Volkskammer (1969)
Siehe auch die Jahre 1953 1954 1956 1958 1959 1960 1962 1963 1965 1966 1975 1979 1985
Die V. ist die Volksvertretung für die gesamte „DDR“. Sie wird in Art. 48, Abs. 1, Satz 1 der Verfassung als das oberste staatliche Machtorgan der „DDR“ bezeichnet. In der Verfassung von 1949 (Art. 50) wurde sie das „höchste“ Organ der Republik genannt. Die neue Formulierung spiegelt die Unterscheidung von politischer und staatlicher Macht wider, wie sie die Verfassung von 1967 vornimmt. Nach Art. 5, Abs. 1 üben die Bürger ihre politische Macht durch demokratisch gewählte Volksvertretungen aus. Die politische Macht bestimmt also, wie die staatliche Macht auszuüben ist (Verfassung, Ziff. 4). Weil die politische Macht nach Art. 2, Abs. 1, Satz 1 von den Werktätigen ausgeübt wird, deren politische Organisation die „DDR“ ist und die gemeinsam unter Führung der Arbeiterklasse und ihrer marxistisch-leninistischen Partei den Sozialismus verwirklichen (Art. 1, Abs. 1), muß die Wahl zur V. zwingend so angelegt sein, daß die führende Rolle der marxistisch-leninistischen SED, ihre Suprematie, gewährleistet ist. Wenn nach Art. 54 die Abgeordneten der Volkskammer vom Volk in freier, allgemeiner gleicher und geheimer Wahl gewählt werden sollen, so ist deshalb das Wahlgesetz vom 31. 7. 1963 (GBl. I, S. 97) mit Änderungen vom 13. 9. 1965 (GBl. I, S. 207) und vom 2. 5. 1967 (GBl. I, S. 57) so gestaltet, daß die SED die V. völlig in den Griff bekommt (Wahlen). Die Abgeordneten der V. sind deshalb entweder Mitglieder der SED oder, soweit sie Mitglieder der anderen Parteien oder Massenorganisationen sind, deren Parteigänger.
[S. 687]Die V. besteht aus 500 Abgeordneten, die auf die Dauer von 4 Jahren gewählt werden (Art. 54).
Als Grundkompetenz der V. wird in Art. 48, Abs. 1, Satz 2 festgelegt, daß sie in ihren Plenarsitzungen über die Grundfragen der Staatspolitik entscheidet. Art. 48, Abs. 2 bestimmt, daß sie das einzige verfassungs- und gesetzgebende Organ ist. Das Prinzip der Gewaltenkonzentration spiegelt sich in Art. 48, Abs. 2, Satz 3 wider, der den Leninschen Grundsatz der Einheit von Beschlußfassung und Durchführung enthält, den die V. in ihrer Tätigkeit zu verwirklichen hat.
Im einzelnen sind die Kompetenzen der V. in den Art. 49 bis 53 festgelegt. Sie hat
a) durch Gesetze und Beschlüsse endgültig und für jedermann verbindlich die Ziele der Entwicklung zu bestimmen;
b) die Hauptregeln für das Zusammenwirken der Bürger, Gemeinschaften und Staatsorgane sowie deren Aufgaben bei der Durchführung der staatlichen Pläne der gesellschaftlichen Entwicklung festzulegen;
c) die Verwirklichung ihrer Gesetze und Beschlüsse zu gewährleisten;
d) die Grundsätze der Tätigkeit des Staatsrates, des Ministerrates, des Nationalen Verteidigungsrates, des Obersten Gerichts und des Generalstaatsanwalts zu bestimmen;
e) den Vorsitzenden und die Mitglieder des Staatsrates, den Vorsitzenden und die Mitglieder des Ministerrates, den Vorsitzenden des Nationalen Verteidigungsrates, den Präsidenten und die Richter des Obersten Gerichts und den Generalstaatsanwalt zu wählen und abzuberufen;
f) den Abschluß von Staatsverträgen, soweit durch sie Gesetze der V. geändert werden, zu bestätigen und über die Kündigung solcher Verträge zu entscheiden;
g) den Verteidigungszustand (Notstandsgesetzgebung) zu beschließen (jedoch kann der Staatsrat im Dringlichkeitsfall den Verteidigungszustand beschließen);
h) die Durchführung von Volksabstimmungen zu beschließen.
Die starke Stellung der V. an der Spitze der Staatsorgane wird jedoch durch die umfangreichen Kompetenzen des Staatsrates beeinträchtigt. Art. 48, Abs. 2, Satz 2, demzufolge niemand ihre Rechte einschränken darf, kann mit der Stellung des Staatsrates nur dadurch in Einklang gebracht werden, daß dieser als Organ der V. konstruiert ist, das an ihrer Stelle handeln kann (Art. 66).
Für die Dauer der Wahlperiode wählt die V. ein Präsidium, das aus dem Präsidenten, einem Stellvertreter des Präsidenten und weiteren Mitgliedern besteht. Dem Präsidium obliegt die Tagesleitung der Plenarsitzungen (Art. 55).
Aus ihrer Mitte bildet die V. Ausschüsse, denen die Beratung von Gesetzentwürfen (Gesetzgebung) und die ständige Kontrolle der Durchführung der Gesetze obliegen (Art. 61). Es bestehen 16 Ausschüsse. Als Aufgaben der Abgeordneten werden in Art. 56 bezeichnet: a) ihre verantwortungsvollen Aufgaben im Interesse und zum Wohl des gesamten Volkes zu erfüllen; b) die Mitwirkung der Bürger an der Vorbereitung und Verwirklichung der Gesetze in Zusammenarbeit mit den Ausschüssen der Nationalen Front, den gesellschaftlichen Organisationen und den staatlichen Organen zu fördern; c) enge Verbindung zu ihren Wählern zu halten, wobei sie verpflichtet werden, deren Vorschläge, Hinweise und Kritiken zu beachten und für eine gewissenhafte Behandlung Sorge zu tragen; d) den Bürgern die Politik des sozialistischen Staates zu erläutern.
Die Abgeordneten sind nach Art. 57 verpflichtet, regelmäßig Sprechstunden und Aussprachen durchzuführen sowie den Wählern über ihre Tätigkeit Rechenschaft abzulegen (Rechenschaftslegung). Ein Abgeordneter, der seine Pflichten gröblich verletzt, kann abberufen werden. An den Tagungen der örtlichen Volksvertretungen können die Abgeordneten mit beratender Stimme teilnehmen (Art. 58). Sie haben das Recht, Anfragen an den Ministerrat und jedes seiner Mitglieder zu richten (Art. 59). Alle staatlichen Organe sind verpflichtet, die Abgeordneten bei der Wahrnehmung ihrer Aufgaben zu unterstützen (Art. 60, Abs. 1).
Die Abgeordneten genießen Immunität haben das Recht der Aussageverweigerung über Personen, die ihnen in ihrer Eigenschaft als Abgeordnete Tatsachen anvertrauen oder denen sie in Ausübung ihrer Abgeordnetentätigkeit solche Tatsachen anvertraut haben, sowie über diese Tatsachen selbst, und ihnen dürfen aus ihrer Abgeordnetentätigkeit keinerlei berufliche oder persönliche Nachteile entstehen. Sie sind von ihrer beruflichen Tätigkeit freigestellt, soweit die Wahrnehmung ihrer Aufgaben als Abgeordnete es erfordert. Gehälter und Löhne sind weiter zu zahlen. Über das Recht der Abgeordneten, sich zu Fraktionen zusammenzuschließen, enthält die Verfassung keine Bestimmung. Indessen bestehen in der V. Fraktionen.
Die letzten Wahlen fanden am 2. 7. 1967 statt. 434 Abgeordnete wurden in den 13 Bezirken der „DDR“ unmittelbar gewählt, 66 Vertreter von der Stadtverordnetenversammlung des Ostsektors von Berlin. Letztere gehören der V. nur mit beratender Stimme an.
Die Fraktionen der V. haben folgende Stärke: SED 110 und 17 Berliner Vertreter = 127, FDGB 60 und 8 Berliner Vertreter = 68, FDJ 35 und 5 Berliner Vertreter = 40, DFD 30 und 5 Berliner Vertreter = 35, Deutscher Kulturbund 19 und 3 Berliner Vertreter = 22, DBP 45 und 7 Berliner Vertreter = 52, NDPD 45 und 7 Berliner Vertreter = 52, CDU 45 und 7 Berliner Vertreter = 52, LDPD 45 und 7 Berliner Vertreter = 52. Da mit geringen Ausnahmen die Vertreter der Massenorganisationen Mitglieder der SED sind, hat diese Partei in der V. außer ihrer Fraktion eine in der Geschäftsordnung der V. nicht vorgesehene Parteigruppe in einer Stärke von weit über die Hälfte der gesetzlichen Zahl der Mitglieder der V. 347 Abgeordnete sind Männer, 153 Frauen. Nach der sozialen Herkunft soll sich die V. aus 287 Arbeitern, 44 werktätigen Bauern, 52 Handwerkern und Gewerbetreibenden, 71 Angestellten, 34 Angehörigen der Intelligenz und 12 „übrigen“ zusammensetzen („Statistisches Jahrbuch der DDR 1968“, S. 575). Über die zur Zeit ausgeübten Berufe der Abgeordneten sagt die Statistik nichts aus. Auch Partei-, Staats-, Wirtschafts- und Gewerkschafts-Funktionäre erscheinen in ihr als Arbeiter.
Präsident der V. war von 1949 bis zu seinem Tode Johannes ➝Dieckmann.
Literaturangaben
- Die Wahlen in der Sowjetzone, Dokumente und Materialien. 6., erw. Aufl. (BMG) 1964. 216 S.
Fundstelle: A bis Z. Elfte, überarbeitete und erweiterte Auflage, Bonn 1969: S. 686–687
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