Neues Ökonomisches System (NÖS) (1969)
Siehe auch:
Bezeichnung für die Maßnahmen der im Anschluß an die Liberman-Diskussion in der DDR auf dem VI. Parteitag der SED (15. 1.–21. 1. 1963) beschlossenen Wirtschaftsreform. Nach praktischen Erprobungen und mehrfachen Beratungen (z. B. auf der gemeinsamen Wirtschaftskonferenz des ZK der SED und des Ministerrats am 24. und 25. 6. 1963) wurde das NÖS durch den Beschluß des Ministerrats zur „Richtlinie für das neue ökonomische System der Planung und Leitung der Volkswirtschaft“ vom 11. 7. 1963 zum verbindlichen Programm der Modernisierung und Rationalisierung des Wirtschaftssystems. Bereits am 14. 6. 1963 hatte der Ministerrat einen Beschluß über „Die Anwendung der Grundsätze des neuen ökonomischen Systems der Planung und Leitung der Volkswirtschaft im Bauwesen“ gefaßt. Mit dem wirtschaftspolitischen Reformprogramm begann 1963 eine Phase des Ausbaus des wirtschaftlichen und des politischen Systems. Das Programm ging aus von einer realistischen Einschätzung der Lage und der Möglichkeiten der Wirtschaft. Die Ziele der vergangenen wirtschaftspolitischen Kampagnen des „Einholens und Überholens der Bundesrepublik“ und der „Störfreimachung“ der Wirtschaft waren ebenso wie die des Siebenjahrsplans von 1957 nicht erreichbar gewesen. Die Gründe waren neben irrealen Planansätzen auch fehlende wirtschaftliche Lenkungskategorien, unsachgemäße Leitung und — volkswirtschaftlich gesehen — unökonomisches Verhalten der Wirtschaftenden und Planenden (kritisch gekennzeichnet als „Tonnenideologie“ und „weiche Planung“).
[S. 448]Durch das NÖS sollten die bestehenden Mängel beseitigt und ein dem entwickelten industriellen Niveau angepaßtes Planungs- und Leitungssystem aufgebaut werden.
1) Elemente des NÖS
Kennzeichnend für das NÖS wurde die weitgehende Anerkennung einer technisch-ökonomischen Rationalität als allgemeinen Entscheidungs- und Handlungsgrundsatzes und die Orientierung auf die Funktionstüchtigkeit des Systems, dem neuen Ziel neben dem der Machtsicherung durch die SED. Entsprechend waren mit der Einführung des NÖS Veränderungen verbunden, die über den Wirtschaftsbereich weit hinausgingen: 1) die SED-Organisation wurde nach dem Branchenprinzip (Produktionsprinzip) umstrukturiert (teilweise ab 1965 wieder rückgängig gemacht), 2) ideologische Positionen wurden modifiziert (z. B. die Abschwächung der These des „Klassenkampfes nach innen“), 3) moderne sozialwissenschaftliche und mathematisch-statistische Disziplinen bzw. Methoden fanden stärkere Berücksichtigung in Lehre und Forschung wie auch in der gesellschafts- und wirtschaftspolitischen Praxis, 4) zusammenhängend damit gewann der Sachverstand auf allen Produktions- und Leitungsebenen an Bedeutung, Sachverständige wurden in größerem Maße zur Arbeit in Konsultativgremien, Stabsstellen und ad-hoc-Arbeitsgruppen herangezogen, 5) neue Wissenschaftszweige (z. B. sozialistische Leitungswissenschaft, sozialistische Wirtschaftsführung), 6) das Ausbildungssystem wurde im Hinblick auf eine stärkere Differenzierung der Funktionsbereiche in Partei, Staat, Wirtschaft reformiert, was u. a. zu neuen Berufsbildern und Laufbahnen führte.
Die Richtlinie beschreibt das NÖS als „die organische Verbindung der wissenschaftlich fundierten Führungstätigkeit in der Wirtschaft und der wissenschaftlich begründeten, auf die Perspektive orientierten zentralen staatlichen Planung mit der umfassenden Anwendung der materiellen Interessiertheit in Gestalt des in sich geschlossenen Systems ökonomischer Hebel“ (S. 10). Das Reformprogramm enthält personelle, institutionelle und funktionelle Aspekte. Seine Grundzüge sind a) die Anwendung eines „in sich geschlossenen Systems ökonomischer Hebel“ an Stelle administrativer Einzelanweisungen, b) die Umstrukturierung der Wirtschaftsorganisation und c) die Forderung nach einer „wissenschaftlich fundierten“, fachgemäßen Leitung und einer verbesserten Planungsmethodik.
a) Die ökonomischen Hebel definiert die Richtlinie als „gesetzmäßige Beziehungen zwischen den objektiven gesellschaftlichen Erfordernissen und den materiellen Interessen der Menschen, die direkt oder indirekt wirken und durch ihre jeweilige Gestaltung die Werktätigen zu einem bestimmten wirtschaftlichen Verhalten anregen“ (S. 49). Dies sind für den betrieblichen Bereich betriebs- und volkswirtschaftliche Größen wie Gewinn, Kosten, Preise, Umsatz und Rentabilität. Sie werden insgesamt als Kriterien zur Beurteilung der wirtschaftlichen Leistung anerkannt, ohne daß eine einzelne Lenkungskategorie zur alleinigen Kennziffer erhoben wurde. Im individuellen Bereich sind es leistungsabhängige Lohnarten, Prämien und zusätzliche Ferien, die das „materielle Interesse“ stimulieren und lenken sollen. Das nach wie vor bestehende Problem ist, wie diese unterschiedlichen, direkten und indirekten Lenkungsgrößen so kombiniert werden können, daß eine Übereinstimmung von individuellen, betrieblichen und volkswirtschaftlichen Interessen annähernd erzielt wird. Neben der Produktivitätssteigerung dient das System der ökonomischen Hebel einer Vereinfachung der Planung. Schrittweise ging man dazu über, Leistungsanforderungen der Pläne an die Betriebe statt in Mengenangaben in Finanzkennziffern auszudrücken. Seit 1967 werden den Betrieben auch Verhältniskennziffern vorgegeben, um die Relation zwischen Aufwand und Ertrag zentral zu beeinflussen. Gleichzeitig wurde die Zahl der Plankennziffern reduziert und dadurch den Betrieben die Möglichkeit gegeben, die Pläne durch die Verbindung von verschiedenen, nunmehr ihrer eigenen Entscheidung überlassenen Maßnahmen zu erfüllen, ohne eine Vielzahl von materialen Kennziffern zu verletzen.
Der Versuch, monetäre Kennziffern zur Lenkung der Wirtschaft zu verwenden, erforderte zunächst eine Neufixierung des Preis- und Bewertungssystems, um eine wirklichkeitsnähere, den tatsächlichen Aufwand der Betriebe erfassende Kostenrechnung zu ermöglichen. Am 30. 1. 1964 beschloß der Ministerrat die Neubewertung der Produktionsanlagen (Umbewertung der Grundmittel) und die Korrektur der Abschreibungssätze. Am 1. 4. 1964 begann auf Grund eines Ministerratsbeschluß vom 1. 2. 1964 eine Industriepreisreform. Der „gesellschaftlich notwendige Arbeitsaufwand“ sollte zur Grundlage der Preisbildung gemacht werden. Staatliche Subventionen wurden bei einer Reihe von Produkten gestrichen. Über die neuen Industriepreise sollte für die Betriebe ein wirtschaftlicher Anreiz zur rationellen Fertigung und zu günstigen Sortimenten geschafft werden. Die Preisreform wurde in drei Etappen durchgeführt und 1967 abgeschlossen. Sie führte zu einer Erhöhung des Preisniveaus für Industriegüter. Am Prinzip der staatlichen Preisfestsetzung änderte sich jedoch nichts. (Preissystem, Preispolitik) b) Das Kernstück der durch das NÖS hervorgerufenen Umstrukturierung der Wirtschaftsorganisation ist die Umbildung der Vereinigungen Volkseigener Betriebe (VVB), die bisher lediglich administrative Hilfsorgane des „Volkswirtschaftsrates“ und der Ministerien waren, zu „ökonomischen Führungsorganen“ der einzelnen Industriezweige. Die VVB wurden damit zu finanziell relativ selbständigen, nach dem Produktionsprinzip organisierten „sozialistischen Konzernen“ mit voller Verantwortung für die technische und kaufmännische Entwicklung der ihnen unterstellten volkseigenen Betriebe. Sie bekamen eigene finanzielle Mittel („VVB-Fonds“), die sie zusammen mit denen der ihnen unterstellten Betriebe selbständig bilanzieren müssen. Die VVB arbeiten nach dem Prinzip der „wirtschaftlichen Rechnungsführung“. Sie sollen einen Gewinn erwirtschaften. Bei den VVB wurden Filialen der Deutschen Notenbank gebildet und damit die bisher bestehenden direkten Finanzbeziehungen zwischen den VEB und dem Staatshaushalt unterbrochen und durch solche zwischen den VVB und dem Staatshaushalt ersetzt. Insgesamt bedeutet die [S. 449]neue Rolle der VVB eine Verlagerung wirtschaftlicher Entscheidungsbefugnisse von der zentralen oberen auf eine mittlere Ebene.
Die wirtschaftsorganisatorischen Veränderungen des NÖS brachten auch den VEB zusätzliche Entscheidungsbefugnisse (z. B. beim Abschluß von Wirtschaftsverträgen). Im Sektor der territorial angeleiteten Industrie wurden die Kompetenzen des Bezirkswirtschaftsrates gegenüber den Betrieben erweitert.
b) Das Ziel einer fachlichen Leitung erforderte in erster Linie von den führenden Kräften der Wirtschaft und der staatlichen Verwaltung ein Umdenken und Neuorientieren an Kriterien der technisch-ökonomischen Effizienz und die Bereitschaft, neue Leitungsmethoden (z. B. Operationsforschung, Netzwerkplanung) anzuwenden bzw. zu entwickeln. Bei angehobenem qualitativem Niveau stieg der Bedarf an Ökonomen, Technikern und Wissenschaftlern. Die Aus- und Weiterbildung der Wirtschaftsleiter und der staatlichen Funktionäre mußte vor allem in methodischer Hinsicht verbessert werden. In Verbindung hiermit erhielt die wirtschaftswissenschaftliche Lehre und Forschung starke Impulse. Zur Anleitung der Forschung und Konzentration auf die ungelösten Probleme des NÖS konstituierte sich bei der Staatlichen Plankommission ein Beirat für ökonomische Forschung.
2) Zweite Phase (1965--67)
Nachdem sich das Politbüro der SED kritisch mit der Arbeit zentraler Organe der Wirtschaftsleitung befaßt hatte, kündigte Ulbricht auf der 11. Tagung des ZK der SED im Dezember 1965 den Beginn einer „zweiten Etappe“ des NÖS an. Damit bestätigte sich, daß das NÖS als ein offenes, entwicklungsfähiges Reformkonzept verstanden wurde. Merkmale der zweiten Phase wurden organisatorische Veränderungen und Maßnahmen bei den Lenkungsgrößen. So trat an die Stelle verschiedener, im Laufe des Jahres gezahlter Prämien eine „Jahresendprämie“. In einigen VVB wurde die Einführung einer Produktionsfondsabgabe als Form eines Zinses auf das eingesetzte Kapitel beschlossen. Eine wichtige Reorganisation brachte die neue Phase mit der Auflösung des „Volkswirtschaftsrates“ und der Umwandlung seiner Industrieabteilungen in acht, zur Kontrolle der ihnen unterstellten VVB besser geeigneten Industrieministerien. Überdies wurde das Ministerium für Materialwirtschaft neu gebildet. Von Bedeutung ist ferner die Neuabgrenzung der Aufgaben der Staatlichen Plankommission, die sich nun auf die Ausarbeitung volkswirtschaftlicher Entwicklungsprognosen und das Auffinden von Lösungen für die „effektivste Gestaltung des volkswirtschaftlichen Reproduktionsprozesses“ konzentrieren soll. Ein neuer Planungsablauf, bei dem die Pläne in zwei Phasen ausgearbeitet werden, wurde erstmals 1967 für die Planung der Volkswirtschaft angewendet.
3) Dritte Phase (ab 1967) --- Ökonomisches System des Sozialismus (ÖSS)
Auf dem VII. Parteitag der SED (17. bis 22. 4. 1967) wurde die Weiterentwicklung der zweiten Phase des NÖS als ÖSS markiert. Es wird als das „Kernstück des entwickelten gesellschaftlichen Systems des Sozialismus“ angesehen. Ein wichtiges Ziel des ÖSS ist es, seit 1963 in der Industrie gemachte Erfahrungen und neuere wirtschaftswissenschaftliche Erkenntnisse auf andere Wirtschaftsbereiche (z. B. Landwirtschaft, Banken, Handel) und partiell auch auf den staatlichen Bereich (z. B. durch Einführung des „Prinzips der Eigenverantwortlichkeit von Städten, Gemeinden, örtlichen Vertretungen und Betrieben“) zu übertragen. Zum anderen sollen die Positionen und Beziehungen der Teilbereiche im Wirtschafts-, Staats- und Gesellschaftsaufbau (z. B. Volkswirtschaft, Branche und Betrieb im Wirtschaftsaufbau) unter Anwendung nun auch der kybernetischen Systemtheorie untersucht und im Hinblick auf ökonomische Effektivität und politische Stabilität bestimmt werden. Wie auch schon in der Vergangenheit wird die „richtige Regelung“ des wirtschaftlichen Kreislaufs von der Forschung und Entwicklung bis hin zum Verbrauch aufgegeben.
Von allgemeiner Bedeutung ist die Betonung des Primats der Ideologie und Politik im Bereich der Wirtschaft. In diesem Zusammenhang wird erneut die „führende Rolle“ der SED hervorgehoben. Die SED versucht zu verhindern, daß ihre Zuständigkeit auf Teilfunktionen (z. B. der generellen wirtschaftspolitischen Zielauswahl) reduziert wird und mehr oder weniger rein ökonomische Orientierungen sich ausbreiten. Andererseits wird an der durch das NÖS eingeführten Dezentralisierung von Entscheidungen in der Form von — entsprechend den unterschiedlichen Leitungsebenen — abgestuften Konkretisierungen einer zentral formulierten volkswirtschaftlichen Struktur- und Wachstumspolitik festgehalten. „Das ökonomische System des Sozialismus verbindet die zentrale staatliche Planung und Leitung der Grundfragen der gesellschaftlichen Entwicklung mit der Eigenverantwortung der sozialistischen Warenproduzenten und der örtlichen Staatsorgane“ (Art. 9 der Verfassung von 1968).
Die Beschlüsse des Staatsrates vom 22. 4. 1968, des Ministerrates vom 16. 6. 1968 und die AO zum Perspektivplan 1971–1975 der Staatlichen Plankommission vom 16. 10. 1968 enthalten die bisher wichtigsten wirtschaftspolitischen Richtlinien und Maßnahmen des ÖSS. Die gestellten Aufgaben sind eine gesamtwirtschaftliche Strukturpolitik, die Rationalisierung und Dynamisierung der Planung und der Ausbau der eigenverantwortlichen ökonomischen Disponibilität der Betriebe. Im Vordergrund der Maßnahmen stehen Änderungen im System der Planung. Der auf der Grundlage umfassender Prognosen bestimmte Perspektivplan wird als das wichtigste wirtschaftspolitische Instrument angesehen. Über die „zentrale staatliche Planung“ des Ministerrats soll die wirtschaftliche Entwicklung in den Grunddaten und den Schwerpunktaufgaben (die „volkswirtschaftlich strukturbestimmenden Aufgaben“) festgelegt werden. Durch die Planung der Schwerpunktaufgaben gewinnt die zentrale Planung erheblich an Einflußmöglichkeiten gegenüber den Branchen, Betrieben und Territorien. Gleichzeitig werden der Planungsablauf vereinfacht, ein neues Informationssystem („Planinformationen“) aufgebaut und den Betrieben zur Erhöhung ihrer Dispositionsfähigkeit erstmals mehrjährige Kennziffern zugewiesen. Weitere Veränderungen [S. 450]in der Phase des ÖSS sind vorgesehen, bzw. bereits durchgeführt bei der Investitionspolitik (Anwendung des „Prinzips der Eigenerwirtschaftung der Mittel“), der Planung und Leitung des Außenhandels (u.a. Berücksichtigung des Exporterlös im „einheitlichen Betriebsergebnis“) und der Preispolitik (Aufbau eines „Industriepreisregelsystems“ und Übergang zum „fondsbezogenen Industriepreistyp“). (Planung, Wirtschaft, Wirtschaftswissenschaften)
Fundstelle: A bis Z. Elfte, überarbeitete und erweiterte Auflage, Bonn 1969: S. 447–450