Als Oberstes Gericht besteht das durch Gesetz vom 8. 12. 1949 (GBl. S. 111) errichtete OG mit dem Sitz in Ostberlin, das von einem Präsidenten (Dr. Toeplitz) geleitet wird. Das OG leitet die Rechtsprechung der Gerichte, es sichert die einheitliche und richtige Gesetzesanwendung durch alle Gerichte (§ 11, Abs. 2 GVG). Mit der Bestimmung, daß das OG „der Volkskammer und zwischen ihren Tagungen dem Staatsrat verantwortlich“ ist (§ 11, Abs. 3 GVG), wurde das Prinzip des Demokratischen Zentralismus auch in der Rechtsprechung durchgesetzt. Damit wurde der Staatsrat, an seiner Spitze Ulbricht, oberster Gerichtsherr.

 

Die Organe des OG sind das Plenum, das Präsidium, die Kollegien für Straf-, Militärstraf-, Zivil-, Familien- und Arbeitsrechtssachen, die bei den Kollegien gebildeten Senate und die beim Präsidium gebildete Inspektionsgruppe. Dem Plenum gehören der Präsident, der Vizepräsident, die Vorsitzenden der Kollegien, alle Oberrichter, Richter und Hilfsrichter des OG, die Direktoren der Bezirksgerichte und die Leiter der Militärobergerichte an. Mitglieder des Präsidiums sind der Präsident, der Vizepräsident, die Vorsitzenden der Kollegien, der Leiter der Inspektionsgruppe, zwei Richter aus dem Kollegium für Strafsachen und zwei Richter aus dem Kollegium für Zivil-, Familien- und Arbeitsrechtssachen. Die Mitglieder des Präsidiums werden auf Vorschlag des Präsidenten des OG vom Staatsrat berufen. Die Rechtsprechung liegt in Händen der Senate, die mit einem Oberrichter als Vorsitzendem und zwei beisitzenden Richtern besetzt sind. In Arbeitsrechtssachen entscheidet der zuständige Senat mit einem Oberrichter, einem weiteren Richter und drei Schöffen.

 

Plenum und Präsidium können zur Leitung der Rechtsprechung Richtlinien und Beschlüsse erlassen, die für alle Gerichte verbindlich sind. Anträge auf Erlaß solcher Richtlinien und Beschlüsse können der OG-Präsident, der Generalstaatsanwalt und der Minister der Justiz stellen; der Staatsrat kann dem Plenum des OG den Erlaß von Richtlinien und Beschlüssen empfehlen. Das Plenum, an dessen Tagungen ein Mitglied des Staatsrats, der Generalstaatsanwalt, der Minister der Justiz und ein Vertreter des Bundesvorstandes des FDGB teilnehmen, ist beschlußfähig, wenn mindestens zwei Drittel seiner Mitglieder anwesend sind. Die von einem Oberrichter geleitete Inspektionsgruppe soll Plenum und Präsidium in ihrer Leitungsfunktion unterstützen.

 

In der Rechtsprechung ist das OG zuständig: 1. in erster und letzter Instanz für Strafsachen, in denen der Generalstaatsanwalt wegen ihrer überragenden Bedeutung Anklage vor dem OG erhebt; 2. in zweiter Instanz für die mit einem Rechtsmittel angefochtenen erstinstanzlichen Entscheidungen der Bezirksgerichte und Militärobergerichte und für die Entscheidung über die Berufung in bestimmten Patentsachen; 3. als Kassationsgericht (Kassation) in Straf-, Militärstraf-, Zivil-, Familien- und Arbeitsrechtssachen. Auf Antrag des Ministerrates hat das Präsidium des OG Rechtsgutachten zu Fragen des Straf-, Zivil-, Familien-, Arbeits- und Prozeßrechts zu erstatten.

 

Bezirksgericht (BG): In jedem Bezirk besteht ein BG, das von einem Direktor ge[S. 240]leitet wird. Das BG ist das oberste Organ der Rechtsprechung im Bezirk. Es leitet die Tätigkeit der Kreisgerichte und ist dem OG für seine Rechtsprechung und die Leitung der Rechtsprechung der Kreisgerichte verantwortlich. Das höchste Organ des BG ist das Plenum, dem der Direktor, seine Stellvertreter, alle Oberrichter und Richter des BG und drei bis zehn Direktoren von Kreisgerichten im Bezirk angehören. Es hat u.a. Beschlüsse zur Anleitung der Senate des BG und der Kreisgerichte bei der einheitlichen und richtigen Gesetzesanwendung zu fassen. Als kollektives Organ des BG zur Organisierung seiner Tätigkeit fungiert das Präsidium, dem der Direktor des BG, seine Stellvertreter und die Oberrichter angehören. Beim Präsidium wird eine Inspektionsgruppe gebildet, deren Tätigkeit sich nach den Anordnungen des Präsidiums richtet.

 

Die Rechtsprechung des BG in Straf-, Zivil-, Familien- und Arbeitsrechtssachen liegt in den Händen der Senate. Diese sind in der ersten Instanz mit einem Oberrichter oder Richter als Vorsitzendem und zwei Schöffen, in der zweiten Instanz mit einem Oberrichter als Vorsitzendem und zwei weiteren Richtern besetzt. Das BG ist zuständig: 1. als Gericht erster Instanz a) in Strafsachen für die Entscheidung über Verbrechen gegen die Souveränität der „DDR“, den Frieden, die Menschlichkeit und die Menschenrechte, Staatsverbrechen, vorsätzliche Tötungsverbrechen, schwerere Verbrechen gegen die Volkswirtschaft und alle anderen Strafsachen, in denen die Anklage durch den Staatsanwalt vor dem BG erhoben wird, b) in Zivil-, Familien- und Arbeitsrechtssachen für die Entscheidung über Streitigkeiten, in denen wegen der Bedeutung, Folgen oder Zusammenhänge der Sache der Staatsanwalt des Bezirks die Verhandlung vor dem BG beantragt oder der BG-Direktor die Sache an das BG heranzieht; 2. in zweiter Instanz für die mit einem Rechtsmittel angefochtenen Entscheidungen der Kreisgerichte in Straf-, Zivil-, Familien- und Arbeitsrechtssachen; 1. als Kassationsgericht für die Kassation rechtskräftiger Entscheidungen der Kreisgerichte.

 

Kreisgericht (KrG): In jedem Kreis besteht ein KrG, das von einem Direktor geleitet wird und in Kammern für Straf-, Zivil-, Familien- und Arbeitsrechtssachen gegliedert ist. Die Kammern sind mit einem Richter als Vorsitzendem und zwei Schöffen besetzt. Das KrG ist zuständig 1. für alle Straf-, Zivil-, Familien- und Arbeitsrechtssachen, soweit nicht die Zuständigkeit des BG oder des OG begründet ist. Es gehören also grundsätzlich alle Zivilsachen in erster Instanz vor das KrG; 2. für Entscheidungen über den Einspruch gegen eine Entscheidung der Konfliktkommission oder Schiedskommission; 3. für die Entscheidung über die Beschwerde gegen eine Entscheidung des Staatlichen Notariats oder eines Einzelnotars; 4. für die Verhandlung über den Antrag auf gerichtliche Entscheidung gegen eine polizeiliche Strafverfügung wegen einer Verfehlung. — Bei jedem KrG besteht eine Rechtsauskunftsstelle zur Beratung der Bevölkerung und ist mindestens ein Gerichtsvollzieher angestellt. An die Stelle des früheren Urkundsbeamten der Geschäftsstelle ist bei jedem Gericht der Sekretär des Gerichts getreten. Die Bezeichnung „Rechtspfleger“ gibt es nicht.

 

Der Sekretär des Gerichts leitet die Geschäftsstelle und übt im Rahmen der Zwangsvollstreckung einige richterliche Funktionen aus.

 

In Ostberlin besteht eine eigene Gerichtsorganisation seit der Aufhebung des Kammergerichts im Herbst 1961 nicht mehr. In jedem der 8 Stadtbezirke gibt es ein Stadtbezirksgericht (Zuständigkeit wie Kreisgericht). Mit der Zuständigkeit eines Bezirksgerichts ausgestattet ist das Stadtgericht. Über Rechtsmittel und Kassationsanträge gegen dessen Entscheidungen entscheidet seit der Aufhebung des Kammergerichts das Oberste Gericht. (Rechtswesen)

 

Literaturangaben

  • : Fragen der Gerichtsverfassung im Ostblock. (Studien des Instituts für Ostrecht, München, Bd. 2) (Sammelband). Berlin 1958, Verlag für internationalen Kulturaustausch. 92 S.
  • Rosenthal, Walther: Die Justiz in der sowjetischen Besatzungszone Deutschlands — Aufgaben, Methoden und Aufbau. (BB) 1962. 175 S.

 

Fundstelle: A bis Z. Elfte, überarbeitete und erweiterte Auflage, Bonn 1969: S. 239–240


 

Information

Dieser Lexikoneintrag stammt aus einer Serie von Handbüchern, die zwischen 1953 und 1985 in Westdeutschland vom Bundesministerium für gesamtdeutsche Fragen (ab 1969 Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen) herausgegeben worden sind.

Der Lexikoneintrag spiegelt den westdeutschen Forschungsstand zum Thema sowie die offiziöse bundesdeutsche Sicht auf das Thema im Erscheinungszeitraum wider.

Ausführliche Informationen zu den Handbüchern finden Sie hier.