DDR von A-Z, Band 1969

Staatsrat (1969)

 

 

Siehe auch die Jahre 1960 1962 1963 1965 1966 1975 1979 1985


 

Der St. erfüllt nach Art. 66 Abs. 1 der Verfassung als Organ der Volkskammer zwischen den Tagungen der Volkskammer alle grundsätzlichen Aufgaben, die sich aus den Gesetzen und Beschlüssen der Volkskammer ergeben.

 

Der St. wurde nach dem Tode des ersten Präsidenten, Wilhelm Pieck, durch eine Änderung der Verfassung von 1949 nach dem Vorbild des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR am 12. 9. 1960 geschaffen (GBl. I, S. 505). Der St. hat folgende in der Verfassung angegebenen Kompetenzen (weitere Kompetenzen können ihm durch Gesetze und Beschlüsse der Volkskammer übertragen werden; Art. 66, Abs. 1):

  • a) Entscheidung über den Abschluß, die Ratifikation und die Kündigung der Staatsverträge der „DDR“ (Art. 66, Abs. 2, Satz 2);
  • b) Behandlung von Vorlagen an die Volkskammer und Veranlassung ihrer Beratung in den Ausschüssen (Art. 70, Abs. 1);
  • c) das Recht, die Volkskammer einzuberufen (Art. 70, Abs. 2);
  • d) das Recht, durch rechtsverbindliche Erlasse und Beschlüsse Normen zu setzen (Gesetzgebung); als Kompetenzbereich wird ihm die Regelung aller grundsätzlichen Aufgaben, die sich aus den Gesetzen und Beschlüssen der Volkskammer ergeben, übertragen (Erlasse und Beschlüsse des St. müssen der Volkskammer zur Bestätigung vorgelegt werden. In Anbetracht der homogenen Zusammensetzung der Volkskammer [S. 605]hat diese Bestimmung nur formale Bedeutung; Art. 71, Abs. 1);
  • e) verbindliche Auslegung von Verfassung und Gesetzen, soweit dies nicht durch die Volkskammer selbst erfolgt (damit stehen Verfassung und Gesetze zur Disposition des St.; Art. 71, Abs. 3);
  • f) Ausschreibung der Wahlen zur Volkskammer und zu anderen Volksvertretungen (Art. 72);
  • g) Fassung grundsätzlicher Beschlüsse zu Fragen der Verteidigung und Sicherheit des Landes und Organisation der Landesverteidigung mit Hilfe des Nationalen Verteidigungsrates (Art. 73, Abs. 1);
  • h) Berufung der Mitglieder des Nationalen Verteidigungsrates (der NVR ist der Volkskammer und dem St. für seine Tätigkeit verantwortlich; Art. 73, Abs. 2);
  • i) Wahrnehmung der ständigen Aufsicht über die Verfassungsmäßigkeit und Gesetzlichkeit der Tätigkeit des Obersten Gerichts (Gerichtsverfassung) und des Generalstaatsanwalts (Staatsanwaltschaft) „im Aufträge der Volkskammer“ (Art. 74);
  • j) Festlegung der militärischen Dienstgrade, der diplomatischen Ränge und anderer spezieller Titel (Art. 75, Abs. 2);
  • k) Stiftung staatlicher Orden, Auszeichnungen und Ehrentitel (Art. 76);
  • l) Ausübung des Amnestie- und Begnadigungsrechts (Art. 77);
  • m) in Ergänzung von Art. 71, Abs. 3: Entscheidung über Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit von Rechtsvorschriften;
  • n) Prüfung von Beschwerden gegen Leitungsentscheidungen des Ministerrates, des Obersten Gerichts oder des Generalstaatsanwalts (Art. 105, Abs. 2);
  • o) zwischen den Tagungen der Volkskammer Aufhebung der Immunität der Abgeordneten (Art. 60, Abs. 2);
  • p) im Dringlichkeitsfalle Beschluß über den Verteidigungszustand (Art. 52).

 

In seiner Eigenschaft als Organ, das die Aufgaben der Volkskammer zwischen ihren Tagungen erfüllt („Interimsorgan“; Plenum) drängt der St. die Volkskammer in ihrer Eigenschaft als „oberstes staatliches Machtorgan“ (Art. 48) zurück, insbesondere weil er alle Vorlagen an die Volkskammer zu behandeln und ihre Beratung in den Ausschüssen der Volkskammer zu veranlassen hat, weil ihm das Recht zur Einberufung der Volkskammer zusteht und weil er das Recht hat, die Verfassung und Gesetze verbindlich auszulegen, soweit das nicht durch die Volkskammer selbst erfolgt ist.

 

In der Verfassungswirklichkeit trifft er an Stelle der Volkskammer die politischen Grundentscheidungen entsprechend den Beschlüssen der höchsten Organe der SED.

 

Er ist damit „Regierung“ im funktionellen Sinn (Ministerrat).

 

Der St. besteht nach Art. 67 der Verfassung aus dem Vorsitzenden, seinen Stellvertretern, den Mitgliedern und dem Sekretär.

 

Im Gegensatz zur Verfassung von 1949 ist die Zahl der Stellvertreter des Vorsitzenden und der Mitglieder nicht mehr verfassungsrechtlich festgelegt.

 

Der Vorsitzende und die Stellvertreter des Vorsitzenden, die Mitglieder und der Sekretär des St. werden von der Volkskammer auf ihrer ersten Sitzung nach der Neuwahl auf die Dauer von 4 Jahren gewählt (Art. 67, Abs. 2). Der St. ist der Volkskammer für seine Tätigkeit verantwortlich, und die Mitglieder des St. können von der Volkskammer jederzeit abberufen werden (Art. 50).

 

Nach Ablauf der Wahlperiode der Volkskammer setzt der St. seine Tätigkeit bis zur Wahl des neuen St. durch die Volkskammer fort (Art. 67, Abs. 3).

 

Der Vorsitzende, seine Stellvertreter, die Mitglieder und der Sekretär des St. leisten einen in Art. 68 der Verfassung vorgeschriebenen Amtseid.

 

Der Vorsitzende des St. hat eine hervorgehobene Stellung. Der St. wird im Gegensatz zum Ministerrat nicht als kollektives Organ bezeichnet. Der Vorsitzende hat folgende Kompetenzen:

  • a) Leitung der Arbeit des St. (Art. 68);
  • b) völkerrechtliche Vertretung der „DDR“ (Art. 66, Abs. 2, Satz 1);
  • c) Ernennung der bevollmächtigten Vertreter der „DDR“ in anderen Staaten und das Recht zu deren Abberufung (Art. 75, Abs. 1, Satz 1);
  • d) Entgegennahme der Beglaubigungs- und Abberufungsschreiben der bei ihm akkreditierten Vertreter anderer Staaten (Art. 75, Abs. 1, Satz 2) ;
  • e) Verleihung der vom St. gestifteten staatlichen Orden und Auszeichnungen und Ehrentitel (Art. 76);
  • f) das Recht, den Vorsitzenden des Ministerrats der Volkskammer vorzuschlagen (Art. 80, Abs. 1);
  • g) Vereidigung des Vorsitzenden und der Mitglieder des Ministerrats (Art. 80, Abs. 3);
  • h) Verkündung der von der Volkskammer beschlossenen Gesetze (Art. 65, Abs. 3);
  • i) Verkündung des Verteidigungszustandes (Art. 52, S. 3).

 

Werden, wie zur Zeit, die Ämter des Ersten Sekretärs der SED und des Vorsitzenden des St. von einer Person wahrgenommen, ist die Fülle der Macht in eine Hand gelegt. Der St. besteht seit dem 13. 7. 1967 aus dem Vorsitzenden: Walter ➝Ulbricht, den Stellvertretern des Vorsitzenden: Willi ➝Stoph, Johannes ➝Dieckmann, Manfred ➝Gerlach, Gerald ➝Götting, Heinrich ➝Homann, Hans ➝Rietz, den Mitgliedern: Erich ➝Correns, Friedrich ➝Ebert, Erich ➝Grützner, Brunhilde ➝Hanke, Lieselotte ➝Herforth, Friedrich ➝Kind, Else ➝Merke, Günter ➝Mittag, Anni ➝Neumann, Karl ➝Rieke, Hans ➝Rodenberg, Hans-Heinrich ➝Simon, Klaus ➝Sorgenicht, Maria ➝Schneider, Horst ➝Schumann, Paul ➝Strauss, dem Sekretär Otto ➝Gotsche.

 

Literaturangaben

  • Richert, Ernst (zus. m. Carola Stern und Peter Dietrich): Agitation und Propaganda — das System der publizistischen Massenführung in der Sowjetzone (Schr. d. Inst. f. pol. Wissenschaft, Berlin, Bd. 10). Berlin 1958, Franz Vahlen. 320 S.
  • Mampel, Siegfried: Die Verfassung der sowjetischen Besatzungszone Deutschlands. Text u. Kommentar. 2., neubearb. u. erg. Aufl., Frankfurt a. M. 1966, Alfred Metzner. 516 S.
  • Mampel, Siegfried: Die Volksdemokratische Ordnung in Mitteldeutschland. Texte zur verfassungsrechtlichen Situation. 3., neubearb. Aufl., Frankfurt a. M. 1967, Alfred Metzner. 175 S.

 

Fundstelle: A bis Z. Elfte, überarbeitete und erweiterte Auflage, Bonn 1969: S. 604–605


 

Information

Dieser Lexikoneintrag stammt aus einer Serie von Handbüchern, die zwischen 1953 und 1985 in Westdeutschland vom Bundesministerium für gesamtdeutsche Fragen (ab 1969 Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen) herausgegeben worden sind.

Der Lexikoneintrag spiegelt den westdeutschen Forschungsstand zum Thema sowie die offiziöse bundesdeutsche Sicht auf das Thema im Erscheinungszeitraum wider.

Ausführliche Informationen zu den Handbüchern finden Sie hier.