
Soziologie und Empirische Sozialforschung (1969)
1. Begriff und Funktionen
Mit erheblicher Verspätung gegenüber der SU und anderen Ländern des Ostblocks ist die S. in der DDR erstmals auf dem VI. Parteitag der SED im Januar 1963 parteioffiziell positiv erwähnt und ihre Institutionalisierung gefordert worden. Während in der SU seit 1958 eine Gesellschaft für S. besteht und in Polen seit 1956 empirisch-soziologische Forschungen durchgeführt werden, waren in der DDR größere ideologische und politische Schwierigkeiten zu überwinden, ehe S. und ES. neben dem historischen und dialektischen Materialismus institutionalisiert werden konnten — war doch in der DDR die S. jahrelang besonders scharf als Werkzeug des „staatsmonopolistischen Kapitalismus und Imperialismus“ angegriffen worden. Jedoch auch nach ihrer Institutionalisierung blieb die marxistische S. zunächst unter der Kontrolle der Kulturfunktionäre der SED. Sie hatte in erster Linie Informationen über die differenzierte Entwicklung der DDR-Gesellschaft für die SED-Führung bereitzustellen. Darauf verweisen unter anderem die Äußerungen von Kurt ➝Hager, Mitglied des Politbüros der SED und Leiter der Ideologischen Kommission beim Politbüro, vor dem VI. Parteitag der SED: „Durch soziologische Massenforschungen zu grundlegenden und umfassenden Problemen unserer gesellschaftlichen Entwicklung wird ein wichtiger Beitrag zur politischen Führungs- und Leitungstätigkeit der Partei und des Staates geleistet. In der gegenwärtigen Periode des umfassenden Aufbaus des Sozialismus stehen vor allem jene Probleme und Prozesse im Mittelpunkt der soziologischen Forschung, die der wissenschaftlich-technische Fortschritt in Industrie und Landwirtschaft für das Leben und die Entwicklung der verschiedenen sozialen Gruppen mit sich bringt.“
Demgemäß ist auch bis in die Gegenwart hinein umstritten, ob S. und historischer Materialismus identisch sind bzw. wie die marxistische S. vom historischen und dialektischen Materialismus abzugrenzen ist. Die vorherrschende Auffassung nicht nur in der DDR, sondern auch in der SU ist, daß der historische Materialismus eine „all[S. 578]gemein-soziologische Theorie“ sei, neben der freilich eine Reihe von Spezialsoziologien und empirischen Forschungsmethoden und -techniken bestehen. Der historische Materialismus wird nach wie vor als „Wissenschaft von den allgemeinen Gesetzen der Gesellschaft“ begriffen. Als solche ist er sowohl Gesellschaftsphilosophie wie S. Die marxistische S. wird damit als eine Art Universal Wissenschaft verstanden. Sie fußt auf der im historischen Materialismus enthaltenen theoretischen „Reproduktion des Ganzen der Gesellschaft“. Dabei spielt der in Anlehnung an das Marxsche Begriffsgerüst gewonnene Begriff der „sozialökonomischen Formation“ eine zentrale Rolle. Von ihm werden auch die marxistischen Kategorien der „Produktivkräfte“, „Produktionsverhältnisse“ usw. abgeleitet. Andererseits hat die marxistische S. in den letzten Jahren zahlreiche Begriffe aus der westlichen S., u.a. die Begriffe „Gruppe“, „Rolle“, „Sozialstruktur“, „Mobilität“, „soziales Handeln“, „Interaktion“, „System“, „Subsystem“ usw., übernommen. Daraus resultieren zahlreiche, bis heute nicht gelöste Probleme.
Die Grundfunktionen der marxistischen soziologischen Theorie im Rahmen des historischen Materialismus können wie folgt zusammengefaßt werden: Zunächst hat sich die marxistische soziologische Theorie einerseits auf die Grundaxiome des historischen und dialektischen Materialismus zu stützen, andererseits ein eigenes Kategoriensystem, in das durchaus Begriffe aus der westlichen S. eingehen können, zu entwickeln. Zweitens hat die marxistische soziologische Theorie das „Wesen“ des sozialen Ganzen zu erfassen. Die Gesellschaft soll als System wechselseitig aufeinander wirkender Elemente begriffen werden. Drittens hat die marxistische S. alle Spezialsoziologien in einem einheitlichen Wissenschaftssystem zu integrieren. Viertens dient sie als methodologische Grundlage für empirisch-soziologische Untersuchungen. Diesen Funktionen der marxistischen S. im theoretischen Bereich entsprechen bestimmte praktische Aufgaben der soziologischen Forschung. Allgemein können diese Aufgaben der S. dahingehend definiert werden, daß sie zusammen mit anderen Sozialwissenschaften die wissenschaftlichen Grundlagen für die Planung und Leitung der politischen und gesellschaftlichen Entwicklung der DDR zu schaffen hat. Die Einzelaspekte dieser Aufgaben sind in einem Katalog zusammengefaßt worden. Er enthält folgende fünf Untersuchungsgebiete, denen sich die soziologische Forschung bis 1970 in. erster Linie widmen soll: „soziale und ideologische Bedingungen und Triebkräfte der Qualifizierung der Werktätigen in der wissenschaftlich-technischen Revolution; soziale Probleme der Entwicklung und Leitung der sozialistischen Gemeinschaftsarbeit in der wissenschaftlich-technischen Revolution; die Entwicklung der Einstellung der Werktätigen zur Arbeit; die Entwicklung des Verhältnisses von geistiger und körperlicher Arbeit in der wissenschaftlich-technischen Revolution; die Veränderung der Sozialstruktur in der DDR als Ergebnis des umfassenden Aufbaus des Sozialismus.“
Die Begriffsbestimmung der marxistischen S., die Festlegung ihrer Funktionen und Aufgabenbereiche weisen bereits darauf hin, daß auch die SED sich bestimmter neuer sozialwissenschaftlicher Denkformen und Methoden bedienen muß, um das komplizierter gewordene Gesellschaftssystem, vor allem die zahlreichen durch die hohe Mobilität verursachten sozialen Konflikte, noch überschauen und analysieren zu können. Politisch-soziale Planung und Kontrolle, Informationen über Einzelbereiche der Gesellschaft, Rationalisierung und Integration der auseinanderfallenden Teile des ideologischen Dogmas des Marxismus-Leninismus — alle diese Probleme sollen mit Hilfe der S. und der ES. effektiver gelöst werden.
2. Entwicklungsgeschichte
Obwohl die marxistische S. als eigenständige Disziplin in der DDR noch jung ist, sind auch vor dem Jahr 1963 bereits soziologische, sozialpsychologische und sozialgeschichtliche Arbeiten in Gang gesetzt worden. Etwa seit 1954 sind Überlegungen zu einer eigenständigen marxistischen S., die sich vom historischen Materialismus zu unterscheiden hat, angestellt worden. Die zunächst besonders von Jürgen Kuczynski vertretene Konzeption spezieller soziologisch-historischer „Gesetze“, die von den allgemeinen Gesetzmäßigkeiten des historischen Materialismus abzuheben sind, ist nach 1963 Allgemeingut der marxistischen S. in der DDR geworden. Seit 1958 sind zahlreiche empirische sozialpsychologische und sozialpädagogische Arbeiten auf dem [S. 579]Gebiet der Jugendforschung durchgeführt worden. Seit 1961 wurde die Kritik der westlichen („bürgerlichen“) S. erheblich intensiviert. Sie erfüllt im Prozeß der Herausbildung einer marxistischen Soziologie in der DDR verschiedene Aufgaben: Einmal wird die westliche S. als „Apologetik des Kapitalismus“ abgewertet. Im Zuge dieser abwertenden Kritik werden jedoch wesentliche Begriffe, Fragestellungen und Methoden der westlichen S. übernommen. Die Kritik hat also nicht nur Abwehr-, sondern auch Orientierungs- und Selbstverständigungsfunktion für die Soziologen in der DDR. Schließlich soll die Kritik an der westlichen S. dazu dienen, das ideologische Dogma des Marxismus-Leninismus vor „revisionistischen“ Interpretationen zu schützen (Machtsicherungsfunktion). Seit 1963/64, dem eigentlichen Beginn soziologischer Forschungen in der DDR, hat sich die S. auf zahlreichen Gebieten schnell entwickelt. Neben Grundproblemen der marxistischen S. werden vor allem folgende Spezialsoziologien ausgebaut: S. der sozialen Gruppen und Schichtung, Industrie- und Betriebs-S., Organisations-S., Jugend-S., Religions-S., S. der Kultur, Kunst und Literatur, empirische Methoden und Verfahren der S.
3. Organisatorischer Aufbau
Seit den Jahren 1963/64 sind z. T. mehrere Lehrstühle bzw. Lektorate für S. an den sechs Universitäten und 2 Technischen Hochschulen der DDR geschaffen worden. So wurden z. B. am Institut für Philosophie wie am Institut für Politische Ökonomie an der Humboldt-Universität zu Berlin Lehrstühle eingerichtet bzw. Lehraufträge für S. erteilt. Jedoch auch an den direkt von der SED kontrollierten Institutionen: der Parteihochschule „Karl Marx“ beim ZK der SED, dem Institut für Gesellschaftswissenschaften beim ZK der SED, dem Zentralinstitut für Sozialistische Wirtschaftsführung beim ZK der SED, der Hochschule für Ökonomie und der Deutschen Akademie für Staats- und Rechtswissenschaft „Walter Ulbricht“ ist die S. in dieser oder jener Form institutionell vertreten. Dasselbe gilt für die Deutsche Akademie der Wissenschaften zu Berlin, das Deutsche Pädagogische Zentralinstitut, das Deutsche Institut für Berufsausbildung sowie für zahlreiche Fachhoch- und Fachschulen. Neben diesen Formen der Institutionalisierung sind „soziologische Labors“ in einigen Großbetrieben eingerichtet worden. Hier arbeiten Wissenschaftler, Wirtschaftsfunktionäre und „Arbeiterforscher“ gemeinsam an industrie- und betriebssoziologischen Fragestellungen.
Die bereits 1961 gegründete „Sektion Soziologie bei der Vereinigung Philosophischer Institutionen der DDR“ wurde im Jahre 1963 als „nationale Vertretung der Soziologen in der DDR“ in die International Sociological Association (ISA) aufgenommen. Seit dem IV. Weltkongreß für S. in Mailand und Stresa (1959) nahmen Soziologen aus der DDR an den Weltkongressen der ISA, in Washington (1963) und in Evian (1967), teil. Die Sektion S. sowie der 1965 gegründete „Wissenschaftliche Rat für Soziologische Forschung beim Institut für Gesellschaftswissenschaften beim ZK der SED“ nehmen vor allem folgende Aufgaben wahr: die Förderung und den Ausbau des -Studiums an Universitäten, Hochschulen, Fachhoch- und Fachschulen; die Ausarbeitung eines Programms zur Ausbildung des wissenschaftlichen Nachwuchses; die Abstimmung der Forschungsprogramme der einzelnen Institutionen; die Organisation und Vorbereitung von Konferenzen; die Organisierung der internationalen Zusammenarbeit und des Erfahrungsaustausches mit Soziologen in Ost und West. Eine eigene soziologische Fachzeitschrift existiert in der DDR bisher nicht. Soziologische Abhandlungen erscheinen vor allem in der „Einheit“, der „Deutschen Zeitschrift für Philosophie“ und der „Wirtschaftswissenschaft“. Seit 1964 erscheint (in unregelmäßigen Abständen) eine „Referatekartei Soziologie“, die über die wichtigsten Neuerscheinungen des In- und Auslandes berichtet. Sie wird von der „Zentralstelle für Wirtschaftswissenschaftliche Dokumentation und Information“ beim Institut für Wirtschaftswissenschaften der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin herausgegeben.
4. Spezialsoziologien
a) Soziologie der Gruppen und der sozialen Schichtung. In enger Verbindung mit der Sozialpsychologie sowie der Arbeits- und Berufspsychologie versucht die Gruppen-S. Gesetzmäßigkeiten des Zusammenhanges zwischen der sozialökonomischen Klassen- und Schichtenstruktur der Gesellschaft sowie der Beschäftigten-, Berufs- und Bil[S. 580]dungsstruktur herauszuarbeiten. Die soziale Gruppe wird dabei als Grundelement der einzelnen Strukturen und Organisationen angesehen. Auch die marxistischen Soziologen gehen davon aus, daß Gruppen durch bestimmte Verhaltensweisen zu charakterisieren sind. Im einzelnen werden formelle und informelle Gruppen unterschieden (vgl. unten: Industrie- und Betriebs-S.). Die Gruppen- in Verbindung mit der Schichtenanalyse soll vor allem die sozialökonomischen Strukturen der Gesellschaft und ihre Veränderungen untersuchen. Sie betrachtet soziale Gruppen deshalb unter dem Gesichtspunkt ihrer gesamtgesellschaftlichen Wirksamkeit, nicht so sehr als Einheiten in Einzelbereichen von Wirtschaft und Gesellschaft.
Besonders zwei Spezialaspekte stehen im Vordergrund des Interesses: einmal das Gesamtsystem der Leitbilder und Normen von Gruppen in der Gesellschaft; zum anderen die Fluktuation von Arbeitskräften. Sie wird nicht nur unter dem Aspekt eines Industriebetriebes oder Industriezweiges gesehen, sondern vor allem hinsichtlich der durch sie bedingten Probleme der sozialen Mobilität. Diese Probleme betreffen die Gesellschaft als Ganzes und weisen weit über Einzelprobleme der „industriezweigbestimmten“ Produktion hinaus.
b) Industrie- und Betriebssoziologie [IBS]. In enger Verbindung mit der S. der Gruppe und der sozialen Schichtung steht die IBS. Ihr Arbeitsfeld sind der einzelne Industriebetrieb, Produktionszweige sowie die Gesamtindustrie als Teilsystem der Gesellschaft. Wie alle Spezialsoziologien in der DDR ist auch die IBS von bestimmten Axiomen des historischen Materialismus abhängig. Vor allem ist ihr „Praxis“-Bezug, ihre „produktive Funktion“ hervorzuheben. Auch die IBS arbeitet mit dem Konzept der formellen und informellen Gruppen im Betrieb. Formelle Gruppen sind, nach K. Braunreuther, dem führenden Industrie- und Betriebssoziologen in der DDR, Gruppen, „die dem Betriebszweck dienen“, und zwar als „rechtlich oder traditionell legitimierte und dann gesellschaftlich anerkannte Einheiten“. Als Beispiele werden Neuerergruppen, jedoch auch Gruppen der SED, des FDGB, der FDJ sowie anderer Massenorganisationen im Betrieb herangezogen. Demgegenüber werden informelle Gruppen unterschieden, deren Einfluß auf das Produktionsziel des Betriebes positiv, negativ und ambivalent usw. sein kann und von den Industrie- und Betriebssoziologen zu erfassen gesucht wird. Die marxistische IBS wendet den Gruppen im Betrieb besonders deshalb Aufmerksamkeit zu, weil sich in ihnen Entscheidungen vollziehen. Darüber hinaus werden formelle und informelle Gruppen als Grundeinheiten des Kommunikationsnetzes eines Betriebes angesehen. Daneben werden im Rahmen der IBS vor allem folgende Themen behandelt: die Analyse sozialer Verhaltensweisen sowie der sozialen Rollen und Positionen einzelner und von Gruppen; das Betriebsklima; Fluktuation und Disponibilität von Arbeitern; das Verhältnis zwischen älteren und jüngeren Arbeitern und Funktionären; die Autoritätsstruktur im Betrieb; die Motive menschlichen Handelns; die „Arbeitsfreude“ im Betrieb sowie Rationalisierungsprobleme. Der Aufgabenbereich der IBS geht allerdings über diese Forschungsbereiche noch hinaus. Die sozialen Verhältnisse und die Beziehungen der Menschen im Industriebetrieb haben auch ihre Auswirkungen auf das Zusammenleben in den Wohngebieten, auf die Freizeitgestaltung usw.
Es ist nicht zu übersehen, daß die IBS zur wichtigsten Einzeldisziplin unter den Spezialsoziologien in der DDR geworden ist. Dies gilt um so mehr, als arbeitspsychologische und sozialpolitische Fragestellungen in die IBS eingegangen sind und als ein legitimer Bestand dieses Forschungszweiges angesehen werden. Der arbeitspsychologische und der sozialpolitische Einschlag sind besonders deutlich an folgenden Themen, die im Rahmen empirischer Untersuchungen auf dem Gebiet der IBS gegenwärtig eine große Rolle spielen, zu erkennen: Arbeitsplatzmerkmale, Erleichterung der Arbeit, Arbeitszufriedenheit, Arbeitsfreude, Arbeitszeitprobleme, Bedingungen des Arbeitsschutzes u.a.m. (Industrie)
c) Organisationssoziologie. In den letzten Jahren hat sich neben der Gruppen-S. und der IBS und von ihnen stark beeinflußt eine neue spezielle S. herausgebildet, der in der DDR von Soziologen, Ökonomen, Juristen und Psychologen starke Beachtung gezollt wird: die „sozialistische Leitungs- und Organisationswissenschaft“, auch „soziologische Organisationsanalyse“ genannt.
Die Organisations-S. ist nicht nur von der IBS, sondern auch von der kybernetischen [S. 581]Systemtheorie und der Organisationswissenschaft, wie sie im Westen entwickelt worden sind, beeinflußt. Darauf weisen schon die Begriffe „System“, „Entscheidung“, „Information“, „Kommunikation“ usw. hin, die in der marxistischen Organisations-S. gegenwärtig eine immer größere Rolle spielen.
Obwohl der Begriff Organisation bisher nicht klar definiert wordon ist, wird er doch in theoretischen und empirischen Untersuchungen vielfach verwandt. Besonders in Industriebetrieben sind Organisationsformen der verschiedensten Art untersucht worden: Arbeitsgruppen, Werkabteilungen, ganze Industriebetriebe. Die Organisations-S. in der DDR beschäftigt sich im einzelnen vor allem mit folgenden Fragen: wie sich die Ziele der Organisation in den Vorstellungen der Mitglieder einer formellen oder informellen Gruppe darstellen; wie Information und Kommunikation in Organisationen tatsächlich funktionieren; wie sich die offizielle Leitungspyramide in einem Organisationssystem von der „Autoritätspyramide“ unterscheidet; wie schließlich die sozialen Positionen der einzelnen Mitglieder einer Gruppe bestimmt werden,
d) Jugendsoziologie, auch pädagogisch-psychologische Jugendforschung oder marxistische Jugendforschung genannt. Sie soll in erster Linie der heranwachsenden Generation helfen, „in dem Ringen zwischen der neuen und der alten Welt die Fronten zu erkennen“. Auch in der marxistischen Jugend-S. ist der praktisch-politische Bezug immer noch stark ausgeprägt. Sie soll — nach der Aussage zweier führender Jugendpsychologen, Walter Friedrich und Adolf Kossakowski — Wege auf zeigen, die zur Veränderung der Lebenslage und des Bewußtseins der Jugendlichen im Sinne der gesellschaftspolitischen Ziele der SED beitragen.
Die marxistische Jugend-S. geht von drei Voraussetzungen aus: Sie betrachtet einmal den Jugendlichen als „Produkt seiner Wechselwirkung mit der Umwelt“; sie bezieht sich auf „jugendspezifische Verhaltensweisen“, wie sie sich aus der „Zwischenlage“ der Jugendlichen ergeben, und sie analysiert die komplexen Umweltbedingungen, denen der Jugendliche ausgesetzt ist.
Entsprechend dieser Aufgabenstellung und diesen Voraussetzungen sind die zahlreichen empirischen jugendsoziologischen und -psychologischen Untersuchungen ausgerichtet. Im einzelnen werden vor allem folgende Themen behandelt: Jugend und Elternhaus (Einflüsse des Elternhauses, Verhältnis der Jugendlichen zu ihren Eltern; Sexualerziehung; Verhältnis zum anderen Geschlecht); Jugend und (Berufs-)Schule/Universität (Lernhaltung, Lernmotivation, Leistungsverhalten, Leistungsversagen; die Lehrerpersönlichkeit in der Sicht des Schülers; Unterrichtstag in der Produktion (UTP), Einstellung der Schüler zum UTP, Einflüsse des UTP, sozialistische Arbeitsmoral (Kollektiverziehung), gesellschaftlich nützliche Arbeit, polytechische Kabinette; Schüler-, Studenten-Kollektiverziehung); Jugend und Beruf (Probleme der Berufswahl, Einstellung zu verschiedenen Berufen, Berufswünsche, Qualifizierungsprobleme); gesellschaftliche (ideologische) Orientierung der Jugendlichen (Interessen, Zukunftspläne, Vorbilder, Perspektiv- und Idealerleben, Lebensideologie); Jugend und Freizeit (Freie Zeit, Freizeitgestaltung, Freizeitwünsche; Jugend und FDJ/Pioniere, Kollektiverziehung im Rahmen der Jugendorganisation). (Jugend)
e) Religionssoziologie. Die marxistische Religions-S. hat sich zusammen mit den Versuchen, eine allgemeine marxistische Kultur-S. zu begründen, entwickelt. Sie hat nicht nur den sozialen Ursachen der Religion in sozialistischen Gesellschaftssystemen nachzugehen, sondern auch speziellere Fragen zu analysieren: Kann die Religion als isolierte Erscheinung oder muß sie im Zusammenhang mit dem politischen Denken und Handeln im allgemeinen, mit anderen Bewußtseinsformen im besonderen, begriffen werden? Auch die „religiöse Intensität“ verschiedener sozialer Gruppen und Schichten (der Jugend, der Intelligenz, der Bauern, der Invaliden und Rentner) soll von der marxistischen Religions-S. empirisch analysiert werden. Schließlich ist die These, daß die Religion ein Produkt der „Entfremdung“ des Menschen ist und sich erst in der Reflexion der sozialen Differenzierung bei Verschwinden der Urgemeinschaft aus der Mythologie gebildet hat, ein gegenwärtig diskutiertes Thema: „Dadurch, daß sie die Zusammenhänge von Religion und Gesellschaft in ihrer Totalität, auch in ihren allgemeinsten und wesentlichsten Aspekten, erfaßt, wird Religionssoziologie in der vollen Bedeutung des Wortes möglich. Sie studiert die religiösen Phänomene im gesetzmäßigen, materiellen Bedingungen entspringenden Prozeß [S. 582]ihres Entstehens, Wandels und Vergehens. Die allgemeinste Bedingung dieses Prozesses ist die unter bestimmten geschichtlichen Bedingungen auftretende Entfremdung des Menschen gegenüber den Gesetzmäßigkeiten und Resultaten seines Tuns. Die religiöse Verhaltens- und Bewußtseinsform reproduziert ideell und institutionalisiert die wirkliche Entfremdung, der sie entspringt. Sie stützt dadurch in der Klassengesellschaft die Macht der Herrschenden; ihre Verankerung in den Volksmassen schließt jedoch auch die Möglichkeit ein, religiöse Ideale im Sinne progressiver Veränderungen zu aktualisieren. Dieser Doppelaspekt religiöser Ideologie verlangt die exakte Analyse der sozialen Motive religiöser Ideen, Bewegungen und Auseinandersetzungen, die Berücksichtigung ihrer Verquickung mit der Sozial-, politischen und Geistesgeschichte. Neben den hier skizzierten Aufgaben obliegt es auch der marxistischen Religions-S., vor allem die „theologisierenden Tendenzen der bürgerlichen Religionssoziologie“ zurückzuweisen und ihre Funktion im System des staatsmonopolistischen Kapitalismus zu enthüllen.
f) Kultur-, Literatur- und Kunstsoziologie. Nach bedeutenden frühen Ansätzen besonders der marxistischen Literatur-S. (Georg Lukács) ist eine intensive Diskussion um Gegenstand, Fragestellungen, Begriffe und Methoden einer marxistischen Kultur-, Literatur- und Kunst-S. in der DDR erst in den Jahren 1966/67 in Gang gekommen. Die Auseinandersetzungen sind noch dadurch erschwert worden, daß zum Gegenstand einer marxistischen Kultur-S. stets auch Kulturgeschichte und Ästhetik gezählt werden. Die „kritische Aneignung des kulturgeschichtlich bedeutsamen Erbes“, die Diskussionen um den Begriff des Realismus, der abstrakte, konzeptionslose Universalismus der marxistischen Kulturdeutung haben die Herausbildung einer eigenen marxistischen Kultur-S. eher belastet als befruchtet.
Die marxistische Kultur-S. in der DDR geht davon aus, daß sich mit der fortschreitenden sozialen Integration der Künste in die Gesellschaft die Position des Künstlers ebenso verändert hat wie die Stellung von Kultur und Kunst in der Gesellschaft. Kultur und Kunst sind heute einer Masse von Konsumenten ausgeliefert. Sie werden deshalb als allgemeine ideologie- und persönlichkeitsbildende Faktoren angesehen. Deshalb wird eine nur immanente Analyse des Kunstwerkes als esoterisch abgelehnt. Es wird davon ausgegangen, daß die Massen im Kunstwerk unbefangen den Ausdruck ihrer eigenen Lebenssituation suchen. Allerdings soll damit die ästhetische Wertung der Kunst nicht aufgehoben werden. Auch in der DDR müssen Kunstwerke als „schön“, „häßlich“, „tragisch“ usw. bezeichnet werden können. Die soziologische Analyse im engeren Sinne soll die Ursachen für das Abweichen des Urteils bestimmter sozialer Gruppen von der ästhetischen Norm herausarbeiten. Die ästhetische Analyse des Kunstwerks soll deshalb mit der soziologischen Zusammengehen. Unter der Voraussetzung, daß die ästhetischen Grundprobleme aus der „Dialektik der materiellen Arbeitsprozesse“ zu erklären sind, und daß deshalb die Produktionsweise einer Gesellschaft als übergreifender Bezugspunkt für kultur- und kunstsoziologische Untersuchungen zu gelten hat, werden gegenwärtig folgende soziologische Komponenten am Kunstwerk untersucht: Kunstwerke fördern ein bestimmtes National-, Klassen- und Gruppenbewußtsein ebenso wie sie die Anschauungen und Interessen sozialer Gruppen und Schichten widerspiegeln. Sie formen Leitbilder, die die Verhaltensstruktur des einzelnen und von Gruppen beeinflussen. Sie fördern schöpferische Antriebe. Sie sind Mittel der Sozialisation, d.h. sie vermitteln dem Menschen die Möglichkeit, neue „Rollenerfahrungen“ zu übernehmen. Schließlich werden Kultur, Kunst und Literatur als „Freizeitfaktoren“ untersucht.
Neben der kultur- und kunstsoziologischen Analyse steht, besonders im literarischen Bereich, die soziologische „Wirkungsforschung“ Sie hat folgende Komponenten der „literarischen Wirkung“ zum Gegenstand: die konkrete Situation, in der ein sprachliches Kunstwerk zur Wirkung gelangt; die Gruppen, die ein Buch vorzugsweise lesen, und jene Gruppen, die es eindeutig ablehnen; die Reaktionen der öffentlichen Literaturkritik; Motive, Gestalten, Bilder, Symbole u.a. dieses Werkes, die häufig zitiert und verwendet werden; den Einfluß, den das Buch auf die zeitgenössische Literatur hat, erkennbare Nachahmungen und Nachfolgen; das soziale Ansehen und den Ruf, den das Buch erlangt, differenziert nach verschiedenen Lesergruppen; die Rückwirkungen, die die Publikation dieses Werkes auf das literarische Prestige seines Autors hat. (Kulturpolitik, Literatur, Ästhetik)[S. 583]
5. Methoden und Techniken der empirischen Sozialforschung
Das Methoden Verständnis der marxistischen S. in der DDR ist durch zwei Tendenzen zu charakterisieren. Einmal wird die Aufgabe der marxistischen Sozialforschung darin gesehen, die für die wissenschaftliche Analyse und die wissenschaftliche Leitung der „sozialistischen Gesellschaft objektiv wichtigen Formen der praktischen gesellschaftlichen Tätigkeit, deren Bedingungen, Erfordernisse und Auswirkungen zu untersuchen. Die Problemstellung für soziologische Untersuchungen ist abzuleiten von den Hauptrichtungen der gesamtgesellschaftlichen Prozesse, vor allem in der Sphäre der materiellen Produktion, wie sie in den Beschlüssen der SED und unserer Regierung festgelegt sind.“ In diesem Zusammenhang ist auch der Aufgabenbereich des empirischen Forschers festgelegt. Er soll nicht „bloßer Registrator“ sozialer Erscheinungen sein. Seine Erkenntnisse hat der Soziologe vielmehr stets auch durch „aktive Teilnahme an der revolutionären gesellschaftlichen Praxis“ zu gewinnen. Dieses Postulat weist unverkennbar den Einfluß des marxistischen Theorie-Praxis-Axioms auf. Jede empirisch-soziologische Untersuchung hat die „Einheit von qualitativer und quantitativer Analyse“ herzustellen. Unter qualitativer Analyse wird in diesem Zusammenhang sowohl die persönlich engagierte Teilnahme des Forschers am gesellschaftlichen Prozeß wie die Berücksichtigung des umfassenden Zusammenhanges sozialer Erscheinungen in jeder Einzelstudie verstanden.
Der programmatisch-normative und der Ausarbeitung empirischer Methoden abträgliche Gehalt dieser Konzeption liegt auf der Hand. Andererseits werden jedoch, trotz der nach wie vor scharfen Kritik am „bloßen Empirismus der bürgerlichen Soziologie“, in zunehmendem Maße Methoden und Techniken der ES., wie sie im Westen üblich sind, verwandt. Besonders im Rahmen der Industrie- und Betriebs-S. und der empirischen Jugendforschung sind empirische Methoden und Techniken gebräuchlich. Dies gilt für Beobachtung, Inhaltsanalyse, Exploration und Experiment, primär- und sekundärstatistische Analysen, die verschiedenen Formen des Interviews, der Faktorenanalyse, der Korrelations- und Skalierungsverfahren. Auch bewährte qualitative Methoden, so z. B. die Dokumentenanalyse, werden benutzt. Bestimmte Methoden jedoch, die vor allem im Rahmen der betriebssoziologischen Mikroanalyse im Westen verwendet werden (soziometrische Tests, Rollen- und Interaktionsanalyse), werden, offenbar aus ideologischen Gründen, nach wie vor nicht verwendet. (Sozialstruktur)
Literaturangaben
- Rühle, Jürgen: Das gefesselte Theater — vom Revolutionstheater zum sozialistischen Realismus. Köln 1957, Kiepenheuer und Witsch. 457 S. m. 16 Abb.
Fundstelle: A bis Z. Elfte, überarbeitete und erweiterte Auflage, Bonn 1969: S. 577–583
Sozialversicherungs- und Versorgungswesen | A, B, C, D, E, F, G, H, I, J, K, L, M, N, O, P, Q, R, S, T, U, V, W, Z | SP |