DDR von A-Z, Band 1969

Kybernetik (1969)

 

 

Siehe auch die Jahre 1963 1965 1966 1975 1979 1985


 

K. ist die Wissenschaft von den „möglichen Verhaltensweisen möglicher Strukturen“, d.h. von dynamischen, sich selbst organisierenden und sich selbst erhaltenden Systemen. Unter „System“ wird jedes in sich geschlossene Ganze verstanden, das miteinander in Wechselbeziehung stehende Teile umfaßt. Die kybernetischen Systeme sind dadurch bestimmt, daß sie mit Hilfe von Rückkopplungen immer wieder einen Gleichgewichtszustand anstreben. „Dynamisch“ heißt im vorliegenden Zusammenhang stets „in Funktion befindlich“. Mit Hilfe kybernetischer Modelle wird versucht, bestimmte wesentliche Eigenschaften der Wirklichkeit abzubilden und Gesetzmäßigkeiten der beobachteten Tatbestände festzustellen. Die K. hat eine eigene, von verschiedenen Wissenschaften (besonders der Biologie) beeinflußte Sprache geschaffen. Hauptbegriffe sind u.a.: „System“, „Subsystem“, „Umwelt“, „kybernetische Maschine“, „Regelkreis“, „Regler“, „Regelstrecke“, „Rückkopplung“ („feedback“), „Gleichgewicht“, „Fließgleichgewicht“, „Stabilität“, „Ultrastabilität“, „Multistabilität“, „Information“, „Kommunikation“.

 

Üblicherweise werden 5 Teilgebiete der K. unterschieden: das systemtheoretische, das regelungstheoretische, das informationstheoretische (Informationstheorie), das spieltheoretische und das algorithmentheoretische. Die kybernetische Systemtheorie betrachtet vor allem die Beziehungen zwischen Strukturen und Funktionen bzw. zwischen den einzelnen Elementen eines Systems. Der Systemaspekt der K. ist deshalb von besonderer Bedeutung, weil der einzelne Mensch wie auch die Gesellschaft als „sich selbst regulierende“ Systeme angesehen werden können.

 

Die kybernetische Regelungstheorie bezieht sich auf die Regelmäßigkeiten der automatischen Regelung bzw. Steuerung von Systemen. Dabei bedeutet „Regelung“ stets die Erzielung von Veränderungen eines Systems (Handeln, Sich-Verhalten, Lenkung von Maschinen und Automaten). Mit Hilfe der Regelung soll jedoch auch die Aufrechterhaltung des stabilen Gleichgewichts eines dynamischen Systems durch den „Regelkreis“ gewährleistet werden. Der Regelkreis stellt ein geschlossenes Rückkopplungssystem dar, das vor allem aus dem „Regler“ und der „Regelstrecke“ besteht. Der Regelkreis ist gegenüber Einflüssen aus der Umwelt relativ stabil. Regelkreise werden häufig nach dem Modell von Homöostaten konzipiert, d. h. von Regelmechanismen, in denen irgendeine Variable in den vorausbestimmbaren Grenzen gehalten wird. Der Regelungsaspekt ist für die marxistische Organisationstheorie von großer Bedeutung — gehören doch für die Wirtschafts- und Gesellschaftsplanung wichtige Begriffe, wie „Befehl“ und „Kontrolle“, in den Bereich der Regelungstheorie.

 

Die kybernetisch-mathematische Spieltheorie, auch Theorie der strategischen Spiele genannt, versucht, optimale Verhaltensweisen von Systemen in Situationen des Konflikts mit anderen Systemen oder der jeweiligen „Umwelt“ eines Systems herauszufinden. Als „Spieler“ können dabei z. B. Subsysteme fungieren. Die Spieltheorie ist prinzipiell auf alle Situationen anwendbar, die denen von Gesellschaftsspielen ähneln. Die Algorithmentheorie schließlich befaßt sich mit Instrumenten zur Ausschaltung von Störgrößen (Algorithmen). Sie können als Mittel, die Handlungen in ihrem Ablauf steuern, oder auch als System von Umformungsregeln, mit denen ein bestimmtes Verhalten sich beschreiben und steuern läßt, bezeichnet werden.

 

Die K. bedient sich verschiedener Methoden. Hier sind vor allem die „black-box-Methode“ sowie die „trial-and-error-Methode“ zu nennen. Die „black-box-Methode“ (dt.: Methode des „schwarzen Kastens“) wird verwendet, wenn ein System zu analysieren ist, bei dem lediglich die Eingangs-(input) und Ausgangs-(output)größen bekannt sind.

 

Die K., die ursprünglich aus der Kriegstechnik hervorgegangen ist, wurde nach dem 2. Weltkrieg besonders von Mathema[S. 362]tikern, Biologen, Nachrichtentechnikern und Logikern in den USA entwickelt (N. Wiener, J. v. Neumann, L. v. Bertalanffy, W. R. Ashby). In der SU wurde die K. erst auf dem XXII. Parteitag der KPdSU (1961) offiziell für Forschung und Entwicklung freigegeben. In der DDR setzten sich Georg Klaus und der ehemalige Vorsitzende der Staatlichen Plankommission und spätere stellvertretende Vorsitzende des Ministerrates, Fritz Selbmann, schon vor diesem Zeitpunkt für die K. ein. Jedoch erst 1963 ist die Förderung der K. im Parteiprogramm der SED verankert worden. Allerdings begann bereits 1957 der VEB Maschinelles Rechnen mit der Entwicklung von Digital- und Analogrechnern, die u. a. für die Regelungstheorie wichtig sind. Aus dieser Entwicklungsarbeit ging der heute in der DDR viel verwandte Digitalrechner ZRA 1 hervor. Der theoretische Durchbruch der K. als neues Forschungsgebiet ist seit 1961, mit der Gründung einer Kommission für K. bei der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin (Vors.: Prof. Dr. Georg Klaus), als gesichert anzusehen. 1962 wurde eine Arbeitsgruppe „K. und Pädagogik“ beim Ministerium für Volksbildung geschaffen. 1963 wurde die Kommission bei der Deutschen Akademie der Wissenschaften zur „Sektion K.“ beim Präsidenten der Deutschen Akademie der Wissenschaften (Vors.: Prof. Dr. Kurt Schröder) umgebildet. Ebenfalls 1963 wurde die Forschungsgruppe „K. und Schule“ beim Institut für Berufsausbildung eingerichtet. 1965 wurde eine Forschungsgemeinschaft „Anwendung mathematischer Methoden in der Territorialplanung“ am ökonomischen Forschungsinstitut bei der Staatlichen Plankommission, die mit kybernetischen Begriffen und Methoden arbeitet, ins Leben gerufen.

 

Die K. wird heute nicht nur auf die verschiedenen Wissenschaftsgebiete (Volkswirtschaftsplanung, Politische Ökonomie, Verkehrsplanung, Pädagogik und Psychologie, Medizin und Biologie) angewandt; sie ist auch zur Bestätigung und Weiterentwicklung der „materialistischen Dialektik“ im Rahmen des Historischen und Dialektischen Materialismus herangezogen worden. Die K. soll die Begriffe des Historischen und Dialektischen Materialismus klären und präzisieren. Der Ost-Berliner K.-Prof. Georg Klaus geht jedoch noch weiter: „Die K. ist … ihrem Wesen nach dialektisch und materialistisch.“ Klaus behauptet, daß die K in philosophischer Hinsicht nur mit dem dialektischen Materialismus vereinbar sei. Diese Position ist unhaltbar, wie Helmar G. Frank, Karl Steinbuch u. a. nachgewiesen haben.

 

In jedem Fall wird die K. heute in der DDR als „Produktivkraft erster Ordnung“ angesehen. Sie soll die theoretischen und methodologischen Grundlagen der wirtschafts- und gesellschaftspolitischen Planung sowie der Automatisierung der Industrie formulieren. Schließlich soll mit Hilfe der K. eine Rationalisierung der Führungs- und Leitungsstrukturen im Betrieb, im Partei- und Staatsapparat ermöglicht werden. (Mathematik, Arbeitspsychologie, Soziologie und empirische Sozialforschung)


 

Fundstelle: A bis Z. Elfte, überarbeitete und erweiterte Auflage, Bonn 1969: S. 361–362


 

Information

Dieser Lexikoneintrag stammt aus einer Serie von Handbüchern, die zwischen 1953 und 1985 in Westdeutschland vom Bundesministerium für gesamtdeutsche Fragen (ab 1969 Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen) herausgegeben worden sind.

Der Lexikoneintrag spiegelt den westdeutschen Forschungsstand zum Thema sowie die offiziöse bundesdeutsche Sicht auf das Thema im Erscheinungszeitraum wider.

Ausführliche Informationen zu den Handbüchern finden Sie hier.