DDR von A-Z, Band 1969

Richter (1969)

 

 

Siehe auch:


 

Art. 94 der Verfassung vom 6. 4. 1968 bestimmt: „R. kann nur sein, wer dem Volk und seinem sozialistischen Staat treu ergeben ist und über ein hohes Maß an Wissen und Lebenserfahrung, an menschlicher Reife und Charakterfestigkeit verfügt.“ Ähnlich fordert § 45 GVG: „Die R. müssen nach ihrer Persönlichkeit und Tätigkeit die Gewähr dafür bieten, daß sie ihre Funktion gemäß den Grundsätzen der Verfassung und den Gesetzen ausüben, sich für den Sozialismus einsetzen und der Arbeiter-und-Bauern-Macht treu ergeben sind.“ Weitere Voraussetzung für die Tätigkeit als R. ist der Erwerb einer juristischen Ausbildung auf einer dazu bestimmten Ausbildungsstätte (Rechtsstudium). Ein R. soll mindestens 25 Jahre alt sein. Zu den Grundpflichten des R. gehört u.a., „sich eng mit den Werktätigen zu verbinden, sich aufmerksam und feinfühlig zu den Vorschlägen und Sorgen der Werktätigen zu verhalten und aktiv am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen; tief in die Gesetzmäßigkeiten der gesellschaftlichen Entwicklung einzudringen und die Grundfragen der Politik der Deutschen Demokratischen Republik zu beherrschen“. Auf diese Pflichten werden die R. nach ihrer Wahl durch die sie wählende Volksvertretung feierlich verpflichtet (§§ 46, 47 GVG). Die R. des Obersten Gerichts werden auf Vorschlag des Staatsrates durch die Volkskammer für 4 Jahre, die R. der Kreis- und Bezirksgerichte auf Vorschlag des Justizministers durch die örtlichen Volksvertretungen ebenfalls für 4 Jahre gewählt (Art. 95 Verf., §§ 49, 51 GVG), und zwar jeweils innerhalb von 3 Monaten nach der Neuwahl der entsprechenden Volksvertretung. Die ersten Wahlen der R. bei den Kreis- und Bezirksgerichten fanden vom 15. Oktober bis 30. November 1960 statt; nach den Wahlen zur Volkskammer und den Bezirkstagen (Bezirk) am 20. 10. 1963 und am 2. 7. 1967 wurden die R. am OG und an den Bezirksgerichten, nach den Kreistagswahlen am 10. 10. 1965 die R. an den Kreisgerichten im Laufe der folgenden 3 Monate neu gewählt.

 

Ein R. kann aus verschiedenen Gründen vorzeitig abberufen werden, u.a. wenn er „gegen die Verfassung oder andere Gesetze verstoßen oder sonst seine Pflichten gröblich verletzt hat“ (Art. 95 Verf., § 57 GVG). Obwohl § 1 GVG in Übereinstimmung mit Art. 96 Verf. lautet: „Die R. sind in ihrer Rechtsprechung unabhängig und nur der Verfassung und dem Gesetz unterworfen“, ist weder die persönliche noch die sachliche Unabhängigkeit der R. gegeben. Immer wieder wurden und werden Weisungen an die R. erlassen. Haftentlassungen von sog. Wirtschaftsverbrechern wurden für unzulässig erklärt und bedurften der Genehmigung des Ministeriums (Rundverfügung Nr. 98/50 des sächsischen Justizministeriums). R., die sich diesen Rundverfügungen nicht fügten, sind entlassen oder inhaftiert worden. Die Kontrollkommission hatte bis zum Jahre 1953 weitgehende Befugnisse gegenüber den Gerichten. Mit der Rundverfügung Nr. 105/50 des Ministeriums der Justiz vom 10. 8. 1950 wurde verlangt, daß die R. mehr als bisher in ihren Entscheidungen den Anträgen der Staatsanwaltschaft entsprechen. In wichtigen Strafprozessen wird den R. seitens der SED, der Justizverwaltung, der Polizei oder des SSD vor der Verhandlung mitgeteilt, welche Strafe verhängt werden muß.

 

Einen selbständigen Apparat zur „Anleitung der R.“ schuf Hilde ➝Benjamin nach dem 17. 6. 1953. Instrukteure eines sog. Operativstabes reisten durch Mitteldeutschland und erteilten in den Verfahren gegen Demonstranten des 17. Juni (Juni-Aufstand) Weisungen über das Strafmaß, die sie vorher telefonisch beim Operativstab in Ost-Berlin, zum Teil unmittelbar bei Hilde Benjamin, einholten. Dieses Instrukteurwesen wurde im Jahre 1954 in das Justizministerium übernommen. R., die die ihnen gegebenen „Anleitungen“ nicht beachteten, setzten sich der Gefahr sofortiger Abberufung oder strafrechtlicher Verfolgung aus. Das Prinzip von „Anleitung und Kontrolle“ durch die Justizverwaltung, das erst im GVG vom 1. 10. 1959 (§ 13) seine gesetzliche Verankerung erhalten hatte, wurde mit der Justizreform des Jahres 1963 zum Zwecke der Durchsetzung des Demokratischen Zentralismus abgewandelt. Die „Leitung“ der Rechtsprechung ging auf das OG über. Dieses ist aber wiederum dem Staatsrat gegenüber verantwortlich (§ 11 GVG), so daß jetzt der unter Leitung von Ulbricht stehende Staatsrat Weisungen für alle R. auf dem Wege über das OG (Richtlinien und Beschlüsse) erteilen kann. Nach Art. 74 Verf. nimmt der Staatsrat im Auftrage der Volkskammer die ständige Aufsicht über die Verfassungsmäßigkeit und Gesetzlichkeit der Tätigkeit des Obersten Gerichts und des Generalstaatsanwalts wahr, und nach Art. 71 Verf. hat der Staatsrat das Recht, die Verfassung und, was für die Rechtsprechung von besonderer Bedeutung ist, die Gesetze verbindlich auszulegen, soweit dies nicht durch die Volkskammer selbst erfolgt. Er kann damit unmittelbar auf die R. und die Rechtsprechung einwirken.

 

Aus dem Grundsatz der „richterlichen Verantwortlichkeit“ wurde eine weitere Möglichkeit zu Eingriffen in die richterliche Unabhängigkeit entwickelt. Das „Gesetz über die örtlichen Organe der Staatsmacht“ vom 18. 1. 1957 (GBl. S. 65) gab der jeweiligen örtlichen Volksvertretung das Recht, Kritik an der Arbeit des Gerichts zu üben, wenn durch Mängel in dessen Tätigkeit „die Lösung der Aufgaben der örtlichen Volks[S. 535]vertretungen, der Aufbau des Sozialismus und die Entfaltung des demokratischen Lebens gehemmt werden“. Das Gericht war „verpflichtet, innerhalb von vier Wochen zu dieser Kritik Stellung zu nehmen“, hatte sich also praktisch gegenüber der örtlichen Volksvertretung für seine Entscheidungen zu verantworten und zu rechtfertigen. Dieses Gesetz ist zwar inzwischen aufgehoben, aber der Grundsatz der richterlichen Verantwortlichkeit gilt fort und fand im Staatsratserlaß über die grundsätzlichen Aufgaben und die Arbeitsweise der Organe der Rechtspflege vom 4. 4. 1963 (GBl. I, S. 21) neue praktische Konsequenzen. Nach den Bestimmungen des 3. Teils dieses Erlasses sind die R. verpflichtet, die Beschlüsse der Bezirks- und Kreistage und der Räte für ihre Tätigkeit auszuwerten. Sie sind weiter verpflichtet, auf Verlangen der Bezirks- und Kreistage Stellungnahmen abzugeben und jährlich mindestens einmal Berichte „über die Erfüllung der mit der Wahl übernommenen Verpflichtungen“ zu erstatten. § 1 GVG statuiert diese Berichtspflicht nochmals: „Die R. erstatten den Volksvertretungen Bericht darüber, wie sie ihre Tätigkeit mit den gesellschaftlichen Aufgaben beim umfassenden Aufbau des Sozialismus verbinden und diese Entwicklung aktiv fördern.“ Auch Art. 95 Verf. hebt die Berichtspflicht der R. gegenüber ihren Wählern ausdrücklich hervor und droht Abberufung an (s.o.).

 

Ein R., der seine Pflichten verletzt, allerdings nicht so gröblich, daß er aus seinem Amt abberufen werden muß, kann vor einem richterlichen Disziplinarausschuß zur Verantwortung gezogen werden. Voraussetzungen und Durchführung des Disziplinarverfahrens regelt die „Disziplinarordnung für R.“ vom 9. 11. 1963 (GBl. II, S. 776).


 

Fundstelle: A bis Z. Elfte, überarbeitete und erweiterte Auflage, Bonn 1969: S. 534–535


 

Information

Dieser Lexikoneintrag stammt aus einer Serie von Handbüchern, die zwischen 1953 und 1985 in Westdeutschland vom Bundesministerium für gesamtdeutsche Fragen (ab 1969 Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen) herausgegeben worden sind.

Der Lexikoneintrag spiegelt den westdeutschen Forschungsstand zum Thema sowie die offiziöse bundesdeutsche Sicht auf das Thema im Erscheinungszeitraum wider.

Ausführliche Informationen zu den Handbüchern finden Sie hier.