Rechtswesen (1969)
1. Die „sozialistische“ Rechtsauffassung und die Aufgabe der Rechtsprechung
Die Rechtsauffassung in der „DDR“ ist die des Marxismus-Leninismus, also die aus der Lehre vom dialektischen und historischen Materialismus abgeleitete Auffassung vom Wesen des Rechts. Danach kann das Recht nur als eine von verschiedenen gesellschaftlichen Erscheinungen im Bereich des über der ökonomischen Basis liegenden Überbaus verstanden werden; es wurzele in den materiellen Lebensverhältnissen und könne nicht aus sich selbst, aus der allgemeinen Entwicklung des menschlichen Geistes abgeleitet oder begriffen werden. Es ist nach dieser Auffassung also nicht der menschliche Geist oder seine sittliche Kraft, die die Rechtsordnung bestimmen, sondern das Recht soll — nach der These, daß das Sein das Bewußtsein bestimmt — durch die materiellen Lebensverhältnisse hervorgebracht werden. Diese materiellen Lebensverhältnisse würden aber durch die Produktionsverhältnisse bestimmt, durch die Eigentumsverhältnisse an den Produktionsmitteln. Daraus folge, daß derjenige, der die Produktionsmittel besitzt, und das ist nach marxistisch-leninistischer Auffassung die herrschende Klasse, auch das Recht bestimmt und die Rechtsordnung festlegt. Damit wird das Recht leicht und einheitlich definierbar als der „zum Gesetz erhobene Wille der herrschenden Klasse“, und das bestehende sozialistische Recht ist nach Ulbricht daher „der zum Gesetz erhobene Wille der Arbeiterklasse, die im Bündnis mit den werktätigen Bauern und den anderen werktätigen Schichten der Bevölkerung die Macht ausübt“ (Ulbricht, „Über die Dialektik unseres sozialistischen Aufbaus“, Dietz-Verlag, Ostberlin 1959, S. 147). Mit dieser Erkenntnis wurde, wie Hilde ➝Benjamin erklärt, „eine klare Abgrenzung von der bürgerlichen Rechtswissenschaft mit ihren verschiedenen Spielarten idealistischer Rechtsideologien und mit ihren Vorstellungen von einem über den Klassen und Staaten stehenden Recht gewonnen“. Für das Strafrecht wird diese Aussage im Lehrbuch des Strafrechts noch einmal ausdrücklich bestätigt: „Deshalb hat jedes Strafrecht Klassencharakter, verfolgt die klassenbedingten Ziele und Aufgaben. Es gibt kein neutrales, über den Klassen stehendes Strafrecht.“
Im Erlaß des Staatsrates über die grundsätzlichen Aufgaben und die Arbeitsweise der Organe der Rechtspflege vom 4. 4. 1963 (GBl. I, S. 21) wird das sozialistische Recht mit einer gewissen Akzentverlagerung definiert als „ein wichtiges Instrument unseres Staates, um die gesellschaftliche Entwicklung zu organisieren und das sozialistische Zusammenleben der Menschen, die Beziehungen der Bürger zueinander und zu ihrem Staat zu regeln“. Jedes Recht sei seiner Natur nach parteilich, weshalb auch die Rechtsanwendung nur parteilich sein könne (Parteilichkeit der Rechtsprechung). Aus den Erkenntnissen des historischen Materialismus ergibt sich für die Kommunisten weiter, daß die menschliche Gesellschaft unter Führung ihrer fortschrittlichsten Klasse, der Arbeiterklasse, den Weg zum kommun. Endstadium gehen werde, in dem die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen beseitigt und mit der dann vorhandenen klassenlosen Gesellschaft der ideale Endzustand auf Erden erreicht sein werde. Die „historische Aufgabe“ der Arbeiterklasse bestehe also darin, den Weg zunächst zum Sozialismus, dann zum Kommunismus zu vollenden.
[S. 515]Die Erfüllung dieser Aufgabe entspreche der objektiven Gesetzmäßigkeit der Entwicklung der menschlichen Gesellschaft. Wenn nun aber nur das Rechtens sein kann, was dem Willen der Arbeiterklasse entspricht, und wenn der Wille dieser Klasse auf die Erreichung des sozialistisch-kommun. Endzustandes gerichtet ist (weil er darauf gerichtet zu sein hat), dann kann, wie dies in der neuen Definition des Staatsrates zum Ausdruck kommt, im Bereich der Rechtsordnung auch nur das Bestand und Gültigkeit haben, was zu diesem Endziel hinzuleiten in der Lago ist. Damit erhält das Recht Instrumentalcharakter in Händen der Klasse und des Staates zur Erreichung des politischen Endziels. Dieser Auffassung vom R. entspricht nach den Ausführungen ihrer maßgebenden Funktionäre (Fechner, Benjamin, Melsheimer, Polak, Streit, Toeplitz) die Hauptaufgabe der Justiz. Damit werde die bürgerliche „Klassenjustiz“ überwunden, die nichts anderes als ein Mittel der herrschenden Klasse sei, „das schaffende Volk auszubeuten“: „Indem unsere sozialistische Rechtspflege zum Anliegen und zur Aufgabe des ganzen Volkes wird, entwickeln wir die sozialistische Rechtsordnung der DDR immer mehr zum nationalen Urbild wahrer Gerechtigkeit und Humanität“ [Rechtspflegeerlaß des Staatsrates vom 4. 4. 1963]. Grundlegender Ausgangspunkt und Maßstab für die Bestimmung dieser „wahren“ Gerechtigkeit könne immer nur das Interesse der Arbeiterklasse sein, deren Führung in Staat und Gesellschaft solange erforderlich bleibe, wie Klassen überhaupt existierten (vgl. Gollnick/Haney in „Staat und Recht“ 1968, S. 580 ff.). Weil nun aber die Macht der Arbeiterklasse nicht ihren Zweck in sich selbst finde, sondern von der Arbeiterklasse (und ihren „Verbündeten“) zur Erreichung der objektiv bestimmten Ziele und Zustände des Sozialismus/Kommunismus gebraucht werden müsse, wird die sozialistische Gerechtigkeit als ein „Mittel zur Erreichung bestimmter gesellschaftlicher Zustände“ verstanden. Da sie sich andererseits nicht von selbst realisiere, vielmehr zu ihrer Verwirklichung entsprechender Mittel bedürfe, sei sie in bezug auf die Realisierung von Zuständen zugleich auch Zweck, der sich durch die in ihr gesetzten Forderungen nach Bewertung und Veränderung bestimmter gesellschaftlicher Verhältnisse offenbare. Wesentliches Mittel, um die in den Gerechtigkeitsforderungen zum Ausdruck kommenden Ziele zu erfüllen, sei das sozialistische Recht. Damit wird die Gerechtigkeit einerseits zum Zweck im Hinblick auf das Recht, das Mittel zur Erreichung der gesetzten Ziele ist; sie wird aber andererseits auch Mittel zur Bewertung des Rechts, und zwar insofern, als das bestehende Recht danach beurteilt wird, ob es gerecht oder ungerecht ist, ob es den Zielsetzungen noch entspricht oder nicht. Es besteht bei dieser Betrachtung von Recht und Gerechtigkeit also sowohl eine Einheit wie eine Verschiedenheit zwischen beiden Kategorien, und Widersprüche zwischen ihnen werden nicht für unmöglich gehalten (a.a.O., S. 591). Dieser Auffassung vom Wesen des sozialistischen Rechts und von dem Verhältnis zwischen sozialistischem Recht und Gerechtigkeit entspricht die der Rechtsprechung im Gesetz über die Gerichtsverfassung gestellte Aufgabe:
„Die Rechtsprechung der Gerichte der Deutschen Demokratischen Republik dient der Lösung der politischen, ökonomischen und kulturellen Aufgaben des Arbeiter- und-Bauern-Staates beim umfassenden Aufbau des Sozialismus, der planmäßigen Entwicklung der Produktivkräfte und der Festigung der sozialistischen Produktionsverhältnisse.“ Besonders herausgestellt wird durch den Rechtspflegeerlaß des Staatsrates und die sich daran anschließenden neuen Gesetze (Justizreform) die Erziehungsfunktion der Rechtsprechung: „Die Gerichte tragen dazu bei, daß alle Bürger, Institutionen und Organisationen das sozialistische Recht bewußt einhalten und verwirklichen, das den Willen des Volkes zum Ausdruck bringt und seinem friedlichen Leben, seiner Freiheit, seiner schöpferischen Arbeit und der Gerechtigkeit für jedermann dient“ (§ 2 Abs. 1, Satz 2 GVG). Mit besonderem Nachdruck wird von den Gerichten die Wahrung und Beachtung sozialistischer Gesetzlichkeit gefordert, d.h. strenge Einhaltung der geltenden Gesetze mit dem Ziel, die errungene Machtstellung mit Hilfe der Justiz unter allen Umständen zu festigen und weiter auszubauen. Eng verbunden damit sind die Forderung nach der echten Parteilichkeit der Rechtsprechung: „Einhaltung der Gesetzlichkeit bedeutet Wahrung der Parteilichkeit“ (Artzt in „Neue Justiz“ 1956, S. 581), und die Feststellung, daß das [S. 516]sozialistische Recht nicht von der marxistisch-leninistischen Partei zu trennen ist (Petzold in „Staat und Recht“ 1961, S. 658).
2. Die verfassungsrechtlichen Grundlagen für die Rechtspflege
In der neuen Verfassung vom 6. 4. 1968 trägt der Abschnitt IV die Überschrift „Sozialistische Gesetzlichkeit und Rechtspflege“. Nach dem einleitenden Art. 86 sind „die sozialistische Gesellschaft, die politische Macht des werktätigen Volkes, ihre Staats- und Rechtsordnung die grundlegende Garantie für die Einhaltung und die Verwirklichung der Gerechtigkeit, Gleichheit, Brüderlichkeit und Menschlichkeit“. Da „politische Macht des werktätigen Volkes“ nach Art. 1 und 2 der Verfassung den Führungsanspruch der marxistisch-leninistischen Partei der Arbeiterklasse impliziert, gehört also auch die Suprematie der SED zu diesen Garantien für die Einhaltung und Verwirklichung der Verfassung. Sie zu bekämpfen oder auch nur anzuzweifeln, wäre Ausdruck einer die Gerechtigkeit und Gesetzlichkeit mißachtenden verfassungsfeindlichen Einstellung. Die sozialistische Gesetzlichkeit soll gemäß Art. 87 Verf. durch die Einbeziehung der Bürger und ihrer Gemeinschaften in die Rechtspflege und in die gesellschaftliche und staatliche Kontrolle über die Einhaltung des sozialistischen Rechts gewährleistet werden (Näheres s. u. Ziff. 8). Der Grundsatz, daß alle leitenden Mitarbeiter in Staat und Wirtschaft gegenüber den Bürgern rechenschaftspflichtig und verantwortlich sind (Art. 88), gilt in vollem Umfang auch für die Richter. Während die alte Verfassung noch die formale Möglichkeit vorsah, daß an der Verfassungsmäßigkeit von Normativakten der Volkskammer Zweifel geäußert werden konnten, fehlt eine solche Bestimmung in der neuen Verfassung. Über Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit von Rechtsvorschriften des Ministerrates und anderer staatlicher Organe entscheidet nach Art. 89 der Staatsrat.
Art. 90 Verf. läßt die dynamische Funktion der sozialistischen Rechtspflege erkennen. Danach dient die Rechtspflege „der Durchführung der sozialistischen Gesetzlichkeit, dem Schutz und der Entwicklung der DDR und ihrer Staats- und Gesellschaftsordnung. Sie schützt die Freiheit, das friedliche Leben, die Rechte und die Würde der Menschen.“ Im zweiten Satz kommt also auch die Schutz-(Unterdrückungs-)Funktion der Rechtspflege zum Ausdruck. Schließlich betont Art. 91 die Verbindlichkeit der allgemein anerkannten Normen des Völkerrechts über die Bestrafung von Verbrechen gegen den Frieden, gegen die Menschlichkeit und von Kriegsverbrechen und wiederholt die bereits in das StGB aufgenommene Bestimmung, daß Verbrechen dieser Art nicht der Verjährung unterliegen.
In den weiteren Verfassungsbestimmungen des IV. Abschnitts werden behandelt die Gerichtsorganisation (s. u. Ziff. 3), die Stellung des Obersten Gerichts, die an einen Richter zu stellenden Voraussetzungen, die Wahl der Richter, Schöffen und Mitglieder der gesellschaftlichen Gerichte, die Stellung der Staatsanwaltschaft. Für das Strafrecht (s. u. Ziff. 5) gelten nach Art. 99 die Grundsätze „nulla poena sine lege“ und „nullum crimen sine lege“, und Art. 100 regelt die Zulässigkeit der Untersuchungshaft. Die Grundsätze, daß niemand seinem gesetzlichen Richter entzogen werden darf und daß Ausnahmegerichte unstatthaft sind, sind ebenso Verfassungsinhalt wie die Gewährung des rechtlichen Gehörs vor Gericht und des Rechts auf Verteidigung (Strafverfahren, Verteidiger). Neu gegenüber der alten Verfassung ist die in Art. 106 vorgesehene Möglichkeit der Haftung des Staates für Schäden, die einem Bürger durch ungesetzliche Maßnahmen von Mitarbeitern der Staatsorgane zugefügt werden. Insoweit bleibt allerdings das angekündigte Staatshaftungsgesetz abzuwarten.
3. Gerichtsorganisation
Nach Art. 92 Verf. wird die Rechtsprechung durch das Oberste Gericht [OG], die Bezirksgerichte, die Kreisgerichte (Gerichtsverfassung) und die gesellschaftlichen Gerichte ausgeübt. Damit hat nunmehr auch die gesellschaftliche Gerichtsbarkeit ihre verfassungsrechtliche Fundierung gefunden. Gleichlautend mit dem Gerichtsverfassungsgesetz wird dem OG in Art. 98, Abs. 2 Verf. die Leitungsfunktion für die gesamte Rechtsprechung zuerkannt. Auch der Grundsatz der Verant[S. 517]wortlichkeit des OG gegenüber der Volkskammer und dem Staatsrat ist in der Verfassung enthalten. Das OG, das seit Dezember 1949 besteht, entscheidet über die vom Generalstaatsanwalt oder vom Präsidenten des OG eingelegten Kassationsanträge (Kassation), als Rechtsmittelgericht bei erstinstanzlichen Entscheidungen der Bezirksgerichte sowie in solchen Strafsachen, in denen der Generalstaatsanwalt wegen der besonderen Bedeutung des Falles die Anklage unmittelbar vor dem OG erhebt. Oft werden die erstinstanzlichen Verhandlungen dann als Schauprozesse durchgeführt. Ein Rechtsmittel steht dem Angeklagten in diesen Fällen nicht zu. Der Angeklagte ist also der Willkür des Generalstaatsanwalts unterworfen, wenn dieser das Verfahren vor das OG in erster und gleichzeitig letzter Instanz bringen will.
Die bis zum August 1952 noch dem alten deutschen Gerichtsverfassungsgesetz entsprechende Gerichtsorganisation war zunächst durch die „VO über die Neugliederung der Gerichte“ vom 28. 8. 1952 der neuen Verwaltungsstruktur angepaßt und dann durch das Gerichtsverfassungsgesetz vom 22. 10. 1952 endgültig geregelt worden. Am 1. 10. 1959 wurde das GVG mit Erlaß des Gesetzes über die Wahl der Richter neu gefaßt und in einigen Bestimmungen in sozialistischem Sinne geändert. Nach dem Rechtspflegeerlaß des Staatsrates vom 4. 4. 1963 erließ die Volkskammer am 17. 4. 1963 ein neues Gerichtsverfassungsgesetz, durch welches das Prinzip des demokratischen Zentralismus im Bereich der Rechtspflege voll verwirklicht wurde. Ferner hatte diese Justizreform zum Ziel, die Tätigkeit der gesellschaftlichen Gerichte gesetzlich zu untermauern und zu aktivieren. Das OG wurde das „Leitungsorgan“ für die gesamte Rechtsprechung, ist aber in dieser Funktion der Volkskammer und dem Staatsrat gegenüber verantwortlich. Der Staatsrat hat nach Art. 71 der Verfassung nicht nur das Recht, rechtsverbindliche Erlasse und Beschlüsse zu erlassen, sondern er kann auch die Verfassung und die Gesetze verbindlich auslegen, also unmittelbar auf die Rechtsprechung einwirken. Er kann ferner dem Plenum des OG den Erlaß von Richtlinien und Beschlüssen empfehlen. Der Staatsrat ist also praktisch der oberste Gerichtsherr. Die zur Durchsetzung der Leitungsaufgaben des OG geschaffenen Organe dieses Gerichts, das Plenum und das Präsidium haben die Befugnis, Richtlinien und Beschlüsse mit bindender Wirkung für alle Gerichte zu erlassen. Diese Befugnis erstreckt sich auch auf die Militärgerichtsbarkeit, die in der Spitze beim Kollegium für Militärstrafen des OG zusammenläuft. Die Arbeitsgerichte sind als Kammern bzw. Senate der Kreis- und Bezirksgerichte in die ordentliche Gerichtsbarkeit eingegliedert. In allen erstinstanzlichen Verfahren der Kreis- und Bezirksgerichte wirken Schöffen mit, in Arbeitsrechtsstreitigkeiten entscheiden auch die Rechtsmittelsenate der Bezirksgerichte und der Senat des OG unter Beteiligung von Schöffen.
Die Richter werden in allen Gerichten auf 4 Jahre gewählt und sind für ihre Rechtsprechung sowohl dem übergeordneten Gericht wie der örtlichen Volksvertretung ihres Bezirks oder Kreises verantwortlich. Der in der Verfassung und im Gerichtsverfassungsgesetz enthaltene Grundsatz von der richterlichen Unabhängigkeit ist faktisch beseitigt. Die Personalpolitik (Kaderpolitik) vollzog sich seit 1945 unter dem Gesichtspunkt der Demokratisierung der Justiz und hatte zur Folge, daß die akademischen Juristen mehr und mehr aus den Richter- und Staatsanwaltstellen verdrängt und zunächst durch Volksrichter und Volksstaatsanwälte ersetzt wurden. Der Mangel der fehlenden akademisch-wissenschaftlichen Ausbildung sollte durch „große Lebenserfahrung“ dieser neuen Richter ausgeglichen werden. Das Mindestalter betrug 23 Jahre. Das notwendige juristische Grundwissen sollte den Schülern während eines Lehrganges beigebracht werden. Der erste Lehrgang dauerte 6 Monate, der zweite 8 Monate, die nächsten drei dann jeweils ein Jahr. Später betrug die Lehrgangsdauer auf der Deutschen Akademie für Staats und Rechtswissenschaft „Walter Ulbricht“ zunächst 2, dann 3 Jahre und seit Beginn des Studienjahres 1955/56 bis zur Umgestaltung der Akademie im Jan. 1964 4 Jahre. In dieser Zeit bestand kein Unterschied mehr zum akademisch-juristischen Studium an den Universitäten (Rechtsstudium). Nur noch knapp 2. v. H. aller Richter haben die alte rechtswissenschaftliche Ausbildung genossen und zwei juristische Staatsprüfungen abgelegt. Sämtliche wichtigen Positionen sind mit Angehörigen der SED besetzt.
[S. 519]Für die Richter, die der SED angehören — das sind über 90 v. H. aller Richter — gilt wie für jedes andere Parteimitglied das Statut der SED, das auf dem VI. Parteitag im Januar 1963 beschlossen wurde. Danach ist jedes Parteimitglied verpflichtet, „seine Arbeit in den staatlichen und wirtschaftlichen Organen und in den Massenorganisationen entsprechend den Beschlüssen der Partei, im Interesse der Werktätigen zu leisten; die Partei- und Staatsdisziplin zu wahren, die für alle Mitglieder der Partei im gleichen Maße bindend ist. Wer die Partei- und Staatsdisziplin verletzt, ist, unabhängig von seinen Verdiensten und der Stellung, die er einnimmt, zur Verantwortung zu ziehen“ (Abschn. I, Ziff. 2g des Statuts). Damit ist es der SED immer möglich, unmittelbar auf die Rechtsprechung einzuwirken und vor allem die Schwerpunkte der Rechtsprechung zu bestimmen.
Der „Richter neuen Typus“ darf nicht dem Objektivismus erliegen, sondern muß in seiner Rechtsprechung die Parteilichkeit wahren und beweisen, daß er die alte Klassenjustiz überwunden hat. Der Richter muß stets von dem Gedanken ausgehen, daß seine Urteile in erster Linie der „Gesellschaft“, also dem Regime, nützen müssen. Es kommt dabei nicht auf eine nur „formelle“ Anwendung des Gesetzes an, sondern auf dessen Auslegung im Sinne der SED.
4. Die weiteren Organe der Rechtsprechung
Die Staatsanwaltschaft ist aus dem Justizapparat herausgelöst und in eine selbständige, unmittelbar der Volkskammer und dem Staatsrat unterstehende Behörde umgewandelt worden. Mit dem 1. 6. 1952, dem Tage des Inkrafttretens des ersten „Gesetzes über die Staatsanwaltschaft der DDR“, war die erste Periode der Rechtsangleichung an das sowjetische Vorbild auf dem Gebiet der Strafverfolgung, der Strafvollstreckung und des Strafvollzuges beendet. Das neue Staatsanwaltschaftsgesetz vom 17. 4. 1963 bezeichnet die Staatsanwaltschaft als ein Organ der einheitlichen sozialistischen Staatsmacht und beschreibt im einzelnen Funktion und Aufgaben dieses Organs in der Periode des „umfassenden Aufbaus des Sozialismus“. Die Staatsanwaltschaft soll in ihrer Tätigkeit einen wichtigen Beitrag zur Erziehung der Bürger zum sozialistischen Denken und Handeln leisten. Auch für dieses Staatsorgan steht also die Erziehungsfunktion des Rechts im Vordergrund. Die Justizverwaltung hat schon 1952 ihre Aufsichtsbefugnisse über die Staatsanwaltschaft, mit dem Rechtspflegeerlaß des Staatsrates vom 4. 4. 1963 auch ihre Befugnis der Kontrolle und Anleitung der Rechtsprechung eingebüßt. Ihre heutigen Aufgaben liegen auf dem Gebiet der Revision der Gerichte, der Kaderpolitik, der Gerichtsverwaltung und der Vorbereitung der Justizgesetzgebung. Dem Ministerium der Justiz obliegt es in seiner Verantwortlichkeit für die Kaderpolitik, die Grundsätze für die Ausbildung der juristischen Kader gemeinsam mit dem Staats-Sekretariat für das Hoch- und Fachschulwesen sowie den Universitäten auszuarbeiten und durchzusetzen.
Mit der Justizreform des Jahres 1952 wurden große Gebiete der Freiwilligen Gerichtsbarkeit auf Verwaltungsstellen übertragen und das Staatliche Notariat eingerichtet. Auch in der Rechtsanwaltschaft wurde durch die Bildung der Anwaltskollegien eine grundsätzliche Neuordnung vorgenommen. Der Staatsrat bezeichnet die Rechtsanwaltschaft in seinem Rechtspflegeerlaß als eine „gesellschaftliche Einrichtung der sozialistischen Rechtspflege“. Besonders hebt er hervor, daß sich die Mehrzahl der Rechtsanwälte freiwillig in den Kollegien zusammengeschlossen haben. Am 1. 9. 1967 nahm in Ostberlin ein „Rechtsanwaltsbüro für internationale Zivilrechtsvertretungen“ seine Tätigkeit auf, das nach Art eines Kollegiums organisiert ist und Rechtsvertretungen in anderen Staaten sowie Vertretungen von ausländischen (auch westdeutschen und Westberliner) Bürgern und juristischen Personen vor Gerichten der „DDR“ wahrnimmt.
Anleitung und Aufsicht über die Tätigkeit der Rechtsanwälte und Notare obliegen dem Ministerium der Justiz. Eine Standesorganisation und eigene Ehrengerichtsbarkeit gibt es für die Rechtsanwaltschaft nicht. Durch den Verteidiger im „sozialistischen“ Strafprozeß soll ein „neuer Arbeitsstil“ entwickelt werden, der die erzieherische Rolle des Rechtsanwalts mehr in den Vordergrund rückt.
[S. 520]
5. Strafrecht
Der Schwerpunkt der gesamten Rechtsprechung liegt auf dem Gebiet des Strafrechts, das durch das sozialistische Strafgesetzbuch vom 12. 1. 1968 [GBl. I, S. 1] eine neue materielle Grundlage erhielt. In der strafrechtlichen Praxis der Strafverfolgungsorgane und Gerichte können drei Gruppen unterschieden werden: die politischen Strafsachen, die Wirtschaftsstrafsachen und alle übrigen Delikte. Die politischen Strafsachen werden bei der Staatsanwaltschaft von der Abt. I bearbeitet und von den I. Senaten des OG und der Bezirksgerichte entschieden, Wirtschaftsdelikte und alle anderen Strafsachen von der Abt. II und den II. Senaten der Bezirksgerichte oder den Strafkammern der Kreisgerichte. Auf dem Gebiet des politischen Strafrechts wurde, nachdem durch Beschluß der Sowjetregierung vom 20. 9. 1955 alle „Gesetze, Direktiven und Befehle des Alliierten Kontrollrats als überflüssig erachtet werden und auf dem Gebiet der DDR ihre Gültigkeit verlieren“, bis zum 1. 2. 1958 fast ausschließlich Art. 6 der alten Verfassung angewandt, der die sog. Boykott-, Kriegs- und Mordhetze für strafbar erklärte. Der Art. III A III der Kontrollratsdirektive 38, der bis zum 29. 9. 1955 zur Verurteilung wegen „Erfindung oder Verbreitung tendenziöser, friedensgefährdender Gerüchte“ (Friedensgefährdung) herangezogen wurde, konnte nicht mehr Grundlage politischer Strafverfahren sein. Das Friedensschutzgesetz vom 16. 12. 1950 wurde vom OG nur wenig angewandt. Seit Inkrafttreten des Strafrechtsergänzungsgesetzes (StEG) am 1. 2. 1958 bildete dieses die Grundlage für die Bestrafung der Staatsverbrechen, zu denen seitdem auch die Abwerbung gehörte. Art. 6 der Verfassung behielt aber seinen Charakter als unmittelbar anzuwendendes Strafgesetz, blieb also als Generalklausel hinter den neu geschaffenen, sehr allgemein formulierten Tatbeständen bestehen. Das neue Strafgesetzbuch faßt die politischen Straftatbestände in den ersten beiden Kapiteln des Besonderen Teils zusammen (Aggressionsverbrechen, Kriegshetze, Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die ➝Menschlichkeit, Staatsverbrechen).
Besonders kraß trat die Unterdrückungsfunktion des Strafrechts, insbesondere der politischen Straftatbestände, in den vor dem Obersten Gericht durchgeführten Prozessen gegen „Kopfjäger“, „Menschenhändler“ (staatsfeindlicher ➝Menschenhandel) und „Terroristen“ (Terror) in Erscheinung sowie in all den Strafverfahren, in denen es sich um tatsächliche oder angebliche Verletzungen der Anordnungen und Bestimmungen über das Sperrgebiet handelte. Hohe Freiheitsstrafen werden in politischen Prozessen auch gegen Jugendliche verhängt (Jugendstrafrecht). Durch eine gleichzeitig mit dem StEG erfolgte Änderung des Paßgesetzes wurden auch Versuch und Vorbereitung der Republikflucht unter Strafe gestellt. (Paßwesen)
Auf dem Gebiet des Wirtschaftsstrafrechts wurden bis 1955 vor allem folgende vier Gesetze angewendet: Befehl Nr. 160 der SMAD vom 3. 12. 1945 (Sabotage), die Wirtschaftsstrafverordnung vom 23. 9. 1948, das Gesetz zum Schutze des innerdeutschen Handels vom 21. 4. 1950 und das Gesetz zum Schutze des Volkseigentums vom 2. 10. 1952. Mit der Außerkraftsetzung des Besatzungsrechts war auch der Befehl Nr. 160 aufgehoben worden. Sabotage wurde, sofern nicht eine der anderen wirtschaftsrechtlichen Normen zur Anwendung gelangte, seitdem als eine der unter Boykotthetze fallenden Erscheinungsformen im Klassenkampf angesehen und nach Art. 6 der Verfassung bestraft. Das StEG hat mit Wirkung vom 1. 2. 1958 zwei selbständige Tatbestände für Diversion und Sabotage eingeführt, und das neue Strafgesetzbuch bringt eine Erweiterung beider Tatbestände. Die Anwendung dieser Gesetze hat im Regelfall neben einer erheblichen Freiheitsstrafe die Einziehung des gesamten Vermögens des Angeklagten zur Folge.
Das Gesetz zum Schutze des Volkseigentums wurde durch das StEG aufgehoben; die Bestrafung der „Verbrechen gegen gesellschaftliches Eigentum“ erhielt in den Bestimmungen des StGB eine neue gesetzliche Grundlage. Das Gesetz zum Schutze des innerdeutschen Handels wurde durch das Zollgesetz vom 28. 3. 1962 aufgehoben. Eine materiell-rechtliche Änderung hat sich dadurch jedoch nicht ergeben, da die Strafandrohungen in das Zollgesetz übernommen worden sind. Wirtschaftsprozesse wurden oft als Schauprozesse und auch gegen solche Angeklagte durch[S. 521]geführt, die entweder gerade noch rechtzeitig flüchten konnten oder die ihren Wohnsitz niemals in Mitteldeutschland hatten, wohl aber irgendwelche Vermögenswerte oder Betriebe. Diese sog. Abwesenheitsverfahren waren nach der bis zum 15. 10. 1952 geltenden Strafprozeßordnung nur zulässig, wenn sich der Angeschuldigte im Ausland aufhielt oder im Inland verbarg. Da in vielen Fällen die Angeschuldigten den Behörden eine ladungsfähige Anschrift in der BRD mitteilten, entfielen beide Voraussetzungen. Dennoch wandten die Gerichte die §§ 276 ff. StPO analog an, um das Vermögen oder den Betrieb des Angeklagten enteignen zu können. Nach der neuen Strafprozeßordnung sind Verfahren in Abwesenheit des Angeklagten zulässig, wenn sich dieser „außerhalb des Gebietes der DDR aufhält oder sich verbirgt“.
Das deutsche Strafgesetzbuch von 1871, das bis zum Inkrafttreten des neuen, sozialistischen Strafgesetzbuchs noch weiterhin galt und materielle Rechtsgrundlage für die übrigen Strafverfahren war, war stets als „sanktioniertes Recht“ entsprechend den „Erfordernissen der gesellschaftlichen Interessen“ und unter „Überwindung der überholten Klassenjustiz“ anzuwenden. Entscheidendes Element für die Strafwürdigkeit einer Handlung oder Unterlassung war die Gesellschaftsgefährlichkeit, womit eine unmittelbare Anlehnung an das sowjet. Strafrecht vollzogen wurde. „Aufgabe der demokratischen Rechtsprechung ist es, die gesellschaftlichen Verhältnisse der DDR mit den uns zur Verfügung gestellten Gesetzen, seien sie sanktioniert oder neu geschaffen, zu schützen. Dabei ist der Hinweis notwendig, daß mit der Sanktionierung gewisser alter Gesetze keineswegs die Übernahme der von den bürgerlichen Gerichten angewandten Auslegungsregeln verbunden ist“ „Neue Justiz“ 1956, Beilage S. 10). Das Strafrechtsergänzungsgesetz führte neben dem aus dem sowjet. Recht übernommenen „materiellen Verbrechensbegriff“ die neuen Strafen Bedingte Verurteilung und öffentlicher Tadel ein; ferner wurden durch dieses Gesetz sechs Tatbestände des Militärstrafrechts geschaffen. Letztere wurden durch das 2. Strafrechtsergänzungsgesetz (Militärstrafgesetz) vom 24. 1. 1962 z. T. geändert und um weitere Tatbestände ergänzt.
Mit Inkrafttreten des neuen Strafgesetzbuchs tritt eine Differenzierung der Rechtsverletzungen in Straftaten, Verfehlungen, und Ordnungswidrigkeiten ein. Verfehlungen und Ordnungswidrigkeiten zählen nicht zu den Straftaten. Bei der Beschreibung der Straftaten sind deutlich die Schwierigkeiten zu bemerken, vor denen die Verfasser des neuen StGB in dem Bemühen standen, gegenüber dem bisherigen „bürgerlichen“ Strafrecht etwas Neues zu schaffen. Nachdem Anfang der 50er Jahre verkündet worden war, daß die Unterteilung in Verbrechen, Vergehen und Übertretungen zugunsten eines einheitlichen Verbrechensbegriffs fallengelassen werde, wird nunmehr wieder die Auffassung, „daß einheitliches Wesensmerkmal aller Straftaten ihre Gesellschaftsgefährlichkeit sei“, überwunden. Man kehrt also zur differenzierten Ausgestaltung in Verbrechen und Vergehen zurück. Einheitlich werden in allen Straftaten folgende Eigenschaften gesehen: 1. Gesellschaftswidrigkeit (bei Vergehen) und Gesellschaftsgefährlichkeit (bei Verbrechen), 2. die moralisch-politische Verwerflichkeit, 3. die Strafrechtswidrigkeit und 4. die Strafbarkeit oder strafrechtliche Verantwortlichkeit vor einem gesellschaftlichen Organ der Rechtspflege (Strafrecht). Das neue StGB weist ein differenziertes Strafensystem auf. Es behielt die Todesstrafe bei. Außerhalb des StGB geregelte Straftatbestände wurden durch das Anpassungsgesetz vom 11. 6. 1968 (GBl. I, S. 242) an das Strafsystem des StGB angepaßt. Der in § 1 Abs. 4 EGStGB enthaltenen Verpflichtung, eine Zusammenstellung aller geltenden Straftatbestände außerhalb des StGB im Gesetzblatt zu veröffentlichen, ist der Minister der Justiz mit einer kurzen Bekanntmachung vom 21. 6. 1968 (GBl. II, S. 405) nachgekommen. Er weist auf die im Anpassungsgesetz enthaltenen Bestimmungen. Das bedeutet, daß es außerhalb des StGB und des Anpassungsgesetzes keine Straftatbestände mehr gibt.
Von besonderer Bedeutung für die Strafpolitik waren zunächst die Beschlüsse des Staatsrates vom 30. 1. 1961 (GBl. I, S. 3) und vom 24. 5. 1962 (GBl. I, S. 53) „über die weitere Entwicklung der Rechtspflege“, nach denen die richtig „differenzierte“ Strafe vom Grad der Gesellschaftsgefährlichkeit und von der persönlichen [S. 522]Einstellung des Täters zur „Arbeiter-und-Bauern-Macht“ abhängig sein soll. Den Beschlüssen kam gemäß Art. 106 der am 12. 9. 1960 geänderten alten Verfassung Gesetzeskraft zu. Zur Durchführung des ersten Beschlusses hat das OG in der Richtlinie Nr. 12 vom 22. 4. 1961 (GBl. III, S. 223) den Gerichten Hinweise für die zu verhängenden Strafen und in der Richtlinie Nr. 13 eine Anleitung zur Frage der Gesellschaftsgefährlichkeit erteilt. Nach einer scharfen Auseinandersetzung mit maßgebenden Strafrechtswissenschaftlern stellte der Staatsrat am 24. 5. 1962 in seinem weiteren Beschluß fest, daß „die große Mehrzahl der in der DDR begangenen Gesetzesverletzungen nicht auf einer feindlichen Einstellung gegen den Arbeiter-und-Bauern-Staat beruht“. Die in diesen Beschlüssen bereits zum Ausdruck kommende Tendenz, die gesellschaftliche Gerichtsbarkeit auszuweiten, wurde durch den Erlaß des Staatsrates über die grundsätzlichen Aufgaben und die Arbeitsweise der Organe der Rechtspflege vom 4. 4. 1963 (GBl. I, S. 21) noch erheblich verstärkt (Konfliktkommission, Schiedskommission). In dem Bemühen, den verbindlichen Weisungen des Staatsrates zu folgen, stellten die Gerichte bei der Beurteilung krimineller Delikte häufig fest, daß es sich bei den Angeklagten nicht um „Feinde der Arbeiter-und-Bauern-Macht“ handelte, und verhängten milde Strafen. Da dies in schlechthin unverständlichem Ausmaß auch bei der Bestrafung von Gewalt- und Sexualverbrechen erfolgte, mußte das Plenum des OG in einem Beschluß vom 30. 6. 1963 anordnen, daß die Strafpolitik gegenüber derartigen Verbrechen wieder erheblich härter werden müsse, und daß im Regelfall die Freiheitsstrafe als härteste staatliche Zwangsmaßnahme zu verhängen sei. Eine gleichartige Anleitung wurde hinsichtlich der Bestrafung von Rückfalltätern erlassen. Die Folge dieser Beschlüsse und Anleitungen war, daß im zweiten Halbjahr 1963 die Strafen ohne Freiheitsentziehung (öffentlicher Tadel, Geldstrafe, bedingte Verurteilung) und die Übergabe von Strafsachen an die Konfliktkommissionen zurückgingen, während die Verurteilungen zu Freiheitsstrafen, vor allem zu kurzen Freiheitsstrafen, wieder Zunahmen. Der Präsident des OG, Toeplitz, bezeichnete diese Entwicklung als negativ („Neue Justiz“ 1964, S. 321), rügte „einige überspitzte Bestrafungen bei Sexualdelikten“ und orientierte damit wieder mehr auf die Verhängung von Strafen ohne Freiheitsentziehung, vor allem aber auf eine noch stärkere Einschaltung der gesellschaftlichen Gerichte. Die Richtlinien Nr. 12 und Nr. 13 wurden durch Beschlüsse des Plenums des OG vom 6. 5. 1964 ersatzlos aufgehoben, weil sie nach Auffassung des OG dem derzeitigen Stand der gesellschaftlichen Entwicklung nicht mehr entsprachen und einengend und schematisch auf die Anwendung kurzer Freiheitsstrafen orientierten. Aus diesen verschiedenen, sich z. T. widersprechenden Anordnungen wird deutlich, welchen Schwankungen die Strafpolitik in der „DDR“ unterworfen ist.
Für die Durchführung des Strafverfahrens war bis zum 30. 6. 1968 die im Zuge der 1. Justizreform erlassene Strafprozeßordnung vom 2. 10. 1952 gesetzliche Grundlage, seit 1. 7. 1968 ist es die neue Strafprozeßordnung vom 12. 1. 1968 (GBl. I, 5. 49). Nach der Richtlinie Nr. 22 des Plenums des OG vom 14. 12. 1966 (GBl. 1967, II, S. 17) muß das Strafverfahren so gestaltet werden, „daß das Verständnis der gesellschaftlichen Kräfte für die Entscheidung des Gerichts erhöht und ihre Initiative zur bewußten Umgestaltung der gesellschaftlichen Entwicklung gefördert werden“. Darum soll die Bevölkerung zur bewußten und aktiven Mitwirkung im Strafverfahren herangezogen werden. Strafvollstreckung und Strafvollzug sind der Deutschen Volkspolizei übertragen worden; die Staatsanwaltschaft hat lediglich theoretische Aufsichtsbefugnisse. Das Gnadenrecht liegt in der Hand des Staatsrats. Das Strafregisterwesen (Strafregister) ist durch Gesetz vom 11. 6. 1968 — in Kraft getreten am 1. 7. 1968 — neu geregelt worden; die Straftilgungsfristen wurden erheblich verkürzt.
6. Zivil-, Familien-, Arbeitsrecht
Auf zivilrechtlichem Gebiet gelten noch das Bürgerliche Gesetzbuch und die Zivilprozeßordnung (Zivilprozeß), beide allerdings mit Ausnahmen und Einschränkungen. Im Justizministerium der „DDR“ wird an der Erstellung eines neuen Zivilgesetzbuchs und einer neuen Zivilprozeßordnung gearbeitet. Die Vorschriften der Zivilprozeßordnung wurden der neuen Gerichtsverfassung durch die „VO zur An[S. 523]gleichung von Verfahrens Vorschriften auf dem Gebiet des Zivilrechts an das Gerichtsverfassungsgesetz (Angleichungsverordnung)“ vom 4. 10. 1952 angepaßt. In familienrechtlichen Streitigkeiten sind seit 1949 die untersten Gerichtsinstanzen, die Kreisgerichte, zuständig, die das Verfahren nach der „Familienverfahrensordnung“ vom 17. 2. 1966 (GBl. II, S. 171) durchzuführen haben. Nachdem auf dem Gebiet des Familienrechts zunächst lediglich das Kontrollratsgesetz Nr. 16 (Ehegesetz vom 20. 2. 1946) durch die „VO über Eheschließung und Eheauflösung“ vom 24. 11. 1955 ersetzt worden war, wurde das gesamte Familienrecht mit Wirkung vom 1. 4. 1966 durch das „Familiengesetzbuch der DDR“ (FGB) vom 20. 12. 1965 (GBl. 1966, I, S. 1) neu geregelt und damit neben zahlreichen anderen gesetzlichen Bestimmungen auch das 4. Buch des BGB aufgehoben. Das neue Gesetz soll den gesamten Bereich der Familie und ihre Stellung in der sozialistischen Gesellschaft erfassen. Unverkennbar tritt in ihm der Instrumentalcharakter des sozialistischen Rechts zutage. In vielen Bestimmungen stellt das FGB weniger Rechtsnormen zur Lösung von Konfliktsfällen auf als vielmehr eine Anleitung zum Handeln für Ehegatten, Eltern und Kinder zum Zwecke der Entwicklung und Festigung der sozialistischen Gesellschaftsordnung.
Eine Neuregelung haben schließlich das Patentrecht, das Urheberrecht und das Warenzeichenrecht (Warenzeichen) erfahren. Auch in Zivilsachen werden die gerichtlichen Erkenntnisse von politischen Erwägungen bestimmt. Dies gilt besonders für das Gebiet des Familienrechts und vor allem bei Klagen, an denen VEB, Verwaltungen, Parteien oder gesellschaftliche Organisationen beteiligt sind. Eine Zwangsvollstreckung gibt es nur noch gegenüber Einzelpersonen und Privatbetrieben, nicht mehr gegen einen VEB. Hier wurde ein besonderes Anweisungsverfahren entwickelt. Das Konkursrecht (Konkurs) spielt in der Praxis kaum noch eine Rolle. Das Arbeitsrecht soll in erster Linie der Weiterentwicklung der „sozialistischen Arbeitsverhältnisse“ dienen. Seine neue gesetzliche Grundlage hat es im Gesetzbuch der Arbeit vom 12. 4. 1961 gefunden. Für die Behandlung arbeitsrechtlicher Streitigkeiten sind in Betrieben und Verwaltungen, in denen Konfliktkommissionen bestehen, zunächst diese zuständig. Erst gegen einen Beschluß der Konfliktkommission ist Einspruch beim zuständigen Kreisgericht möglich.
7. Wirtschaftsrecht
Lange Zeit wurde in der Rechtswissenschaft diskutiert, ob das Wirtschaftsrecht als zum Zivilrecht gehörend zu betrachten oder als ein eigener Rechtszweig zu werten sei. Eine in den Gesetzgebungsplänen des Justizministeriums vorgesehene Trennung zwischen Zivilrecht und Wirtschaftsrecht war im Jahre 1963 nach dem VI. Parteitag der SED fallengelassen worden, während sich dann nach Verkündigung des Neuen ökonomischen Systems der Planung und Leitung der Volkswirtschaft die Auffassung durchsetzte, daß das Wirtschaftsrecht als besonderes Rechtsgebiet behandelt werden müsse. Auf dem VII. Parteitag der SED wurde dann die Forderung erhoben, ein gründlich ausgearbeitetes Wirtschaftsrecht zu schaffen, und es begann eine Diskussion um eine wirtschaftliche Grundsatzgesetzgebung. Diese rechtswissenschaftliche Systematik wird damit eher der Praxis gerecht, denn Rechtsstreitigkeiten der sozialistischen Betriebe untereinander und zwischen sozialistischen, halbstaatlichen und privaten Betrieben im Rahmen des Vertragssystems sind schon seit langem aus der Zuständigkeit der ordentlichen Gerichte herausgenommen und unterliegen nach den materiellen Bestimmungen des Vertragsgesetzes der Entscheidung der Vertragsgerichtsbarkeit (Staatliches Zentrales Vertragsgericht).
Das Wirtschaftsrecht wird als ein „wichtiges Instrument zur Gestaltung des ökonomischen Systems des Sozialismus und der wissenschaftlichen sozialistischen Wirtschaftsführung“ bezeichnet („Staat und Recht“ 1968, S. 595). Ebenso wie das gesamte sozialistische Recht soll gerade das Wirtschaftsrecht eine aktive und vorwärtsdrängende Funktion ausüben und Instrument zur Beherrschung ökonomischer und anderer gesellschaftlicher Prozesse sein. Es soll als „hocheffektives Instrument der Steuerung und Regelung ökonomischer Prozesse“ erkannt und angewendet werden. Das bislang für die Praxis geschaffene System wirtschaftsrechtlicher Regelungen wird als entwicklungsbedürftig und noch keineswegs vollendet angesehen.
[S. 524]Begonnen wurde mit der Schaffung von Grundsatzregelungen über die Rechtsstellung von Wirtschaftsorganen (Wirtschaftsrecht). Ältere gesetzliche Regelungen, die im Vertragsgesetz, in der Regelung des Investitionswesens, den Planungsgrundsätzen (Planung), der Prämienfonds-VO formuliert worden sind, sollen wirtschaftliche Prozeßabläufe regulieren und wiederholbares Verhalten im Planungsablauf rationell organisieren. Gefordert wird, daß unter Einbeziehung dieser Einzelregelungen ein lückenloses wirtschaftsrechtliches Gesamtregelungssystem geschaffen und ständig der weiteren ökonomischen Entwicklung angepaßt wird. Dabei wird eine Koordinierung mit der Ausarbeitung des Zivilgesetzbuchs erfolgen. Am Ende all dieser Bemühungen auf wirtschaftsrechtlichem Gebiet wird neben der dann geschaffenen Grundsatzregelung die Aufhebung der wirtschaftsrechtlichen Bestimmungen stehon, die vor dem neuen ökonomischen System erlassen wurden, sowie der heute noch (formell) geltenden Bestimmungen aus der Zeit vor 1945 (DGB-HGB).
8. Gesellschaftliche Erziehung, gesellschaftliche Gerichte und massenpolitische Arbeit
Ihr besonderes Augenmerk haben die Gerichte darauf zu richten, daß einmal im Straf- oder Zivilprozeß die entstandenen Widersprüche in der Gesellschaft und zur gesellschaftlichen Entwicklung aufgedeckt werden und daß in allen geeigneten Fällen im Anschluß an ein gerichtliches Verfahren eine gesellschaftliche Erziehung einsetzt, die gegebenenfalls vom Gericht organisiert werden muß. Aus den Erfahrungen in dieser Tätigkeit konnte dann der weitere Schritt zu gesellschaftlichen Gerichten vollzogen werden, der mit der Übertragung neuer Befugnisse auf die Konfliktkommissionen und der Bildung von Schiedskommissionen getan worden ist. Um die Wirksamkeit der Rechtsprechung auf die „sozialistische Bewußtseinsbildung“ zu erhöhen, ordnete der Staatsrat in seinem Rechtspflegeerlaß vom 4. 4. 1963 an, daß die Gerichte bei allen geeigneten Verfahren den Gewerkschaftsleitungen, Leitungen der FDJ, Betriebsleitungen, Ausschüssen der Nationalen Front und anderen Organen, Einrichtungen und Kollektiven, die von der Angelegenheit berührt werden, Nachricht über die stattfindende Verhandlung zu geben und solche Verhandlungen unmittelbar in den Betrieben, Genossenschaften und Einrichtungen durchzuführen haben. Vertreter von sozialistischen Betrieben, Hausgemeinschaften und anderen Kollektiven der Werktätigen sollen im Strafprozeß zur Teilnahme an der Hauptverhandlung geladen werden. Die Betriebe pp. können auch gesellschaftliche Ankläger und Verteidiger zur Mitwirkung an der Hauptverhandlung beauftragen. Zur Erhöhung der erzieherischen Wirkung einer Verurteilung auf ➝Bewährung kann der Verurteilte durch das Gericht verpflichtet werden, seinen bisherigen oder einen ihm zugewiesenen Arbeitsplatz nicht zu wechseln. Ferner können „sozialistische Kollektive“ eine gesellschaftliche ➝Bürgschaft für den Angeklagten übernehmen.
Im einzelnen ordnete die Richtlinie Nr. 22 des Plenums des OG vom 14. 12. 1966 (GBl. 1967, II, S. 17) an, in welcher Form die „werktätigen Massen“ in ein Strafverfahren einbezogen werden sollen. Nachdem diese Fragen nunmehr in §§ 53–60 der Strafprozeßordnung behandelt werden, das Strafgesetzbuch in § 28 die Voraussetzungen der Übergabe einer Strafsache an gesellschaftliche Organe der Rechtspflege regelt und das Gesetz vom 11. 6. 1968 (GBl. I, S. 229) Stellung und Tätigkeit der gesellschaftlichen Gerichte neu bestimmt, konnte die Richtlinie Nr. 22 durch Beschluß vom 12. 6. 1968 (GBl. II, S. 535) aufgehoben werden.
Im Rechtspflegeerlaß vom 4. 4. 1963 gibt der Staatsrat auch Weisungen für die massenpolitische Arbeit der Justiz. Er ordnet eine enge Zusammenarbeit zwischen allen Organen der Rechtspflege und den Volksvertretungen, den gesellschaftlichen Organisationen, den Ausschüssen der Nationalen Front an. Diese Zusammenarbeit soll alle gesellschaftlichen Kräfte „für die Festigung des sozialistischen Gemeinschaftslebens, für den Kampf gegen Verbrechen und Vergehen“ mobilisieren und das Staats- und Rechtsbewußtsein der Bürger entwickeln. Eines von verschiedenen Mitteln, um diese Erfolge zu erzielen, sind Justizausspracheabende der Richter und Schöffen mit der Bevölkerung. Hier sollen „der fortschrittliche Charakter unserer Gesetze und ihre Anwendung in der Praxis der Justizorgane erläutert und dem Gerichtssystem der Bonner Justiz gegenübergestellt werden“ (Görner in „Staat und Recht“ 1957, S. 662). Vorbild in allem ist die SU, über deren „sozialistische Gesetzlichkeit“ der [S. 525]Leiter des Rechtsinstituts der Akademie der Wissenschaften der UdSSR, Prof. P. E. Orlowski, sagt: „Die sozialistische Gesetzlichkeit ist ein Mittel zur Festigung des sozialistischen Staates, zur Verwirklichung seiner Funktionen und Aufgaben, und sie gewährleistet zur gleichen Zeit die Verwirklichung der Rechte der Sowjetbürger … Dank der weisen Führung durch die kommunistische Partei dient die sowjetische sozialistische Gesetzlichkeit der großen Sache des Aufbaus des Kommunismus in unserem Lande“ („Neue Justiz“, 1954, S. 613 ff.).
Literaturangaben
- Dirnecker, Bert: Recht in West und Ost. Pfaffenhofen/Ilm 1956, Ilmgau-Verlag. 178 S.
- Drath, Martin: Verfassungsrecht und Verfassungswirklichkeit in der sowjetischen Besatzungszone Deutschlands. 4., erw. Aufl. (BMG) 1956. 91 S.
- Das Eigentum im Ostblock. (Studien des Instituts für Ostrecht, München, Bd. 5) (Sammelband). Berlin 1958, Verlag für internationalen Kulturaustausch. 113 S.
- : Fragen der Gerichtsverfassung im Ostblock. (Studien des Instituts für Ostrecht, München, Bd. 2) (Sammelband). Berlin 1958, Verlag für internationalen Kulturaustausch. 92 S.
- Hagemeyer, Maria: Zum Familienrecht der Sowjetzone — Der „Entwurf des Familiengesetzbuches“ und die „Verordnung über die Eheschließung und Eheauflösung“. 3., überarb. Aufl. (BMG) 1958. 75 S.
- Hellbeck, Hanspeter: Die Staatsanwaltschaft in der sowjetischen Besatzungszone. 2., erw. Aufl. (BMG) 1955. 104 S. m. 7 Anlagen.
- Rosenthal, Walther, Richard Lange, und Arwed Blomeyer: Die Justiz in der sowjetischen Besatzungszone Deutschlands. 4., überarb. Aufl. (BB) 1959. 206 S.
- Rosenthal, Walther: Die Justiz in der sowjetischen Besatzungszone Deutschlands — Aufgaben, Methoden und Aufbau. (BB) 1962. 175 S.
- Rosenthal, Walther: Das neue politische Strafrecht in der DDR. Frankfurt a. M., 1968, Alfred Metzner. 104 S.
- Unrecht als System — Dokumente über planmäßige Rechtsverletzungen im sowjetischen Besatzungsgebiet. (BMG) 1952. 239 S.
- Unrecht als System, Bd. II — Dokumente über planmäßige Rechtsverletzungen im sowjetischen Besatzungsgebiet 1952 bis 1954. (BMG) 1955. 293 S. Eine englische, eine französische und eine spanische Ausgabe bringen die in Bd. I zusammengestellten Dokumente.
- Unrecht als System, Bd. III… 1954 bis 1958. (BMG) 1958. 248 S.
- Unrecht als System, Bd. IV … 1958 bis 1961 (BMG) 1962. 291 S.
- Samson, Benvenuto: Grundzüge des mitteldeutschen Wirtschaftsrechts. Frankfurt a. M. 1960, Alfred Metzner. 146 S.
- : „Österreichische Ost-Hefte — Mitteilungsorgan der Arbeitsgemeinschaft Ost“, Wien, Stiasny-Verlag. Erscheint zweimonatlich seit 1959.
Fundstelle: A bis Z. Elfte, überarbeitete und erweiterte Auflage, Bonn 1969: S. 514–525