DDR von A-Z, Band 1969

Menschenraub (1969)

 

 

Siehe auch die Jahre 1958 1959 1960 1962 1963 1965 1966


 

Der Staatssicherheitsdienst hat mit Hilfe gedungener krimineller Elemente wiederholt das Verbrechen des M. begehen lassen, um Flüchtlinge oder Personen, die in der BRD oder in Berlin (West) aktiv gegen das Unrechtsregime in Mitteldeutschland tätig waren, in die Hände zu bekommen. Die dabei angewendeten Methoden reichen bis zur Giftbeibringung und zum brutalen Überfall auf der Straße. Einige Opfer dieser M.-Aktionen des SSD sind inzwischen nach langjähriger Haft in den Westen zurückgekehrt und haben im einzelnen über die Taktik des SSD bei Vorbereitung und Durchführung des M. berichtet (Alfred Weiland, Karl Wilhelm Fricke). Öffentliche Gerichtsverhandlungen fanden nicht statt. Die West-Berliner Polizei hat seit Herbst 1949 295 Fälle von Entführungen aus West-Berlin registriert, darunter 87 gewaltsam begangene M.-Verbrechen, und 208 durch List inszenierte und durchgeführte Entführungen. In weiteren 81 Fällen blieb es beim Versuch.

 

Ein besonders schwerer Fall des M. ereignete sich in West-Berlin am 8. 7. 1952. Das Opfer war Dr. Walter Linse, geb. am 23. 8. 1903 in Chemnitz, seit 15. 1. 1951 als Leiter der Abt. Wirtschaftsrecht im Untersuchungsausschuß Freiheitlicher Juristen tätig. Dr. Linse wurde gegen 7.25 Uhr auf dem Wege zur Arbeitsstelle unweit seiner Wohnung in Berlin-Lichterfelde von beauftragten Agenten des Staatssicherheitsdienstes angesprochen, hinterrücks mit einem bis dahin versteckt gehaltenen Sandsack niedergeschlagen, in ein mit laufendem Motor bereitstehendes Auto gezerrt und in die SBZ verschleppt. Er erhielt dabei einen Schuß in das Bein. Auf Verfolger wurde geschossen, der sowjetzonale Schlagbaum wurde für das Auto der Menschenräuber kurz geöffnet. Weitere schwere Fälle waren die Verschleppung des Journalisten Alfred Weiland (1950 in West-Berlin: Überfall auf der Straße), des Vors. der russischen Emigranten-Organisation NTS, Dr. Truchnowitsch (1954 in West-Berlin: Giftbeibringung in einer fremden Wohnung), des Journalisten Karl-Wilhelm Fricke (1955 aus West-Berlin: Giftbeibringung in einer fremden Wohnung), des ehemaligen SSD-Kommissars Silvester Murau (1955 aus der BRD mit Hilfe der Tochter des Verschleppten), des ebenfalls geflüchteten ehemaligen Inspekteurs der Volkspolizei Robert Bialek (1956 aus West-Berlin: Giftbeibringung in einer fremden Wohnung) und des Leiters der Abt. Wirtschaft im Untersuchungsausschuß Freiheitlicher Juristen, Dr. Erwin Neumann (1958 beim Segeln auf dem Wannsee in West-Berlin). Einige der im Auftrage des SSD tätig gewordenen Verbrecher wurden gefaßt und vom West-Berliner Landgericht verurteilt: Knobloch (Fall Dr. Linse) zu zehn Jahren Zuchthaus, Benter (Vorbereitung im Fall Dr. Linse) zu drei Jahren Gefängnis, Tietze und Horeis (Fall Murau) zu zehn und zwölf Jahren Zuchthaus.


 

Fundstelle: A bis Z. Elfte, überarbeitete und erweiterte Auflage, Bonn 1969: S. 409


 

Information

Dieser Lexikoneintrag stammt aus einer Serie von Handbüchern, die zwischen 1953 und 1985 in Westdeutschland vom Bundesministerium für gesamtdeutsche Fragen (ab 1969 Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen) herausgegeben worden sind.

Der Lexikoneintrag spiegelt den westdeutschen Forschungsstand zum Thema sowie die offiziöse bundesdeutsche Sicht auf das Thema im Erscheinungszeitraum wider.

Ausführliche Informationen zu den Handbüchern finden Sie hier.