DDR von A-Z, Band 1969

Infiltration (1969)

 

 

Siehe auch die Jahre 1953 1954 1956 1958 1959 1960 1962 1963 1965 1966 1975 1979 1985


 

Die kommun. Taktik, auf verhüllte Weise Personen, Propaganda, Agitation und Gerüchte einzuschleusen. Die I. soll die nichtkommun. Einrichtungen, Organisationen und Gedanken nicht zerstören, sondern beeinflussen und verändern. Die nichtkommun. Kräfte sollen zur Duldung oder gar Unterstützung der kommun. Zielsetzung gebracht werden.

 

Durch I. soll eine innere Zersetzung der bestehenden Ordnung der nichtkommun. Länder bewirkt werden. Zugleich soll eine wirksame Abwehr gegen den Kommunismus untergraben werden. Anders als laute, offene Propaganda ist sie gefährlich durch ihre unmerkliche, auf die Dauer zersetzende Wirkung. Das Ziel der vielfältigen I.-Methoden sind alle Personenkreise, bei denen Unzufriedenheit mit den parlamentarisch-demokratischen Einrichtungen oder Ablehnung bewaffneter Verteidigung (Pazifismus) angenommen wird. Während durch personelle I. kommun. Vertrauensleute in wichtige Stellungen des gesamten öffentlichen Lebens eingeschleust werden sollen, will die geistige I. durch Ausstreuen von Zwecknachrichten im Westen ein Gefühl der Unsicherheit und Schwäche verbreiten. Zugleich will sie durch Verbreiten kommun. Vorschläge zur Außen- und Innenpolitik den Verteidigungswillen gegen den Kommunismus lähmen.

 

1. Tarnorganisationen

 

 

Ein weitverbreitetes Instrument der I. sind Tarnorganisationen, d.h. Organisationen unter kommun. Leitung, die bes. außerhalb des kommun. Machtbereiches nichtkommun. und politisch unentschiedene Kreise beeinflussen, kommun. Gedanken verbreiten und Aktionen gegen die gesellschaftliche und politische Ordnung der freien Welt vorbereiten. T. arbeiten oft mit scheinbar harmlosen Aushängeschildern wie „gesamtdeutsche Gespräche“, „Friedensaktionen“, „Kampf dem Atomtod“, „Krankenhäuser statt Kasernen“.

 

Es gibt T. im Weltmaßstab mit Mitgliederzahlen, die z. T. in die Millionen gehen: WGB, WBDJ, Weltfriedensbewegung, Intern. Demokr. Frauen-Föderation, Intern. Studentenbund, Weltbund Intern. Lehrerverbände (FISE). Unter den übrigen T. sind besonders wichtig: Weltbund der Widerstandskämpfer (FIR), Weltföd. der Wissenschaftler, Intern. Verband Demokr. Juristen (Vereinigung Demokr. Juristen Deutschlands), Intern. Rundfunk-Org.

 

Neben intern, und die BRD umfassenden T. gibt es kleine, z. T. örtliche T., die als „Aktionsausschüsse, Kreise, Komitees“ o. ä. auftreten. Sie passen sich örtlichen und zeitlichen Gegebenheiten an und sind in der Lage, Mißstimmungen auch kleinerer Personengruppen auszunutzen. Die T. in der BRD werden gesteuert von der zuständigen Abt. des ZK der SED und des BV des FDGB (Infiltration). Als Hintermänner und zum Teil zugleich als Leiter der T. wirken auch eingeschleuste Agenten und Funktionäre der verbotenen KPD.

 

Zeitweise gab es Hunderte von T., doch viele bestehen nicht mehr. Sobald sie als Werkzeuge des Kommunismus entlarvt sind, stellen sie ihre Tätigkeit ein, um unter anderem Namen ihre Arbeit wiederaufzunehmen. Wichtig waren bzw. sind folgende T.: Friedenskomitee der Bundesrepublik; Demokratischer Kulturbund Deutschlands; Gesamtdeutscher Arbeitskreis für Land- und Forstwirtschaft; Zentralrat zum Schutz der demokratischen Rechte und zur Verteidigung junger Patrioten; Westdeutscher Flüchtlingskongreß.

 

Eine wichtige Rolle spielen seit etwa 1965 Atomtod-Clubs, die von der FDJ (einschließlich der verbotenen FDJ der BRD) gelenkt werden; ferner die ähnlich gesteuerten Festival-Clubs. Hierzu zählen auch „Jugendkreise“ und „Clubs für internat. Jugendbewegung“ u.ä. Es empfiehlt sich, in Zweifelsfällen Auskunft bei den zuständigen Bundes- und Landesbehörden einzuholen.

 

2. Organisation

 

 

In Westdeutschland stützt die SED ihre I.-Tätigkeit hauptsächlich 1. auf die seit 1955 verbotene, aber widergesetzlich arbeitende KPD; und 2. auf die kommun. Tarnorganisationen.

 

Gemäß der Deutschlandplanung der SED (Teilung Deutschlands und Wiedervereinigungspolitik) wirken für die I. geeignete Stellen des Parteiapparates und des Staatsapparates der „DDR“ (s. Tafel).

 

 

Die „Kommission für nationale Arbeit“ [S. 287]beim Politbüro der SED gibt die Richtlinien für die gesamte I. und entscheidet auch über wichtige Einzelfragen. Die Kommission leiten Walter ➝Ulbricht, Hermann ➝Matern und Albert ➝Norden. Eine Stufe tiefer liegt die unmittelbare Anleitung der I. bei der „Westabt.“ des ZK der SED, seit 1967 unter Heinz Geggel. (Vorher hieß sie: Westkommission; Abt. für gesamtdeutsche Arbeit; Arbeitsbüro; Abt. für Westarbeit, Abt. 62.) Nur die I. auf kulturell-wissenschaftlichem Gebiet übt der Sektor „Westarbeit“ der Abt. Kultur des ZK aus.

 

Die „Abt. 62“ steuert I.-Maßnahmen und Veröffentlichungen, die der ganzen BRD gelten. Auch leitet und überprüft sie die Organe, welche Teilaufgaben der I. durchführen: a) Zentralstellen der oben genannten Staatsorgane und Organisationen, b) die „Kommissionen für nationale Arbeit“ bei den 15 Bezirksleitungen der SED (s. Tafel oben). — Ein, zuweilen zwei Bezirke der SED bearbeiten ein Land oder wichtige Landesteile der BRD. (Diese Zuordnung, die teilw. auch auf Kreisebene stattfindet, ist eine Form der Patenschaften.)

 

3. Verbreitungsmittel

 

 

Wichtige Werkzeuge der I. sind Instrukteure, die in die BRD einreisen oder einsickern. Sie haben die in den Tarnorganisationen und dem illegalen KPD-Apparat tätigen Funktionäre anzuleiten und zu überwachen, sie haben die Geldmittel zu überbringen. Immer wieder werden politisch zuverlässige und besonders überprüfte Abordnungen in die BRD entsandt, die vor allem in Betrieben, Hochschulen, Gewerkschaften, öffentlichen Ämtern sowie mit Volksvertretern und Kommunalpolitikern diskutieren und Kontakte aufnehmen sollen. Ebenfalls ausgesuchte Delegationen sowie Schulkinder (Feriengestaltung) [S. 288]werden aus der BRD in die „DDR“ „zum Studium der sozialistischen ➝Errungenschaften“ eingeladen.

 

Ein Hauptmittel der I. ist die Verschickung von Propagandamaterial an Organisationen, Betriebe, Schulen und Privatpersonen in der BRD. Dabei dreht es sich um umfangreiche Flugschriften, Agitationszeitschriften, kleinere Broschüren, Flugblätter und Briefzeitungen, die in die BRD eingeschmuggelt werden.

 

Ein wesentlicher Teil der I. wird über Rundfunk und Fernsehen der „DDR“ betrieben. Auf diesem Wege wird auch versucht, die Gastarbeiter in der BRD aufzuwiegeln, die außerdem durch Druckschriften in ihrer Sprache oder in Gesprächen beeinflußt werden.

 

4. Industriearbeiter

 

 

Im Mittelpunkt der I. steht das Werben um die Industriearbeiterschaft, insbesondere um Mitgl. des DGB und der SPD. unter der Losung „Aktionseinheit der deutschen Arbeiterklasse“. Die Leitung der I. im FDGB-Bundesvorstand lag von Mitte 1963 bis Juli 1965 bei Hans ➝Jendretzky. Nach seiner Zurückziehung aus dem FDGB liegt die Leitung bei Rudolf Kirchner (SED). Die unmittelbare Steuerung der gewerkschaftlichen I.-Arbeit hat die Abt. für Arbeiterfragen in Westdeutschland (früher Büro für nationale Gewerkschaftseinheit) beim Bundesvorstand des FDGB, seit längerem geleitet von Josef Seibt (SED).

 

Seit Ende des Jahres 1962 werden stärker als in der Vergangenheit „Studiendelegationen“ aus der BRD in die „DDR“ gesandt. Häufig wurden die Zweckreisen mit kulturellen, sportlichen oder sozialen Veranstaltungen „begründet“. Auch wurden hierzu Erholungsaufenthalte und Fachtagungen genutzt. Die Teilnehmer sollen nicht nur politisch beeinflußt werden, sondern auch der Bevölkerung Mitteldeutschlands ein falsches Bild von der BRD geben. Darüber hieß es im Dez. 1962 in der „Arbeit“ (Zeitschrift des FDGB): „Die Entsendung von westdeutschen Studiendelegationen in unsere Republik ist eine Form des Klassenkampfes der Arbeiter … für die Entwicklung einer konsequenten Arbeiterpolitik in Westdeutschland.“

 

Ohne Zweifel ist die wichtigste Hilfstruppe der SED für die I. die Organisation für die Westarbeit des FDGB. Jeder Betrieb in der „DDR“ „betreut“ einen westdeutschen Betrieb des gleichen Faches, über den er eine Patenschaft ausübt. — Unabhängig von dieser I.-Arbeit hielt die KPD 1965 in mehr als 300 Betrieben des Bundesgebietes Betriebsgruppen (oder mindestens aktive Stützpunkte) aufrecht.

 

Eine erprobte Einrichtung der I. und der kommun. Schulung sind die halbjährlichen Deutschen Arbeiterkonferenzen. — (Ähnlich finden, ebenfalls in Mitteldeutschland, „Deutsche Gespräche“ zwischen SED-Funktionären und angeblichen SPD-Mitgl. statt.) Die Teilnehmer aus der BRD, die an Zahl weit überwiegen, sind großenteils getarnte Kommunisten. — Die Treffen in der „DDR“ werden seit Febr. 1965 ergänzt durch harmlos getarnte „Begegnungen zwischen Arbeitnehmern aus den beiden deutschen Staaten“, die in der BRD veranstaltet werden.

 

5. Weitere wichtige I.-Bereiche

 

 

Von Funktionären wie von Sympathisierenden der SED bzw. der KPD werden getarnte Konferenzen, Aussprachen und Gespräche im Dienste der I. veranstaltet. Öfter noch mißbrauchen Beauftragte beider Parteien die Protestaktionen und -Veranstaltungen solcher oppositioneller und pazifistischer Gruppen, die keine kommunistischen Ziele aufstellen.

 

Dem Zweck der I. dient auch das Komitee zum Studium der gesellschaftlichen Verhältnisse und ihrer Veränderung in Westdeutschland (seit 9. 4. 1962).

 

Der SED geht es nicht nur um die Industriearbeiter und die Angestellten in Wirtschaft und Verwaltung. Sehr zielbewußt bemühen sich die SED und die ihr unterstellten Organisationen um Zusammenarbeit auch mit ehem. Offizieren, ehem. Nationalsozialisten, Unternehmern, Intellektuellen, Bauern und Mittelständlern u.a. Bevölkerungsgruppen der BRD. (Arbeitsgemeinschaft ehemaliger Offiziere)

 

Da die SED danach strebt, die Bundeswehr als Verteidigungskraft der nichtkommun. Welt auszuschalten, sucht sie durch I. ihre Disziplin und Verteidigungsbereitschaft zu zersetzen. Die umfangreiche, mit Nachdruck betriebene I. gegenüber der Bundeswehr geht von der „selbständigen Abteilung“ des Ministeriums für Nationale Verteidigung aus. Sie versendet in hohen Auflagen fünf Zeitschriften und viele Einzelbroschüren.

 

6. Druckschriftenverteilung durch KPD

 

 

Seit 1960 besorgt die KPD in der BRD, deren ZK und Apparat-Spitzen in die „DDR“ emigriert sind, einen gewissen wichtigen Teil der I. — Nicht im Namen der KPD, aber weitgehend zum Nutzen dieser Partei und der SED gaben Westdeutsche, die großenteils vor 1956 Funktionäre der KPD waren, ganz öffentlich Wochen- oder Halbmonatszeitungen heraus. Diese Blätter waren für weite Kreise bestimmt. Einige von ihnen hielten Auflagen bis zu 12.000 Stück. (Ihre Gesamtauflage betrug jährlich mindestens 1,8 Mill.) An illegalen Blättern vertrieb die KPD 1967 ihre zentrale Parteizeitung (zus. etwa 200.000 Stück), ihre Schulungszeitschrift (zus. rd. 42.000) und einen Informationsdienst; ferner eine beträchtliche Anzahl von Zersetzungsschriften (in hohen Auflagen). — Wie ein Teil der Literatur der KPD wurden auch die Schriften der allgemeinen I. zu einem Teil illegal in der BRD gedruckt.

 

1965 brachte die KPD für die illegale I.-Arbeit mindestens rund 50 regelmäßig erscheinende Betriebszeitungen heraus. Weit höher war die Zahl der sonstigen geheimen Blätter der KPD. Die Gesamtauflage aller im Bundesgebiet hergestellten oder dem Namen nach dort erscheinenden Zeitungen und Zeitschriften der KPD erreichte 1967 mindestens 6,2 Mill. Stück. Dazu kamen an nicht periodischen Schriften und Broschüren noch einige Millionen Stück.

 

7. Organisationen

 

 

Wichtige Objekte der I. sind kleinere Parteien und politische Organisationen, welche die Deutschlandpolitik der SED bejahen. Nicht weniger stark richtet sich die I. auf Friedenskomitees und Pazifistenvereinigungen, auf Gegner der Atomwaffen und Anhänger der Wehrdienstverweigerung. Als Wegbereiter der I. schätzt die SED das Wirken der Ostermarsch-Organisatoren.

 

[S. 289]Die allgemeine I. arbeitete seit Herbst 1963 zeitweise weniger in die Breite als zuvor, doch wurde sie dafür verfeinerter und gezielter angesetzt. Jedenfalls wurde das Ziel der I., die Bildung getarnter revolutionärer Zellen, nicht verändert.

 

Literaturangaben

  • Albrecht, Ernst F.: Kontakte im Zwielicht… Infiltration im kommunalen Bereich. Godesberg 1960, Verlag für Publizistik. 92 S.
  • Kluth, Hans: Die KPD in der Bundesrepublik — ihre politische Tätigkeit und Organisation 1945–1956. Köln 1959, Westdeutscher Verlag. 154 S.
  • Richter, Karl: Die trojanische Herde — Ein dokumentarischer Bericht. Köln 1959, Verlag für Politik und Wirtschaft. 313 S. (Beleuchtet die Infiltrationsarbeit in der Bundesrepublik.)

 

Fundstelle: A bis Z. Elfte, überarbeitete und erweiterte Auflage, Bonn 1969: S. 286–289


 

Information

Dieser Lexikoneintrag stammt aus einer Serie von Handbüchern, die zwischen 1953 und 1985 in Westdeutschland vom Bundesministerium für gesamtdeutsche Fragen (ab 1969 Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen) herausgegeben worden sind.

Der Lexikoneintrag spiegelt den westdeutschen Forschungsstand zum Thema sowie die offiziöse bundesdeutsche Sicht auf das Thema im Erscheinungszeitraum wider.

Ausführliche Informationen zu den Handbüchern finden Sie hier.