DDR von A-Z, Band 1969

 

Sozialstruktur (1969)

 

 

Siehe auch die Jahre 1975 1979 1985

 

1. Allgemeines

 

 

Als S. kann die Gesamtheit der Einzelstrukturen einer Gesellschaft bezeichnet werden. Dazu gehören, bezogen auf die DDR-Gesellschaft, vor allem die soziale Struktur der Partei und der Massenorganisationen sowie die Klassen- und Schichtstruktur mit verschiedenen Einzelaspekten: Beschäftigten- und Berufsstruktur, Einkommensstruktur, Religions-, Familien-, Bildungs- und Ausbildungsstruktur u.a.

 

Die S. der DDR-Gesellschaft ist vor allem durch Erscheinungen des sozialen Wandels gekennzeichnet. Diese liegen einmal in der hohen vertikalen (Aufstiegs-/Abstiegs-)-Mobilität und der hohen horizontalen (besonders Berufs-)Mobilität. Der soziale Wandel wird, besonders seit 1961, zweitens in einem Wandel der Gesellschaftspolitik der SED-Führung und der Reaktionen der Bevölkerung sichtbar: Eine Teilanpassung zahlreicher Gruppen der Bevölkerung an das Regime, besonders in der beruflichen Sphäre, ist nicht zu übersehen. Schließlich sind Erscheinungen des Generationenwechsels, besonders in ihren Auswirkungen auf den Parteiapparat der SED und den Staatsapparat, hervorzuheben. Die neuen Eliten, jüngere Fachleute in so gut wie allen Bereichen der Gesellschaft, prägen der Gesellschaft immer stärker Züge einer Laufbahngesellschaft auf. Weitere Merkmale des sozialen Wandels sind die starke Überalterung, ferner der Rückgang der selbständig Berufstätigen, der beträchtliche Frauenüberschuß sowie der starke Anteil von weiblichen Berufstätigen (1967: 47,2 v. H. aller Beschäftigten). Ferner ist die hohe Erwerbsquote hervorzuheben: 85 v. H. aller im arbeitsfähigen Alter stehenden Personen waren 1967 tatsächlich in den Arbeitsprozeß eingegliedert.

 

2. Die Sozialstruktur im Spiegel der DDR-Literatur

 

 

In der offiziellen sozialstatistischen Literatur der DDR bleibt die S. weitgehend auf die Klassen- und Schichtstruktur beschränkt. Man geht, der marxistischen und leninistischen Tradition folgend, noch immer davon aus, daß die Klassen (und Schichten) der Gesellschaft durch ihre Stellung zu den Produktionsmitteln bestimmt werden. Mit der Eigentumsverfassung müssen sich damit auch die Strukturen der Klassen und Schichten verändern. Die Unterscheidung in Besitzer und Nichtbesitzer von Produktionsmitteln gilt für die DDR-Gesellschaft, als sozialistische Gesellschaft, nicht. Die Klasse der „Kapitalisten“ ist „verschwunden“. Damit wird die Festlegung eines Unterscheidungskriteriums für die verschiedenen sozialen Gruppen zum theoretischen Problem. In der empirischen sozialstatischen Literatur, die stets nur den wirtschaftlich tätigen Teil der Bevölkerung berücksichtigt, wird dieses meist wie folgt gelöst: Es gibt zwei die Gesamtgesellschaft prägende Klassen, die sogenannten Grundklassen, d.i. die Klasse der Arbeiter und Angestellten und die Klasse der Genossenschaftsbauern. Unter Arbeitern und Angestellten, die zusammen die „Arbeiterklasse“ bilden, sind — gemäß dem „Statistischen Jahrbuch der DDR, 1968“ — alle Arbeitskräfte zu verstehen, „die in einem Arbeitsverhältnis zu einem Betrieb, einer Einrichtung, einem Verwaltungsorgan, einer Produktionsgenossenschaft, einem freiberuflich Tätigen oder einem privaten Haushalt stehen. Hierzu gehören auch Heimarbeiter und nicht ständig Beschäftigte, jedoch nicht die Lehrlinge“. Von den 7,714 Mill. Berufstätigen im Jahre 1967 waren, lt. „Stat. Jahrbuch, 1968“, 6,339 Mill. Arbeiter und Angestellte (ohne Lehrlinge). Genossenschaftsbauern sind die wirtschaftlich tätigen Mitglieder in den Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften (LPGs). Ihre Zahl betrug im Jahre 1967 1,065 Mill.

 

 

Neben diesen Klassen werden folgende Schichten unterschieden: die Intelligenz, die [S. 567]Genossenschaftshandwerker, die privaten Handwerker, Kleingewerbetreibende, Einzelhändler und sonstige Selbständige.

 

Aus der offiziellen Sozialstatistik können Einzelheiten und Einzeltendenzen der S. entnommen werden. Dazu gehören: die soziale Struktur der wirtschaftlich Tätigen, ihre Gliederung nach Wirtschaftsbereichen und Eigentumsformen der Betriebe sowie nach Berufen, ferner ihre Altersstruktur.

 

3. Einzelstrukturen

 

 

a) Die soziale Struktur der wirtschaftlich Tätigen

 

 

Als Ergebnisse der Volks- und Berufszählung aus dem Jahre 1964 sind folgende Zahlen publiziert worden:

 

 

Die Gliederung der wirtschaftlich Tätigen nach dem Anteil von Personen im arbeitsfähigen Alter und im Rentenalter läßt beträchtliche Differenzen in den einzelnen sozialen Schichten und Gruppen erkennen. Dem unterdurchschnittlich niedrigen Anteil der im Rentenalter stehenden Personen aus den sozialen Schichten der Intelligenz und der Genossenschaftshandwerker steht die weit überdurchschnittliche Überalterung der selbständig Erwerbstätigen gegenüber. Die Mitglieder der „Arbeiterklasse“, die im Rentenalter sind, kommen mit 6,7 v. H. dem errechneten Durchschnitt von 7,4 v. H. am nächsten, während die Gruppe der Genossenschaftsbauern zwischen den ermittelten Werten der anderen Schichten liegt.

 

Die überdurchschnittlich hohe Überalterung der Selbständigen ist auf verschiedene Ursachen zurückzuführen: Die starke Fluchtbewegung dieser sozialen Gruppe ist ebenso zu berücksichtigen wie die Tatsache, daß Kinder von Eltern aus diesen Gruppen nach dem Abschluß ihrer Ausbildung in der Regel nicht mehr im elterlichen Betrieb mitarbeiten oder gar diesen übernehmen.

 

Die Aufgliederung der wirtschaftlich Tätigen nach sozialen Schichten und nach 7 Wirtschaftsbereichen vermittelt einige Einsichten. So ist es aufschlußreich, daß es der SED-Führung trotz aller Anstrengungen zum Erhebungszeitpunkt nicht gelungen war, die Hälfte aller wirtschaftlich Tätigen und auch nicht die Hälfte aller Arbeiter und Angestellten im Bereich der Industrie zu beschäftigen. Die relativ hohen Beschäftigtenzahlen in den Bereichen Verkehr, Post und Fernmeldewesen, Handel sowie Kultur, Gesundheits- und Sozialwesen sind bemerkenswert. Dagegen sind 55 v. H. der Genossenschaftshandwerker in der Industrie und 35,9 v. H. in der Bauwirtschaft beschäftigt. Nur 22,8 v. H. der Angehörigen der Intelligenz sind in der Industrie, indessen 46,9 v. H. im Bereich Kultur, Gesundheits- und Sozialwesen tätig. Dagegen sind die privaten Handwerker und Kleingewerbetreibenden zum Erhebungszeitpunkt überwiegend in der Industrie und im Bauwesen beschäftigt gewesen. Schwerpunkte der selbständig Tätigen liegen in der Industrie (private Betriebe), in der Land- und Forstwirtschaft (vor allem private Gärtner) und im Verkehrswesen (private Beförderungsunternehmen).

 

[S. 568]

 

 

[S. 569]

 

 

[S. 570]

 

 

[S. 571]Die Aufgliederung der wirtschaftlich Tätigen nach der sozialen Zugehörigkeit und nach den Eigentumsformen der Betriebe, in denen sie arbeiten (Tabelle IV), läßt erkennen, daß zum Erhebungszeitpunkt noch fast 900.000 Arbeiter und Angestellte in privaten und halbstaatlichen Unternehmen beschäftigt waren. Der Anteil der in solchen Betrieben arbeitenden Angehörigen der Intelligenz dagegen ist mit 5,2 v. H. gering. Mit Ausnahme der Einzelhändler, der Kleingewerbetreibenden und der sonstigen Selbständigen ist die Masse der im Arbeitsprozeß Stehenden in volkseigenen und genossenschaftlichen Betrieben tätig gewesen.

 

b) Die Beschäftigten- und Berufsstruktur

 

 

In bezug auf die Beschäftigten- und Berufsstruktur wird in der DDR nach Berufsgruppen und Berufsabteilungen (Berufe nach Wirtschaftsbereichen) unterschieden. Für zahlreiche Berufe (1967: rd. 1.000) sind vom Ministerium für Volksbildung in Zusammenarbeit mit dem Deutschen Pädagogischen Zentralinstitut (DPZI) und der Staatlichen Plankommission „Berufsbilder“ ausgearbeitet worden, d.h. genaue Beschreibungen der Anforderungen, der Ausbildungswege und des Ausbildungszeitraumes für die einzelnen Berufe. Im übrigen lassen sich in der Entwicklung der Berufsstruktur drei Tendenzen feststellen, die auch in der BRD zu beobachten sind: Aus universalen Berufen (Maschinenschlosser) werden Spezialberufe (Maschinenmontierer); aus traditionellen Berufen (Dreher) werden durch Umschulungen neue Berufe (Chemiefacharbeiter); neue Berufe entstehen durch den technischen Fortschritt (Programmierer) und den Aufbau neuer Industrien (Werftarbeiter).

 

Für die Volks- und Berufszählung am 31. Dezember 1964 wurde eine spezielle „Systematik der Berufe und Tätigkeiten“ mit insgesamt 487 Berufen, die zu 170 „Berufsordnungen“, 39 „Berufsgruppen“ und schließlich 8 „Berufsabteilungen“ zusammengefaßt wurden, ausgearbeitet. Auf dieser Grundlage gliedern sich die wirtschaftlich Tätigen wie folgt:

 

Die Aufgliederung der wirtschaftlich Tätigen nach 8 Berufsabteilungen und Geschlecht (Tab. V) zeigt, daß zum Erhebungszeitpunkt nur rd. 34 v. H. der Berufstätigen in Bereichen der Grundstoffindustrie, der stoffbe- und -verarbeitenden Industrie und des Bauwesens tätig, während rd. 28 v. H. in den Bereichen Bildung usw., Wirtschaftsleitung usw. sowie Dienstleistungen u. a. beschäftigt waren. In der Land- und Forstwirtschaft arbeiteten 12,5 v. H. aller Berufstätigen und in der Berufsabteilung Verkehr, Nachrichtenwesen und Handel 18,7 v. H. Der Anteil der arbeitenden Frauen dominiert eindeutig in den Berufsabteilungen 5, 6, 7 und 8, während der Anteil der in der Land- und Forstwirtschaft arbeitenden Frauen rd. 47 v. H. erreicht.

 

Auch die Aufgliederung der wirtschaftlich Tätigen nach Berufsabteilungen und Altersgruppen führt zu aufschlußreichen Ergebnissen:

 

 

[S. 572]Sie zeigt die überdurchschnittliche Überalterung in den Berufsabteilungen 4 und 7 Während in den Berufsabteilungen 3, 6 und 8 der Anteil der 25- bis 50jährigen bemerkenswert hoch ist, ist hier der der 60jährigen und älteren relativ niedrig. In den Berufsabteilungen 1, 2 und 6 ist zudem der Anteil der unter 25jährigen überdurchschnittlich hoch. Die Altersstruktur der Berufsabteilungen 1 und 5 entspricht etwa den Durchschnittswerten.

 

Im Jahre 1967 waren insgesamt 7.715.000 Beschäftigte (Männer: rd. 4.071.000; Frauen: rd. 3.643.000) registriert. In den einzelnen Wirtschaftsbereichen waren die weiblichen Berufstätigen im gleichen Jahre wie folgt vertreten:

 

 

c) Sozialstruktur der SED

 

 

Die SED ist in der DDR bisher noch nicht zum Gegenstand veröffentlichter sozialistischer oder soziologischer Untersuchungen gemacht worden. Einige Daten jedoch werden meist auf den Parteitagen bekanntgegeben.

 

Nach ihrer sozialen Zusammensetzung gliederte sich die SED Ende 1966 wie folgt:

 

 

Die einzelnen Schichten bzw. sozialen Gruppen wurden für diese Zusammenstellung möglicherweise anders definiert als in der offiziellen Sozialstatistik. Der hohe Anteil von Angehörigen der Intelligenz ist vermutlich nicht nur darauf zurückzuführen, daß in diese Gruppe viele Parteifunktionäre eingestuft wurden, sondern auch darauf, daß Personen, die in der offiziellen Sozialstatistik zur Gruppe der Angestellten gerechnet werden, hier der der Intelligenz zugeschlagen wurden.

 

Der Anteil der Arbeiter ist zwar gegenüber früheren Zeitpunkten (1961) erheblich gestiegen. Dennoch gehören kaum mehr als zwei Drittel der Mitglieder der SED den „Grundklassen“ (Arbeiter und Angestellte, Genossenschaftsbauern) der Gesellschaft in der DDR zu.

 

Die altersmäßige Zusammensetzung der Partei wurde für Ende Dezember 1966 wie folgt ausgewiesen:

 

 

Der starke Anteil der Gruppe der 31- bis 40jährigen Parteimitglieder ist besonders auffällig. Sie stellen gegenwärtig über 25 v. H. aller Mitglieder der SED. Diese Altersgruppe spielt nicht nur zahlenmäßig in der Partei — wie in anderen Bereichen der Gesellschaft, besonders der Wirtschaft — eine entscheidende Rolle.

 

[S. 573]

 

d) Sozialstruktur der Massenorganisationen

 

 

Über die soziale Zusammensetzung, den altersmäßigen Aufbau u. a. m. der wichtigsten Massenorganisationen gibt es keine zusammenfassenden Übersichten. Auch in bezug auf einzelne Massenorganisationen sind die Angaben äußerst spärlich. Bekannt ist lediglich die jeweilige Gesamtmitgliederzahl, die im „Statistischen Jahrbuch“ veröffentlicht wird. Für 1967 lauten die abgerundeten Zahlen wie folgt:

 

 

e) Familienstruktur

 

 

Die Situation der Familie läßt sich durch einen Funktionsabbau kennzeichnen. Dies ist einmal eine Auswirkung der immer stärkeren Einbeziehung der Frauen in den Arbeitsprozeß. Darüber hinaus ist die Erziehungsfunktion der Familien mehr und mehr auf die gesellschaftlichen Institutionen und Organisationen verlagert worden.

 

Bie Ursachen für den Funktionsabbau liegen einmal im verstärkten Druck der SED auf die Erziehung. Andererseits waren bereits im Jahre 1966 in rd. 70 v. H. aller Ehen beide Ehepartner berufstätig. In diesem Zusammenhang steht auch der relativ hohe — und in den meisten Bezirken tendenziell wachsende — Anteil der Ehescheidungen. Das Verhältnis von Ehescheidungen zu Eheschließungen betrug im Jahre 1966 etwa 1:6. Die Gründe für die relativ hohen Ehescheidungsziffern sind vielfacher Natur: Das Eheschließungsalter liegt, bedingt durch die Herabsetzung der Volljährigkeit auf 18 Jahre, relativ niedrig (verglichen mit dem in der BRD). Ehen sind nach dem Gesetz leichter zu scheiden (§ 24 Abs. 1; „Zerrüttungsprinzip“; kein Rechtsanwaltszwang). Schließlich ist die hohe Mobilität der Bevölkerung als Faktor, der die Familienstruktur beeinflußt, zu berücksichtigen. (Familie, Familienrecht)

 

f) Sozialstruktur der Jugend

 

 

Seit dem Inkrafttreten des Jugendgesetzes (1963) und der Institutionalisierung des Leistungsprinzips bei der Zulassung der Studenten an Universitäten und Hochschulen ist der Anteil der Kinder, die ihrer Herkunft nach aus den sozialen Schichten der Intelligenz und der Angestellten stammen, ständig gestiegen; der Anteil der Kinder, die aus Arbeiterfamilien stammen, ist ständig gesunken. Bereits 1964 hatten 54 v. H. aller Studenten an Universitäten und Hochschulen bei der Frage nach der sozialen Herkunft „Angestellter“ oder „Intelligenz“ angegeben (Fachschulen 1964: 42,2 v. H.; die Kinder von Angestellten allein nahmen im Jahre 1966 einen Anteil von 44,5 v. H. ein).

 

Im übrigen ist die Jugend auf Grund zahlreicher empirischer Untersuchungen in der DDR berufsorientiert und familienbewußt. Die Schere zwischen den Berufswünschen und dem volkswirtschaftlichen Bedarf an bestimmten Berufen ist außerordentlich groß. So stehen bei 18- bis 20jährigen Mädchen im Jahre 1966 folgende „Modeberufswünsche“ im Vordergrund: Verkäuferin, Schneiderin, Büroberufe, Friseuse, Kosmetikerin, Säuglingsschwester und Lehrerin. Gesucht werden dagegen, auch unter der weiblichen Jugend, vor allem Facharbeiter für den Maschinenbau und die Chemieindustrie sowie für die elektrotechnische und die elektronische Industrie. (Jugend)


 

Fundstelle: A bis Z. Elfte, überarbeitete und erweiterte Auflage, Bonn 1969: S. 565–573


 

Sozialprodukt A, B, C, D, E, F, G, H, I, J, K, L, M, N, O, P, Q, R, S, T, U, V, W, Z Sozialversicherungsausweis

 

Information

Dieser Lexikoneintrag stammt aus einer Serie von Handbüchern, die zwischen 1953 und 1985 in Westdeutschland vom Bundesministerium für gesamtdeutsche Fragen (ab 1969 Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen) herausgegeben worden sind.

Der Lexikoneintrag spiegelt den westdeutschen Forschungsstand zum Thema sowie die offiziöse bundesdeutsche Sicht auf das Thema im Erscheinungszeitraum wider.

Ausführliche Informationen zu den Handbüchern finden Sie hier.